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Captain Varo’then war niemand, der sich vor Schatten oder Geräuschen erschreckte. Er stellte sich diesen Dingen mit der gleichen ruhigen Ernsthaftigkeit, mit der er allen Aspekten seines Lebens begegnete. Der vernarbte Soldat war mit ganzer Seele Krieger und hatte sich trotz seines angeborenen Listenreichtums nie in einer anderen Rolle gesehen. Er führte seine Streitkräfte in Azsharas Namen an, und das reichte ihm. Die politischen Intrigen hatte er stets Lord Xavius überlassen, der sich darin weit besser als er selbst verstand.

Allerdings kreisten seine Gedanken in der letzten Zeit nicht sehr oft um militärische Dinge. Das lag an der Rückkehr von jemandem, den er für tot gehalten hatte… nämlich Xavius. Jetzt führte der königliche Berater, der von Sargeras selbst aus dem Jenseits geholt worden war, die Hochwohlgeborenen erneut an. Das allein hätte Varo’then keine Sorgen bereitet, aber Xavius hatte sich auf eine Weise verändert, die selbst die Königin nicht durchschaute. Der Captain war überzeugt davon, dass der Berater – oder das Ding, das einmal der Berater gewesen war – nicht den Ruhm Azsharas im Sinn hatte, sondern andere Interessen. Doch Varo’then, der auch dem Herrscher der Legion unterstand, war in erster Linie ein Diener seiner Königin.

„Der stets diensteifrige Captain. Ihr wandert sogar durch die Gänge, wenn Ihr frei habt.“

Der Offizier zuckte zusammen, ärgerte sich einen Moment später jedoch über diese Reaktion.

Xavius schien aus den Schatten herauszufließen, als er dem Nachtelfen entgegentrat. Seine Hufe klapperten auf dem Marmorboden, und er schnaufte bei jeder Bewegung. Archimonde hatte Xavius als Satyr bezeichnet, als einen von Sargeras’ gesegneten Dienern. Die künstlichen Augen, die der Adlige sich selbst eingesetzt hatte, starrten den Captain an und schienen ihn an einen dunklen Ort zerren zu wollen.

„Sargeras sieht sehr viel Potenzial in Euch, Captain Varo’then. Er betrachtet Euch als jemanden, der zu seinen besten Dienern zählen könnte, als jemanden, der den gleichen Rang erlangen könnte wie Mannoroth, nein… wie Archimonde.“

Varo’then stellte sich vor, wie er an der Spitze eines gewaltigen dämonischen Heers mit erhobenem Schwert den Feinden entgegen ritt. Er konnte den Stolz und die Zuneigung Sargeras’ beinahe spüren, als er all die vernichtete, die sich dem Großmächtigen widersetzten.

„Ich fühle mich geehrt“, murmelte der Soldat.

Xavius lächelte. „Das tun wir alle… und wir würden ihm auf alle möglichen Weisen dienen, wenn unser Traum dadurch schneller wahr würde, nicht wahr?“

„Natürlich.“

Der Pferdefußige kam näher. Sein Gesicht berührte beinahe das des Captains. Die Augen zogen Varo’then weiter in ihren Bann, faszinierten und verstörten ihn in gleichem Maße. „Du könntest ihm auf eine Weise dienen, die dir angemessener ist und die dich schneller der Position nahe bringen würde, auf die du hoffst…“

Der Offizier spürte, wie ihn Erregung durchströmte. Erneut stellte er sich vor, wie es sein würde, wenn er die Armeen der Königin und Sargeras’ Dämonen anführte. Von Sieg zu Sieg würde er reiten und das Blut seiner Feinde würde fließen, bis es zu einem reißenden Strom wurde.

Doch als Varo’then sich in dieser Rolle vorstellte, bemerkte er, dass er sich selbst nicht richtig erkennen konnte. Er versuchte, sich als gepanzerten und bewaffneten Krieger zu sehen, so wie es sie in den alten Geschichten gegeben hatte… doch eine andere Gestalt schob sich immer wieder über dieses Bild.

