9

Mannoroth kniete mit gebeugtem Rücken und gefalteten Flügeln vor dem schwarzen Portal. Der Dämon versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, denn er sprach mit Sargeras, der in keiner guten Stimmung zu sein schien.

Der Weg steht mir noch nicht offen… Ich hatte mehr erwartet

„Wir bemühen uns“, antwortete Mannoroth, „aber die Aufgabe ist schwer. Es scheint, als sträube sich die Welt selbst gegen Euer Kommen, Großmächtiger.“

Sie wird mir nicht widerstehen

„N-nein, Großmächtiger.“

Eine Weile herrschte Stille, dann sagte die Stimme in Mannoroths Kopf: Es gibt eine Störung, etwas Seltsames. Es gibt welche, die nicht sein dürften, aber sind, und solche, die das erwecken wollen, was nicht erweckt werden darf.

Der riesige Dämon wusste nicht, was das bedeuten sollte, dennoch entgegnete er: „Ja, Sargeras.“

Sie sind der Schlüssel Sie müssen gejagt werden.

„Archimonde ist im Feld, und der Hundemeister ist schon lange auf ihrer Spur. Die Übeltäter werden uns nicht entkommen.“

Der Riss in der Welt pulsierte und wand sich, als sei er lebendig. Mannoroth spürte, wie sehr sich der Herr der Legion danach sehnte, diesen reichen Ort hier zu betreten. Die Frustration, die von Sargeras ausging, ängstigte selbst seinen abgestumpften Diener.

Einer soll mir unverletzt gebracht werden. Damit ich in den Genuss komme, ihn langsam zu zerreißen.

Ein Bild tauchte in Mannoroths Geist auf. Es zeigte eine niedere Kreatur, die zum gleichen Volk wie die Hochwohlgeborenen gehörte. Dieses Wesen war jedoch jünger und trug gedeckte grünbraune Kleidung. Die Vision, die Mannoroth hatte, zeigte ihm diesen Nachtelf im Inneren des Palasts. Er hielt sich in dem Raum auf, in dem das ursprüngliche Portal entstanden war und von dem nur noch Ruinen übrig geblieben waren.

Merke ihn dir gut.

„Das habe ich bereits, Großmächtiger. Archimonde, Hakkar und ich suchen nach ihm. Einer von uns wird ihn fangen.“

Lebend, befahl der Herr der Legion aus seiner Dimension. In Mannoroths Kopf wurde die Stimme leiser. Lebend, damit ich mich mit seiner Folter vergnügen kann

Sargeras verschwand, und Mannoroth schüttelte sich. Er wusste genau, welches Schicksal Malfurion blühte, wenn er in die Klauen des Großmächtigen geriet.


Die zahlreichen Flüchtlinge, die sich unter die Soldaten gemischt hatten, machten es beinahe unmöglich, die Streitmacht zu sammeln. Aber Lord Ravencrest tat, was er konnte. Er machte eine Aufstellung sämtlicher Vorräte, vor allem Nahrungsmittel und Wasser, und verteilte sie entsprechend. Einige hochrangige Flüchtlinge beschwerten sich, weil sie nicht mehr bekamen als die anderen, aber ein Blick des bärtigen Kommandanten genügte, um sie zum Schweigen zu bringen.

Tyrande und die Schwestern halfen den Soldaten und Zivilisten, wo sie konnten. Die Priesterin von Elune hatte ihren Helm abgelegt und sich einen Nachtsäbler geborgt, mit dem sie von einer Person zur nächsten ritt. Alle, ob jung oder alt, von hohem oder von niedrigem Stand, hießen sie willkommen. Vielleicht lag es an den Umständen, dass jeder von ihnen zufrieden war, wenn sie mit ihm gesprochen hatte. Tyrande hielt das für keine besondere Gabe, vielmehr glaubte sie, dass ihr sanftes Auftreten im krassen Gegensatz zu all den Gräueln standen, die die Nachtelfen in letzter Zeit gesehen hatten.

Eine kleine Gestalt, die allein am Boden kauerte, zog die Aufmerksamkeit der Priesterin auf sich. Es war ein junges Mädchen, vielleicht zwei, drei Jahre jünger als eine Novizin der Elune. Das Mädchen starrte düster und missmutig ins Nichts.

