Es ist nun zwölf Jahre her, daß ich die sterblichen Überreste meines Großonkels, Hauptmann John Carter aus Virginia, in jenem eigenartigen Mausoleum auf dem alten Friedhof in Richmond beisetzte und den Augen der Menschheit für immer entzog.
Oft hatte ich über die merkwürdigen Instruktionen gegrübelt, nach denen ich das monumentale Grabmal hatte errichten müssen, besonders über jene Passage, in der er anwies, den Sarg offen zu lassen, sowie über die riesige Tür, deren Riegel mit einem komplizierten Mechanismus versehen war, so daß sie nur von innen zu öffnen war.
Es ist nun zwölf Jahre her, daß ich das bemerkenswerte Manuskript dieses bemerkenswerten Mannes gelesen habe, eines Mannes, der sich nicht an seine Kindheit erinnern konnte und dem es Mühe bereitete, auch nur annähernde Angaben über sein Alter zu machen. Er war noch immer jung und hatte dennoch den Urgroßvater meines Großvaters auf seinen Knien geschaukelt. Zehn Jahre hatte dieser Mann auf dem Planeten Mars verbracht, kämpfte sowohl für die grünen Menschen von Barsoom als auch gegen sie, war Freund und Feind der roten Menschen, gewann die ewig schöne Dejah Thoris, die Prinzessin von Helium, zur Frau und lebte ungefähr zehn Jahre lang als Prinz im Haus von Tardos Mors.
Zwölf Jahre waren vergangen, seit man Johns Leichnam vor seinem Haus am Steilufer des Hudson aufgefunden hatte. Während dieser langen Jahre habe ich mich oft gefragt, ob John Carter wirklich tot war oder ob er erneut auf den toten Meeren des sterbenden Planeten Mars umherzog. War er nach Barsoom zurückgekehrt, um herauszufinden, ob er die verfluchten Türen der riesigen Atmosphärenfabrik rechtzeitig geöffnet und Millionen von Menschen vor dem Erstickungstod gerettet hatte, an jenem längst vergangenen Tag, an dem er so unbarmherzig achtundvierzig Millionen Meilen durchs Weltall zurück zur Erde geschleudert worden war? Ich fragte mich, ob er seine schwarzhaarige Prinzessin gefunden hatte, und ob der feingliedrige Sohn aus seinen Träumen mit ihr in den Palastgärten von Tardos Mors auf den Vater wartete.
Oder hatte er feststellen müssen, daß er zu spät kam, und war dem Tod in einer untergehenden Welt entgegengetreten? Oder war er etwa wirklich von uns gegangen, um weder zu seiner Mutter Erde noch zu seinem geliebten Mars zurückzukehren?
Darüber konnte ich nur sinnlose Vermutungen anstellen, bis mir an einem schwülen Abend im August der alte Ben, mein Bediensteter, ein Telegramm aushändigte. Ich riß es auf und las:
‘Komm morgen zum Hotel Raleigh in Richmond.’
Früh am nächsten Morgen nahm ich den ersten Zug nach Richmond, wo man mich zwei Stunden später in John Carters Zimmer geleitete.
Als ich eintrat, erhob er sich, um mich zu begrüßen, auf dem schönen Gesicht das wohlbekannte, herzliche Willkommenslächeln. Äußerlich war er nicht um eine Minute gealtert, sondern noch immer der hochgewachsene, feingliedrige Kriegsmann im Alter von etwa dreißig Jahren. Die scharfen, grauen Augen waren ungetrübt, und die einzigen Linien auf seinem Gesicht, jene, die von einem stählernen Charakter und Entschlossenheit zeugten, hatten sich meiner Erinnerung nach schon vor ungefähr fünfunddreißig Jahren bei unserer ersten Begegnung dort befunden.