Eine Gestalt, die aussah wie Lord Xavius.

Mit diesem Gedanken befreite er sich aus dem Blick des Beraters. „Vergebt mir, Mylord, aber ich muss meinen Pflichten nachgehen.“

Die künstlichen Augen funkelten für einen Moment, dann nickte Xavius höflich und forderte den Soldaten mit einer Handbewegung auf, weiterzugehen. „Aber natürlich, Captain Varo’then, natürlich.“

Varo’then stapfte schneller von dannen als er es eigentlich gewollt hatte. Er blickte nicht zurück. Seine Hand schloss sich um den Griff seines Schwertes, als wolle er es ziehen. Der Nachtelf wurde erst langsamer, als er sicher war, dass ihm Lord Xavius nicht weiter folgte.

Doch selbst dann konnte er immer noch die verführerischen Worte des Satyrs hören. Zwar war es ihm gelungen, ihnen zu widerstehen, doch andere würden diese Kraft nur schwerlich besitzen.


Als sich die Nacht über Lord Ravencrests Streitmacht senkte, mischten sich die Schwestern der Elune unter die Soldaten, um sie zu segnen. Obwohl ihre Kleidung sehr martialisch wirkte, brachten die Priesterinnern den Nachtelfen Frieden und Trost. Elune schenkte den Nachtelfen Stärke und Selbstvertrauen, denn sie war stets am Himmel und wachte über ihre Lieblingskinder.

Tyrande Whisperwind verriet niemandem, dass sie nicht den Frieden und die Stärke spürte, die sie anderen vermittelte. Die Hohepriesterin schien zu glauben, sie sei besonders reich von Mutter Mond beschenkt worden, aber Tyrande spürte nichts davon. Wenn Mutter Mond sie wirklich zu etwas Besonderem auserwählt hatte, behielt sie das für sich.

Der letzte Rest des Tageslichts floh hinter den Horizont. Tyrande beeilte sich, denn sie wusste, dass die Hörner, die den Abmarsch nach Zin-Azshari signalisierten, bald ertönen würden. Sie berührte das Herz eines weiteren Soldaten und ging dann zurück zu ihrem wartenden Panther.

Doch bevor sie ihn erreichte, trat ein anderer Nachtelf in ihren Weg. Instinktiv streckte Tyrande ihre Hand nach seiner Brust aus, doch er kam ihr zuvor und ergriff ihren Arm.

Die Priesterin sah auf, und im ersten Moment setzte ihr Herz vor Freude einen Schlag aus. Dann bemerkte sie die dunkle Uniform und den Pferdeschwanz. Vor allem aber bemerkte Tyrande die bernsteinfarbenen Augen.

„Illidan?“

„Deinen Segen nehme ich natürlich gern entgegen“, antwortete er grinsend, „aber deine Nähe spendet mir größeren Trost.“

Ihre Wangen erröteten, allerdings nicht aus dem Grund, den er vermutete. Malfurions Zwilling hielt ihren Arm auch weiterhin sanft fest, als er sich zu ihr beugte.

„Das muss Schicksal sein, Tyrande. Ich habe nach dir gesucht. Unsichere Zeiten kommen auf uns zu. Da muss man Entscheidungen treffen, ohne zu zögern.“

Sie ahnte plötzlich, was er sie fragen, nein, was er ihr sagen würde. Instinktiv zog Tyrande ihre Hand zurück.

Illidans Gesicht verhärtete sich. Ihm war ihre Reaktion und die Ursache dafür nicht entgangen.

„Es ist zu früh“, sagte sie, um seine Gefühle zu schonen.

„Oder zu spät?“ Das Grinsen kehrte auf sein Gesicht zurück, aber es wirkte so falsch wie eine Maske. Nach einem Moment entspannte sich Illidans Miene jedoch. „Ich war zu aufdringlich. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Du hast dich um zu viele kümmern müssen. Ich werde noch einmal mit dir sprechen, wenn die Gelegenheit günstiger ist.“

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging zu der berittenen Wache, die hinter ihm wartete und seinen Nachtsäbler am Zügel hielt. Illidan blickte nicht zurück, als er aufstieg und wegritt.