Tyrande ging neben ihm in die Knie und berührte es an der Schulter. Das Mädchen fuhr erschrocken herum und starrte sie an, als wäre sie eine Bestie.

„Ganz ruhig…“, sagte Tyrande sanft und reichte dem Mädchen einen Wasserschlauch. Nachdem es getrunken hatte, fragte sie: „Ich komme aus dem Tempel. Wie ist dein Name?“

Das Kind zögerte einen Moment, dann sagte es: „Sh-Shandris Feathermoon.“

„Wo ist deine Familie?“

„Ich weiß es nicht.“

„Kommst du aus Suramar?“ Die Priesterin hatte das Kind noch nie gesehen, trotzdem konnten sie aus der gleichen Stadt stammen.

„Nein… Ara-Hinam.“

Tyrande versuchte ihre Sorge zu verbergen. Shandris gehörte zu den Flüchtlingen, die von den Dämonen verfolgt worden waren, bevor die Falle zuschnappte. Die Priesterin hatte von anderen Überlebenden erfahren, dass viele gestorben waren, bevor die Brennende Legion von ihnen abgelassen hatte. Vielleicht lebte die Familie des Kindes noch… vielleicht auch nicht.

„Wann hast du sie zuletzt gesehen?“

Shandris’ Augen wurden groß. „Ich war bei einer Freundin… als die Monster kamen. Ich wollte nach Hause laufen, aber jemand griff nach mir… sagte, ich müsste in die andere Richtung rennen. Das habe ich gemacht.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Tränen rannen zwischen ihren Fingern hervor. „Ich hätte nach Hause gehen sollen. Ich hätte nach Hause gehen sollen.“

Diese tragische Geschichte war nicht das, was Tyrande zu hören erhofft hatte. Die Priesterin würde natürlich Nachforschungen über die Familie des Kindes anstellen, aber sie war schon jetzt fast sicher, dass außer dem kleinen Mädchen kein Familienmitglied überlebt hatte. Es war jetzt wohl ganz allein auf der Welt.

„Hat sich jemand seit der Flucht um dich gekümmert?“

„Nein.“

Die Bewohner der kleinen Siedlung Ara-Hinam waren bereits zwei Tage auf der Flucht gewesen, bevor sie der Streitmacht begegneten. Es war bemerkenswert, dass Shandris so lange allein überlebt hatte. Viele ältere Nachtelfen hatten das nicht geschafft. Das Volk der Priesterin kannte solche Entbehrungen nicht. Nachtelfen waren zwar nicht schwach, hatten jedoch nie außerhalb ihrer behüteten Welt leben müssen – ein Umstand, der sich jetzt als fatal erwies. Tyrande dankte Elune, dass sie, Malfurion und Illidan anders aufgewachsen waren. Allerdings waren sie in der Minderheit.

Es gab viele, die in der gleichen schlimmen Lage wie Shandris waren, aber ihr Schicksal berührte die Priesterin. Vielleicht lag es daran, dass das Mädchens ihr ein wenig ähnlich sah. Jedenfalls bat sie es, aufzustehen.

„Bitte steig auf den Nachtsäbler da hinten. Du kommst mit mir.“ Damit widersetzte sie sich zwar den Anordnungen, die sie erhalten hatte, doch das war ihr egal. Sie konnte natürlich nicht jeden retten, aber sie würde zumindest versuchen, Shandris zu retten.

Das Gesicht des Mädchens war angespannt, aber seine Blicke waren zum ersten Mal aufmerksam, als es auf die Katze kletterte. Tyrande ergriff die Zügel des Nachtsäblers und führte ihn durch die Menge.

„Wohin gehen wir?“, fragte das Mädchen.

„Ich muss noch etwas erledigen. In der linken Satteltasche sind ein paar getrocknete Früchte.“

Shandris öffnete eifrig die Tasche und wühlte darin herum, bis sie die Früchte fand. Tyrande erwähnte nicht, dass es sich um ihre eigene Ration handelte. Die Schwesternschaft bildete ihre Mitglieder so aus, dass sie auch mit geringen Nahrungsmengen lange auskamen. Es gab sogar vier rituelle Fastzeiten in jedem Jahr. So zeigten die Priesterinnen ihre Hingabe zur Mondgöttin. In diesen Kriegszeiten zahlte sich das aus.