»Tja, Neffe«, begrüßte er mich. »Glaubst du dich einem Geist gegenüber, oder fühlst du dich eher so, als habest du einen von Onkel Bens Cocktails zuviel zu dir genommen?«
»Eher letzteres«, vermute ich. »Zwar geht es mir großartig, doch nimmt mich nur das Wiedersehen sehr mit«, entgegnete ich. »Warst du wieder auf dem Mars? Erzähle! Und Dejah Thoris? Du hast sie wohlbehalten angetroffen, als sie auf dich wartete?«
»Ja, ich war wieder auf Barsoom – aber das ist eine lange Geschichte, zu lang, um sie in der kurzen Zeit zu erzählen, die bis zu meiner Abreise noch bleibt. Ich habe das Geheimnis gelüftet, Neffe. Nach Belieben kann ich durch das weglose Nichts reisen, zwischen den zahlreichen Planeten hin und her, wie ich will. Doch mein Herz gehört Barsoom, und solange es dort in den Händen meiner Marsprinzessin liegt, zweifle ich, daß ich die untergehende Welt, der ich mich verschrieb, je wieder verlassen werde. Ich bin gekommen, da ich dich aufrichtig liebe und ich dich noch einmal sehen wollte, bevor du in jene Welt eingehst, die ich niemals kennen werde und die ich, der ich dreimal starb und heute abend ein weiteres Mal sterben werde, ebensowenig begreifen werde wie du. Sogar die weisen und geheimnisvollen Therns in Barsoom, die Anhänger des uralten Kults, die seit Jahrhunderten das Geheimnis von Leben und Tod in den uneinnehmbaren Festungen auf den uns zugewandten Abhängen des Gebirges Otz hüten sollen, wissen davon ebenso wenig wie wir. Ich habe es nachgeprüft, obwohl ich dabei fast mein Leben gegeben hätte. Doch das sollst du alles in den Niederschriften der vergangenen drei Monate lesen, welche ich auf der Erde verbrachte.«
Er tätschelte das dicke Aktenbündel, das neben seinem Ellenbogen auf dem Tisch lag. »Ich weiß, es interessiert dich, du glaubst mir, und auch die Menschen müssen es wissen, obschon sie diesen Zeilen viele Jahre, ja sogar viele Jahrhunderte lang keinen Glauben schenken werden, da sie das Geschriebene nicht nachvollziehen können. Die Menschen auf der Erde sind einfach noch nicht so weit, die Dinge zu verstehen, die ich hier aufgezeichnet habe. Gib ihnen, was du für geeignet erachtest, was ihnen deiner Ansicht nach nicht schadet, doch sei nicht verletzt, wenn sie dich auslachen.«
An diesem Abend begab ich mich mit ihm zum Friedhof. Am Zugang zur Grabkammer wandte er sich um, gab mir die Hand und sagte: »Leb wohl, Neffe. Vielleicht sehen wir uns niemals wieder, denn ich bezweifle, daß ich es ein weiteres Mal über mich bringe, meine Frau und den Jungen allein zu lassen, solange sie leben, und die Lebensspanne auf Barsoom beträgt weit über tausend Jahre.«
Er betrat die Grabkammer. Die große Tür fiel langsam zu, die schweren Riegel schoben sich knirschend an Ort und Stelle, und das Schloß klickte. Ich habe Hauptmann John Carter aus Virginia nie wiedergesehen.
Doch vor mir liegt die Geschichte von seiner zweiten Rückkehr auf den Mars, wie ich sie aus den unzähligen Niederschriften zusammentrug, die er auf dem Tisch seines Hotelzimmers in Richmond zurückgelassen hatte.
Vieles hiervon wage ich nicht zu veröffentlichen. Doch wird der Leser die Geschichte des Soldaten aus Virginia und seiner neuerlichen Suche nach Dejah Thoris, der Prinzessin von Helium, wohl noch beeindruckender finden als das erste, der Welt bereits vorliegende Manuskript, in welchem wir mit ihm die toten Meere durchsegelten, im Schein der Monde des Mars.