Die Begegnung hatte Tyrandes Sorge nur noch verstärkt. Sie wollte gerade auf ihren Panther steigen, als eine weitere, allerdings willkommenere Gestalt ihre Gedanken unterbrach.

„Schamanin, vergib mir die Störung.“

Lächelnd begrüßte sie den Orc. „Du bist stets willkommen, Broxigar.“

Außer ihr durfte ihn niemand mit seinem vollständigen Namen anreden. Alle anderen, sogar Lord Ravencrest, riefen ihn einfach nur Brox. Der breit gebaute Orc war einen Kopf kleiner als sie, aber dreimal so breit. Fast sein gesamter Körper schien aus Muskeln zu bestehen. Im Kampf warf er sich den Feinden mit der gleichen Wildheit wie die großen Nachtsäbler entgegen, aber in Tyrandes Gegenwart zeigte er mehr Respekt als manch anderer, der um ihren Segen bat.

Sie dachte, der Orc wünsche ihren Segen, also legte sie ihre Hand auf seine Brust. Er sah sie überrascht an, hieß ihre Berührung dann jedoch willkommen.

„Möge Mutter Mond deinen Geist führen, möge sie dir Stärke geben…“ Sie fuhr einige Sekunden lang fort und gab dem Orc ihren vollständigen Segen. Die meisten Priesterinnen und auch die gewöhnlichen Nachtelfen fanden ihn abstoßend, aber für Tyrande war er ebenso ein Kind von Mutter Mond wie sie selbst.

Als sie geendet hatte, neigte Brox dankbar seinen Kopf. Dann murmelte er: „Ich bin diesen Segen nicht wert, Schamanin, denn er ist nicht der Grund, aus dem ich gekommen bin.“

„Nicht?“

Das breite Gesicht verzog sich zu etwas, das Tyrande als Reue deutete. „Schamanin, es gibt etwas, das mein Herz belastet. Etwas, das ich gestehen muss.“

„Sprich weiter.“

„Schamanin, ich habe nach dem Tod gesucht.“

Sie spitzte die Lippen, während sie versuchte, die Bedeutung seiner Worte zu verstehen. „Willst du mir sagen, dass du dich umbringen wolltest?“

Brox richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Sein Gesicht verdunkelte sich. „Ich bin ein Orc-Krieger! Ich habe meinen Dolch nicht gegen die eigene Brust gerichtet!“

Seine Wut verflog so schnell, wie sie gekommen war. Scham trat an ihre Stelle. „Aber ich habe versucht, die Waffen anderer dorthin zu locken.“

Damit war der Damm gebrochen, und die Geschichte floss förmlich aus ihm heraus. Brox erzählte ihr von seinem letzten Krieg gegen die Dämonen, wie er und seine Kameraden die Stellung gehalten und auf Verstärkung gewartet hatten. Tyrande erfuhr, dass ein Orc nach dem anderen getötet worden war, bis nur der Veteran übrig blieb. Der Heldenmut von Brox und den anderen hatte dafür gesorgt, dass die Orcs die Schlacht gewannen, aber trotzdem fühlte er sich schuldig, weil alle außer ihm gefallen waren.

Der Krieg hatte kurz darauf geendet und Brox damit des einzigen Mittels beraubt, mit dem er das, was er als Verfehlung sah, wieder hätte gutmachen können. Als der Kriegshäuptling Thrall ihn bat, die Anomalie zu untersuchen, hatte Brox es als ein Zeichen der Geister gewertet und auf ein Ende seines Leids gehofft.

Doch der Einzige, der bei dieser Mission ums Leben kam, war sein junger Begleiter, was zusätzlich auf Brox lastete. Dann, als deutlich wurde, dass die Brennende Legion in Kalimdor einfallen würde, hatte er ein weiteres Mal seine Chance auf ein Ende gesehen. Er hatte sich in den Kampf geworfen und so hart gekämpft wie nie zuvor. Er hatte sich nur an der Front aufgehalten und jeden Feind herausgefordert. Doch leider hatte er zu gut gekämpft, denn während seine Feinde gleich dutzendweise fielen, trug er kaum einen Kratzer davon.