Tyrande setzte ihre Gespräche bei den nächsten Flüchtlingen fort. Die meisten waren nur zu Tode erschöpft, aber einige hatten auch Verletzungen davongetragen. Ihnen versuchte sie so gut wie möglich zu helfen. Sie betete zu Mutter Mond, um Rat zu erhalten und Stärke zu finden. Zu ihrer Freude hatte die Göttin an diesem Tag beschlossen, ihr nur Erfolge zu bescheren.

Doch dann stieß sie auf eine infizierte Wunde, die sie schockierte. Es war schwer zu sagen, ob sie durch einen Unfall oder einen Angriff entstanden war. Das Opfer, ein älterer Mann, war bewusstlos und atmete schwer. Tyrande betrachtete den grünlichen Eiter und wunderte sich über die seltsamen Schnittwunden. Die Gefährtin des Opfers hatte ihr Haar mit den Überresten einer Diamantbrosche zusammengebunden. Sein Kopf lag in ihren Schoß gebettet.

„Wie ist das passiert?“, fragte Tyrande, die nicht wusste, ob sie noch etwas gegen die Infektion würde bewirken können. Etwas daran verstörte sie.

„Es ist nicht passiert. Es wurde ihm angetan.“

„Ich verstehe nicht, was du meinst.“

Das Gesicht der älteren Frau verhärtete sich, als sie um ihre Fassung rang. „Dieses Ding… Er sagte, es habe wie ein Wolf oder Hund ausgesehen – aber verändert wie aus einem schrecklichen Alptraum.“

Tyrande erschauderte. Sie wusste, dass die Frau von einer Teufelsbestie sprach. Mehr als einmal war Malfurion ihnen nur knapp entkommen. Sie gierten vor allem nach Magie und entzogen sie ihren Opfern. Zurück blieb nur eine ausgetrocknete Hülle.

„Und er hat den ganzen Weg von Ara-Hinam so zurückgelegt?“ Die Priesterin fragte sich, wie jemand eine solch schreckliche Wunde so lange überleben konnte.

„Nein, wir entkamen unverletzt.“ Ihre Worte waren voller Bitterkeit. „Das hat man ihm vor zwei Tagen angetan, als wir abseits der Streitmacht nach Nahrung suchten.“

Zwei Tage? Da war der Flüchtlingsstrom noch auf dem Weg zum Mount Hyjal gewesen. Aber keiner der Dämonen hatte sich so weit vorne befunden, dessen war Tyrande überzeugt.

„Bist du sicher, dass es nur zwei Tage her ist? Und dass es hier in der Nähe geschah?“

„In dem Wald, der nun südlich von uns liegt. Ich schwöre es.“

Die Priesterin biss sich auf die Lippe. Die Wälder lagen hinter den Linien der Nachtelfen. Sie beugte sich über den Verletzten und sagte: „Ich will sehen, was ich tun kann.“

Sie zwang sich dazu, die Wunde zu berühren, um wenigstens zu verhindern, dass die Infektion sich ausbreitete. Hinter ihr atmete Shandris scharf ein. Das Mädchen machte sich berechtigte Sorgen um sie. Man wusste nie, was wirklich hinter einer Wunde steckte, die von einem Dämon verursacht worden war. Die Brennende Legion war auch in der Lage, Seuchen zu verbreiten.

Der Mond war nicht am Himmel zu sehen, doch das störte Tyrande nicht. Die Priesterinnen waren zwar stärker, wenn der Mond sichtbar schien, doch für sie war er niemals weit entfernt. Ihre Verbindung zu Elune war so stark, dass Zeitpunkt oder Zyklus keine Rolle spielten.

„Mutter Mond, erhöre mein Flehen“, flüsterte sie. „Erweise deiner Dienerin das Geschenk deiner kühlenden und heilenden Kräfte. Führe meine Hände zur Wurzel dieser Wunde und lass mich die Last aufnehmen, auf dass dieser Unschuldige gerettet werden kann.“

Tyrande begann leise zu summen. So konnte sie sich besser auf ihre Aufgabe konzentrieren. Die Wunden Broxigars, die sie geheilt hatte, waren eine Kleinigkeit gegen das, was sie jetzt zu heilen versuchte. Mit ganzer Macht kämpfte sie darum, die Kontrolle zu behalten. Trotzdem fühlte sie sich, als würde sie fallen.