Als die Streitmacht in Suramar aufbrach, war der ältere Orc schließlich auf die Idee gekommen, dass er eine ganz andere Sünde begangen hatte. Er begriff, dass es falsch gewesen war, sich seines Überlebens zu schämen. Jetzt fühlte er neue Scham, denn alle um ihn herum kämpften ums Überleben, während er bereit war, sein Leben wegzuwerfen. Ihre Gründe für den Kampf gegen die Brennende Legion waren nicht die seinen.

„Es stört mich nicht, in der Schlacht zu sterben. Das ist ein ruhmreiches Schicksal für einen Orc, Schamanin. Aber es entehrt mich, dass ich den Tod herbeisehne und damit diejenigen gefährde, die gegen das Böse kämpfen, um zu überleben.“

Tyrande sah dem Orc in die Augen. Die anderen hielten ihn für ein Monster, doch er hatte erneut bewiesen, dass seine Gedanken komplex und bedeutungsvoll waren. Sie berührte seine raue Wange und lächelte leicht. Wie arrogant war ihr Volk, dass es sich weigerte, am Aussehen vorbei in die Seele und den Geist zu schauen.

„Du musst mir kein Geständnis machen, Broxigar. Du hast es deinem Herzen und deiner Seele längst gestanden. Das bedeutet, dass Elune und die Geister deine Reue gespürt haben. Sie wissen, dass du die Wahrheit erkannt hast und deine früheren Gedanken bedauerst.“

Er grunzte und küsste ihre Handfläche, was sie überraschte. „Ich danke dir trotzdem, Schamanin.“

Im gleichen Moment ertönten die Hörner. Tyrande berührte den Orc kurz an der Stirn und murmelte ein leises Gebet. „Mutter Mond wird über deinen Geist wachen, egal, welches Schicksal die Schlacht für dich bereithält.“

„Ich danke dir für deine Worte, Schamanin. Ich werde dich nicht länger belästigen.“

Brox hob seine Axt zum Zeichen des Respekts, dann trottete er von dannen. Tyrande beobachtete ihn, bis er zwischen den anderen Kämpfern verschwand. Erst als ein lautes Signal der Priesterinnen sie an ihren eigenen Aufbruch erinnerte, wandte sie sich ab. Sie musste ihre Gruppe anführen, wenn sich die Streitmacht in Bewegung setzte. Sie musste sich dem Schicksal stellen, das Elune für sie auserkoren hatte.

Und dazu, das wusste sie, gehörte mehr als die kommende Schlacht.


„Es sind Soldaten aus zwei Siedlungen im Nordwesten zu uns gestoßen“, sagte Rhonin, der neben Krasus ritt. „Es sollen fünfhundert sein.“

„Die Brennende Legion kann solche Zahlen in nur wenigen Stunden mobilisieren.“

Der rothaarige Zauberer sah seinen ehemaligen Lehrmeister verärgert an. „Wenn das alles egal ist, warum bemühen wir uns dann noch? Wieso setzen wir uns nicht einfach ins Gras und warten, bis uns die Dämonen die Kehle durchtrennen?“

Er verzog das Gesicht in gespielter Verblüffung. „Aber Moment mal, das ist ja gar nicht passiert. Die Nachtelfen haben ja gekämpft – und sie haben gesiegt!“

„Schon gut!“, zischte Krasus und sah Rhonin ebenso verärgert an. „Ich spiele die Verstärkung nicht herunter, ich weise nur auf die Fakten hin. Wir sollten außerdem nicht vergessen, was unsere Anwesenheit hier und die Anomalie, die sich durch alle Zeiten zieht, bedeuten. Was einst geschehen ist, muss sich nicht wiederholen. Es ist sehr, sehr wahrscheinlich, dass die Brennende Legion dieses Mal triumphiert… und alles, was wir kennen, verloren sein wird.“

„Das werde ich nicht zulassen! Das kann ich nicht!“

„Die Ewigkeit interessiert es nicht, welches Schicksal du, deine Gefährtin Vereesa und die ungeborenen Zwillinge erleiden werden, Rhonin… aber ich werde für sie ebenso hart kämpfen wie für die Zukunft meines eigenen Clans, ganz gleich, wie monströs sie sich gestalten wird.“

Rhonin schwieg. Er wusste genau so gut wie der Drachenmagier, welches Schicksal der rote Clan schließlich erleiden würde. Auch wenn die Brennende Legion in dieser Zeitebene geschlagen wurde, würde das Leid der Drachen schrecklich sein. Deathwing, der Zerstörer würde dafür sorgen, dass die Orcs die Leviathane unterwarfen und sie als Kriegsbestien einsetzten. Viele Drachen würden sinnlos sterben.

„Dabei schien es wieder Hoffnung für uns zu geben“, sagte Krasus. Sein Blick schweifte in die Ferne. „Und das ist Grund genug, dafür zu sorgen, dass die Geschichte sich nicht verändert.“

„Ich kenne die Geschichte nur aus den Schriften, die die Zauberer von Dalaran aufbewahrt haben, Krasus, aber du warst dabei.“

Die hagere Gestalt zischte erneut. „Die Erinnerungen, die dir aus den Schriften geblieben sind, dürften genauer als die meines eigenen, verwirrten Geistes sein. Ich glaube, das liegt daran, dass Nozdormu in meine Gedanken eingedrungen ist. Das war vielleicht nötig, um die Grundlage unserer Mission zu schaffen, aber ich konnte nicht alles in mich aufnehmen, ohne andere Erinnerungen zu verlieren.“

Nozdormu, der Aspekt der Zeit, hatte sich an Krasus gewandt und ihn vor einer Krise gewarnt. Man konnte den gewaltigen sandfarbenen Drachen auch in dieser Zeitperiode nicht aufsuchen, und Krasus befürchtete, dass er und all seine Inkarnationen in der Anomalie gefangen waren.

„Ich befürchte, dass ich mich nie wieder vollständig an diese Zeitperiode erinnern werde. Mir fehlt so viel, dass ich nicht mehr sicher über den Ausgang der Ereignisse bin.“

„Also werden wir kämpfen und das Beste hoffen.“

„Wie es jeder in allen Schlachten der Geschichte getan hat.“

Der bärtige Mensch nickte grimmig. „Das kommt mir gelegen.“

Die Streitmacht der Nachtelfen marschierte ohne Pause und ohne Verzögerungen weiter. Sie legten viele Meilen zurück. Die meisten Soldaten waren guter Dinge, denn es schien, als sei der Feind nicht gerade versessen darauf, die Klingen mit ihnen zu kreuzen. Krasus, dessen Gehör besser war als das der Wesen in seiner Umgebung, hörte, wie die Soldaten sich unterhielten. Die meisten Toten, so sagten sie, habe es unter den Unschuldigen und den Unvorbereiteten gegeben, doch als die Dämonen einer geordneten Streitmacht gegenüber gestanden hätten, wären sie selbst vernichtet worden. Einige behaupteten sogar, der Krieg wäre schon längst gewonnen, wenn man den Dämonen nach der ersten Schlacht bis Zin-Azshari gefolgt wäre, anstatt sich zurückzuziehen und auf Verstärkung zu warten.

Solche Behauptungen bereiteten Krasus Sorge. Es war richtig, zuversichtlich in eine Schlacht zu ziehen, aber es war falsch, den Gegner zu unterschätzen. Die Nachtelfen mussten begreifen, dass die Brennende Legion tödlich war.

Sein Blick fiel auf den einen Nachtelfen, der sich dessen bewusst zu sein schien. Krasus wusste, dass Malfurion eine wichtige Rolle in diesem Kampf spielen würde, aber er erinnerte sich nicht mehr an die genauen Umstände. Dazu gehörte sicherlich, dass er der erste Druide war, aber es gab noch andere Umstände, die dazu führen sollten. Der Drachenmagier hatte längst entschieden, dass er um jeden Preis beschützt werden musste.