Ohne jede Vorankündigung tauchte ein silbernes Licht an ihren Fingerspitzen auf. Die Gefährtin des Verletzten starrte mit geweiteten Augen darauf, während Shandris erneut einatmete. Tyrandes Hoffnungen stiegen. Elune ging auch dieses Mal auf ihre Gebete ein. Die Göttin war an diesem Tag wahrhaft mit ihr.

Die Heilerin führte ihre Finger über die Wunde und achtete vor allem auf die Bereiche, wo die Infektion am schlimmsten war. Tyrande verzog das Gesicht, als sie die vereiterten Stellen berührte. Wie bösartig mussten die Dämonen sein, wenn ein einzelner Biss oder Kratzer schon solch schreckliche Konsequenzen hatte?

Dort, wo Tyrandes Finger die Wunde berührte, ging die Infektion zurück. Die Pusteln trockneten aus und verschwanden. Der blutige Riss wurde schmaler, als würde er sich selbst langsam heilen.

Ermutigt durch diesen Erfolg betete Tyrande weiter zu Elune. Die Infektion schrumpfte, bis nur noch eine kleine ovale Stelle geblieben war. Daraus wurde eine frische Narbe, die weiter verheilte und beinahe verschwand.

Der Nachtelf stöhnte plötzlich, als erwache er aus einem tiefen Schlaf, aber Tyrande hörte noch nicht auf. Sie war sich nicht sicher, ob das Verschwinden der äußeren Symptome bedeutete, dass die Wunde auch im Inneren geheilt war. Die Infektion musste auch Gifte im Blut des Opfers hinterlassen haben.

Einige angespannte Sekunden später beruhigte sich der Herzschlag des Nachtelfen. Seine Augen öffneten sich, und die Priesterin wusste, dass sie den Fluch des Dämons besiegt hatte. Sie lehnte sich zufrieden zurück und dankte Elune. Die Göttin hatte ihr ein Wunder gewährt.

Die ältere Nachtelfe beugte sich vor und ergriff Tyrandes Hand. „Ich danke dir, Schwester. Danke!“

„Ich bin nur ein Werkzeug von Mutter Mond. Ihr schuldet ihr Dank, nicht mir.“

Trotz dieser Worte bedankten sich der geheilte Nachtelf – sein Name war Karius – und seine Gefährtin überschwänglich für die heldenhafte Leistung der Priesterin. Tyrande wusste kaum, wie sie sich dem Dank entziehen sollte.

„Ihr könnt mir einen Gefallen erweisen, indem ihr mir genauer schildert, was geschehen ist“, sagte sie schließlich.

Karius nickte und begann alles zu erzählen, woran er sich noch erinnerte. Er und seine Gefährtin hatten während der Flucht begriffen, dass sie Nahrung benötigten. Doch in dem Chaos, das zu diesem Zeitpunkt herrschte, hatten sie niemanden gefunden, der genügend Vorräte dabei hatte, um mit ihnen teilen zu können. Die meisten hatten nur das dabei, was sie hektisch hatten zusammenraffen können.

Karius hatte einen Wald entdeckt, in dem er sich frisches Wasser und Beeren erhoffte. Er ließ seine Gefährtin zurück und versprach ihr, dass er bald wieder da sein würde. Es war eine Verzweiflungstat, denn er ahnte, dass die anderen Nachtelfen den Wald schon längst geplündert hatten.

Karius ging tiefer in den Wald, als er es ursprünglich vorgehabt hatte. Er begann sich Sorgen darüber zu machen, wie er seine Gefährtin wiederfinden sollte, obwohl sie ihm versprochen hatte, auch auszuharren, wenn seine Suche länger dauern sollte. Schließlich entdeckte Karius einen Busch voller reifer roter Beeren. Rasch füllte er seine Gürteltasche damit und aß zwischendurch ein paar, um sich zu stärken.

Er hatte gerade die Tasche geschlossen, als er im Wald etwas Großes hörte. Zuerst dachte er an einen Tauren oder einen Bären. Hastig machte er sich auf den Rückweg. Immer wieder blickte er über die Schulter, um nicht überrascht zu werden.

Und deshalb blickte er in die falsche Richtung, als die Bestie ihn frontal angriff.

Kanus hatte einst in der Festung Black Rook gedient, deshalb reagierte er trotz der Strapazen seiner langen Reise sehr schnell. Er warf sich zur Seite, als das Monster – eine Art Dämonenhund, aus dessen Rücken Tentakel wuchsen – über ihn herfiel. Die Bestie traf nicht wie geplant seine Kehle, sondern krallte sich in sein Bein.

Irgendwie gelang es Karius, nicht zu schreien, obwohl jede Faser seines Körpers danach verlangte. Stattdessen tastete der Nachtelf nach etwas, womit er sich verteidigen konnte. Seine Hand fand einen schweren, spitzen Stein. Er riss ihn aus dem Boden und schlug ihn mit aller Macht gegen die Nase des Ungetüms.

Er hörte etwas bersten. Die Kreatur jaulte heiser und ließ sein Bein los. Karius glaubte nicht, dass er ihr noch entkommen würde, doch im gleichen Moment hörte er von weiter entfernt ein scharfes Geräusch.

Der schreckliche Hund reagierte sofort und überraschend. Er winselte einen Moment lang, dann lief er der Quelle des Klangs entgegen. Karius folgte seinem Überlebensinstinkt und kroch in die entgegengesetzte Richtung. Er stoppte noch nicht einmal, um seine blutende Wunde zu verbinden. Der verletzte Nachtelf schleppte sich zurück zu seiner wartenden Gefährtin. Bei jedem Schritt erwartete er die Rückkehr der Kreatur…

Tyrande lauschte der Geschichte mit wachsender Besorgnis. Karius hatte großes Glück gehabt, die Begegnung mit der Teufelsbestie zu überleben. Sie fragte sich jedoch, was diese Kreatur vor den feindlichen Linien gesucht hatte. Eine solche Bestie stellte kein Problem für Malfurion und die Zauberer dar… aber was war, wenn sie nicht allein war?

Dieser Gedanke führte sie zu ihrer nächsten Frage. „Du hast von einem Geräusch gesprochen, das die Bestie weglockte? Was war das für ein Ton?“

Karius dachte einen Moment nach. „Es war ein scharfes, krachendes Geräusch.“

„Wie Donner?“

„Nein, es erinnerte mich an den Knall einer Peitsche.“

Die Priesterin erhob sich. „Ich danke dir für deine Geduld. Bitte entschuldigt mich. Ich muss weiter.“

„Nein“, entgegnete die Nachtelfe, „wir sind es, die dir zu danken haben. Ich dachte bereits, er sei verloren.“

Tyrande hatte keine Zeit, sich mit ihnen zu streiten, wem sie Dank schuldeten. Sie gab beiden den Segen des Tempels, dann kehrte sie zu dem Nachtsäbler zurück, auf dem Shandris sie aus geweiteten Augen ansah.

„Du hast ihn vollständig geheilt. Ich – ich dachte, er würde sterben, bevor du anfingst.“

„Das dachte ich auch“, antwortete Tyrande und stieg hinter ihr auf das Reittier. „Mutter Mond war sehr großzügig zu mir.“

„Ich habe noch nie gesehen, dass eine Priesterin eine so schreckliche Wunde heilte… und das Monster, das sie gerissen hat – “

„Leise, Shandris, ich muss nachdenken.“ Die Priesterin lenkte den Nachtsäbler in die Richtung, wo sie die Zauberer zuletzt gesehen hatte. Durch ihre Position erfuhr sie häufig Dinge, die selbst Lord Ravencrests Strategen verborgen blieben. Auch jetzt hatte sie wieder etwas gehört, das Malfurion und Krasus erfahren mussten.

Die Meuchelmörder der Legion waren näher als gehofft.


Die schwarzen Drachen kehrten im Schutz der Nacht in ihr gewaltiges Nest zurück. Neltharion hatte auf eine rasche Rückkehr bestanden, denn es gab viel zu tun. Sein Plan war fast vollendet. Er konnte den baldigen Triumph förmlich spüren.

Ein kleinerer Drache, der auf einer Bergspitze saß, neigte respektvoll den Kopf, aber der Erdwächter ignorierte ihn. Seine Gedanken beschäftigten sich mit anderen Dingen. Er landete vor der Haupthöhle seines Clans und wandte sich an seine Gefährtinnen, die hinter ihm aufsetzten. Tief aus dem Inneren der Höhle hörte man das Brüllen anderer Drachen.

„Ich gehe nach unten und will nicht gestört werden.“

Die Gefährtinnen nickten. Einen solchen Befehl hatten sie schon oft erhalten. Sie fragten nicht, was der Aspekt dort unten beabsichtigte. Der gesamte schwarze Clan existierte einzig, um zu gehorchen. Jedes Wesen, das in dem Berg lebte, teilte den Wahnsinn, der Neltharion aber am stärksten ergriffen hatte.

Der große Schwarze ging durch Gänge, die fast zu schmal für ihn waren. Als er tiefer in den Berg vordrang, verebbte der Lärm der anderen Drachen. An seine Stelle trat ein neues, seltsames Geräusch. Es klang, als würde ein Schmied mit einem Hammer Metall bearbeiten. Das Hämmern endete jedoch nicht irgendwann, sondern wurde im Gegenteil immer schneller. Neltharion grinste bösartig und zufrieden. Ja, alles verlief nach Plan.

Doch der Drache näherte sich nicht der Quelle des Klopfgeräuschs. Stattdessen trat er in einen Seitengang und ging noch tiefer in den Berg hinein. Nach einiger Zeit war das Hämmern nicht mehr zu hören. Nur Neltharions schwerer Atem hallte noch durch die Gänge. Niemand außer ihm durfte diese Bereiche betreten.

Schließlich erreichte der Erdwächter die gewaltige Kammer, in der er seinen Zauber über die Eredar geworfen hatte. Als er eintrat, hob er überrascht den Kopf, denn er spürte, dass er nicht allein war.

Die Stimmen in seinem Kopf hatten während seiner Begegnung mit den anderen Drachen nur gemurmelt, jetzt wurden sie lauter, erregter.

Bald

Bald

Die Welt wird zurecht gerückt

Alle, die dich betrogen haben, werden auf ihren Platz verwiesen

Die Ordnung wird wieder hergestellt

Du wirst deine rechtmäßige Herrschaft antreten

Immer und immer wieder lauschte der Erdwächter den Stimmen. Seine Brust schwoll vor Stolz, und seine Augen leuchteten erwartungsvoll. Schon bald würde die Welt so sein, wie er sie sich wünschte.

„Sie haben alle etwas von sich gegeben“, sagte er in den leeren Raum hinein. „Sogar der abwesende Nozdormu.“

Die Stimmen antworteten nicht, aber der Drache schien zu wissen, dass sie zufrieden waren. Er nickte, schloss die Augen und konzentrierte sich.

Auf seinen Befehl erschien die Drachenseele.

„Seht ihre Schönheit“, donnerte er, als sie vor seinen Augen schwebte. „Seht ihre Vollkommenheit und ihre Macht!“

Die goldene Aura, die seine Schöpfung umgab, leuchtete so hell wie nie zuvor. Neltharion griff mit seinem Willen nach ihr, und die Drachenseele begann leicht zu vibrieren. Die Stalaktiten und Stalagmiten in der Kammer erzitterten, als seien sie lebendig geworden.

Die Vibrationen der Scheibe wurden mit jedem Atemzug des Erdwächters stärker. Jetzt erbebte bereits die ganze Kammer. Felsstücke brachen aus der Decke. Einige große Stalaktiten knirschten.

„Ja…“, zischte der Drache erwartungsvoll. Neltharions Augen brannten voller Sehnsucht. „Ja…“

Der gewaltige Berg erzitterte wie ein ausbrechender Vulkan. Die Decke begann auseinander zu brechen. Felsstücke regneten herab und zerplatzten mit lautem Knall auf dem Steinboden. Einige prallten von der Haut des Drachen ab, doch das bemerkte er nicht.

Dann stiegen rauchartige Schemen aus der Scheibe auf. Es waren Schatten, die aus Licht zu bestehen schienen und ruhelos durch die Kammer wehten. Die meisten hatten Flügel. Ihre Umrisse erinnerten an Neltharion. Einige waren schwarz, einige bräunlich, andere blau oder rot. Sie schwärmten um die Scheibe herum. Es wurden immer mehr.

Es gab auch andere Schemen, kleiner und grotesker. Sie leuchteten in einem kränklichen Grün, und viele trugen Hörner und hatten tiefe Löcher anstelle von Augen. Nur wenige sahen so aus, aber sie hatten eine solch bösartige Ausstrahlung, dass sie sofort zwischen den anderen Geistern auffielen.

Sie stellten die Essenz all deren dar, die sich freiwillig oder unfreiwillig an der Schöpfung der Drachenseele beteiligt hatten. Sie waren an die Scheibe gebunden. Gemeinsam bildeten sie eine Macht, die selbst ein Aspekt wie Neltharion nicht brechen konnte. Ihre Anwesenheit allein reichte aus, um den Berg wie bei einem Erdbeben zu erschüttern.

Einer der gewaltigen Stalaktiten löste sich plötzlich. Der Erdwächter bemerkte die Gefahr erst, als es bereits zu spät war.

Ein Stalaktit von dieser Größe konnte sogar den schwarzen Drachen verletzen. Er traf Neltharion an der linken Seite des Kiefers und riss das harte Fleisch auf. Eine Drachenschuppe zerbrach. Ein Splitter davon traf die Drachenseele in der Mitte.

Neltharion schrie entsetzt auf, nicht wegen seiner Verletzung, sondern aus Sorge um seine Schöpfung.

Die Schuppe riss die Scheibe auf und beschädigte ihre Vollkommenheit. Die Schemen über und unter ihr gerieten außer Kontrolle.

Der Drache handelte sofort und unterbrach seinen Zauber. Die geisterhaften Schemen sanken zurück in die Scheibe, allerdings langsamer und zögerlicher, als es ihm gefiel. Als sie verschwunden waren, endeten die Erdstöße. Nur der langsam niedersinkende Staub blieb als Zeuge des Ereignisses zurück.

Neltharion griff nach der Drachenseele und betrachtete sie eindringlich. Der Riss war nicht so tief wie befürchtet. Trotzdem zitterte der Aspekt vor Wut und Trauer. Er hätte niemals geglaubt, dass ausgerechnet er zu einer Gefahr für die Scheibe werden würde.

„Du wirst geheilt werden“, flüsterte er und wiegte die Scheibe in seiner Tatze wie eine Mutter das Kind. „Du wirst wieder vollkommen sein…“

Er umklammerte die Scheibe und verließ hastig die Kammer. Dabei strahlte er eine Trübsinnigkeit aus, die selbst seine Gefährtinnen erschüttert hätte. Der Atem des Erdwächters ging schwer. Er befürchtete, dass all seine Mühen umsonst gewesen waren.

Der Drache kehrte jedoch nicht in die Höhlen des Clans zurück, sondern bog in einige andere Tunnel ein. Das Hämmern wurde lauter. Neltharion schob seinen massigen Körper durch enge Korridore, bis das ständige Hämmern als das Geräusch schwerer Arbeit erkennbar wurde. Seltsam helle Stimmen unterhielten sich zwitschernd, aber ihre Worte blieben durch den Lärm unverständlich.

Neltharion betrat die neue Kammer. Der Feuerschein zwang ihn, seine Augen abzuwenden, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatten. Als es so weit war, sah er Dutzende kleiner, gelenkiger Goblins, die unermüdlich Metall formten. Überall standen riesige Öfen, die mit der Lava, die hier aus dem Berg aufstieg, beheizt wurden. Ein halbes Dutzend grünhäutige Goblins mühten sich mit der Fassung eines Rundschildes ab, der für einen Riesen gemacht zu sein schien. Das Metall darin leuchtete gelblich. Die Goblins drehten die Fassung rasch um und ließen den Inhalt in ein Wasserbad gleiten. Dampf stieg laut zischend auf und verbrühte beinahe einen der langsameren Arbeiter.

Andere Goblins hämmerten auf Metallstücke ein. Einige, die Kittel trugen, gingen zwischen ihnen umher und achteten darauf, dass jeder seine Aufgabe sorgfältig verrichtete.

Neltharion sah sich in der Kammer um, fand jedoch nicht die Person, nach der er suchte. „Meklo! Meklo!“, brüllte er. „Zu mir!“

Der Ruf des Leviathans übertönte alle anderen Geräusche. Überrascht unterbrachen die Goblins ihre Arbeit. Zwei hätten vor Schreck beinahe Lava auf einen dritten geschüttet.

„An die Arbeit!“, schimpfte eine hohe Stimme. „Wollt ihr denn alles ruinieren?“

Die Arbeiter gehorchten sofort. Ein älterer dürrer Goblin, auf dessen kahlem Schädel nur ein Flecken grauen Fells wuchs, kletterte von einem Gerüst herab und ging auf den ungeduldigen Drachen zu. Den ganzen Weg über sprach der Goblin-Häuptling leise mit sich selbst, aber in seinen Worten lag kein Ärger gegenüber seinem Herrn. Er schien nur Berechnungen anzustellen.

„Dichte von acht Zoll bei einer Oberfläche von hundertzwanzig Quadratfuß, also noch rund zweiundvierzig Pfund für die Mischung und – “

Sein Fuß stieß gegen einen Zeh der Drachentatze. Der Goblin sah auf und schien überrascht zu sein, den Drachen hier zu sehen. „Mylord Neltharion?“

„Meklo, sieh dir das an!“

Der Erdwächter streckte seine Tatze aus, sodass der Goblin die Scheibe betrachten konnte. Meklo kniff die Augen zusammen und neigte den Kopf.

„Was für eine kunstvolle Arbeit hier beschädigt wurde. Sie war vollkommen!“

„Eine meiner Schuppen ist darauf gefallen, Goblin. Erklär mir, wieso dies etwas eigentlich Unzerstörbarem schaden konnte.“

„Da ist auch Blut, wie ich sehe.“ Meklo sah auf und betrachtete einen Moment lang Neltharions Verletzung. Dann neigte er erneut das Haupt. „So ergibt das natürlich Sinn. Mylord Neltharion, Ihr wart unmittelbar an der Schöpfung dieser Scheibe beteiligt, nicht wahr?“

„Du warst dabei, Goblin. Du weißt, dass es so ist!“

„Ja. Ihr habt die Matrix für ihre Konstruktion erschaffen.“ Der Goblin-Häuptling dachte einen Moment länger nach, dann fragte er: „Haben die anderen ihre Essenz geopfert? Sind sie mit der Matrix der Scheibe verbunden?“

„Natürlich.“

„Aha, aber Ihr seid es nicht. Ihr habt die Matrix der Drachenseele erschaffen, sie aus Eurem Blut und Eurer Macht entstehen lassen… aber Ihr seid der einzige Drache, der nicht unmittelbar mit ihr verbunden ist.“

Der Goblin grinste und zeigte spitze gelbe Zähne. „Daher seid Ihr ihre einzige Schwäche, Mylord. Die Schuppe, Euer Blut… jeder Teil von Euch hat die Fähigkeit, die Drachenseele zu zerstören. Ihr könntet sie problemlos zerquetschen.“

Meklo machte eine entsprechende Geste mit Daumen und Zeigefinger.

Der Blick des Erdwächters ängstigte selbst den Goblin. „So etwas würde ich nie tun.“

„Natürlich nicht, natürlich nicht“, bestätigte Meklo hastig. „Und das heißt, dass nichts die Scheibe zerstören kann, richtig?“

Die Wut, die in dem Drachen aufgestiegen war, verrauchte. Neltharion bleckte seine Zähne, die größer als der Goblin waren. „Ja, nichts vermag das. Meine Drachenseele ist unverwundbar.“

„Solange Ihr nicht der Grund für ihre Zerstörung seid“, wagte der Goblin einzuwerfen.

„Was niemals geschehen wird!“ Neltharion betrachtete den Riss in der Drachenseele. „Aber dies muss bereinigt werden. Die Scheibe muss wieder vollkommen werden.“

„Dazu benötige ich das Gleiche wie letztes Mal.“

Der Drache schnaufte. „Du wirst so viel Blut von mir bekommen, wie du benötigst. Sie muss wieder vollkommen werden!“

„Natürlich, natürlich.“ Meklo blickte zu den anderen Goblins. „Dadurch wird sich die Vollendung Eurer anderen Pläne verzögern. Denn auch dafür brauchen wir Eure Magie und Euer Blut.“

„Alles andere kann warten, nur die Scheibe nicht.“

„Dann werden wir sofort beginnen, Mylord. Erlaubt mir nur einen Moment, um die anderen Arbeiten zu unterbrechen. Dann können meine Assistenten und ich anfangen.“

Als sich der Goblin zurückzog, atmete Neltharion leichter. Seine Schöpfung würde geheilt werden. Wie er würde auch sie vollkommen sein.

Und gemeinsam würden sie über alle anderen herrschen…

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