Die Nacht war beinahe vorüber, als plötzlich Späher aus dem Südosten auftauchten. Ravencrest hatte zahlreiche Reiter ausgesandt, um stets auf dem neuesten Stand zu sein.

Die drei Nachtelfen wirkten erschöpft. Anscheinend hatten sie ihre schwer atmenden Nachtsäbler mit großer Geschwindigkeit geritten. Ihre Gesichter waren schweißbedeckt, ihre Kleidung voller Staub. Sie tranken etwas Wasser, bevor sie von ihrer Erkundung berichteten.

„Eine Gruppe Dämonen zieht durch die Region Dy-Jaru, Mylord“, sagte der ranghöchste Späher. „Wir haben Rauch, Feuer und Flüchtlinge gesehen.“

„Kannst du die Zahl der Feinde schätzen?“

„Schwer zu sagen, aber es sind weit weniger als unsere Streitmacht.“

Ravencrest strich nachdenklich über seinen Bart. „Wohin ziehen die Flüchtlinge?“

„Wahrscheinlich nach Halumar, Mylord, aber sie werden es nicht schaffen. Die Dämonen sind ihnen auf den Fersen.“

„Können wir uns zwischen sie schieben?“

„Ja, wenn wir uns beeilen. Die Lücke ist groß genug.“

Der Adlige streckte einem seiner Adjutanten seine Hand entgegen. „Karte.“

Sofort reichte man ihm die richtige Karte. Er entrollte sie und ließ sich von den Kundschaftern zeigen, wo sich die Dämonen und wo sich die Flüchtlinge befanden. Schließlich nickte er. „Wir müssen unsere Marschgeschwindigkeit steigern und ihnen bei Tageslicht gegenübertreten, aber wir können es schaffen. Es ist kein großer Umweg auf unserem Marsch nach Zin-Azshari. Wir können uns das leisten.“

„Vor allem, weil es vielleicht ein paar Unschuldigen das Leben rettet“, murmelte Rhonin leise an Brox gewandt.

Krasus beugte sich vor. „Um was für Dämonen handelt es sich?“

„Hauptsächlich um Teufelswächter.“

Ein anderer Späher fügte hinzu: „Ich habe ein paar dieser Hunde gesehen und einen der geflügelten Dämonen… eine Verdammniswache.“

Der Drachenmagier runzelte die Stirn. „Eine magere Versammlung.“

„Wahrscheinlich haben sie sich aus lauter Blutgier von den anderen getrennt“, verkündete Lord Ravencrest. „Wir werden ihnen beibringen, wie nützlich Selbstdisziplin sein kann… allerdings werden sie nicht lange genug leben, um diese Lektion zu beherzigen.“ Er wandte sich an seine Offiziere. „Gebt den Marschbefehl! Wir ziehen ihnen entgegen.“

Die Armee wechselte nur einen Moment später die Richtung. Die Nachtelfen bewegten sich schnell, wurden angetrieben von dem Wunsch, Angehörige ihres Volks zu retten und den ersten Sieg auf dem langen Marsch zur Hauptstadt zu feiern.

Illidan und die Mondgarde änderten ihre Position und verteilten sich über die gesamte Streitmacht. Die Schwestern von Elune taten das Gleiche und bereiteten sich darauf vor zu kämpfen und zu heilen. Da sie die einzigen Außenseiter waren, blieben Rhonin, Krasus und Brox zusammen. Die beiden Magier hatten jedoch entschieden, dass Rhonin Illidan beobachten würde, sobald die Schlacht begann. Beide machten sich Sorgen über seinen Leichtsinn.

Malfurion blieb bei ihnen, weil Ravencrest noch nicht wusste, wie man seine ungewöhnlichen Fähigkeiten am effektivsten einsetzen sollte. Captain Shadowsongs Einheit bewachte die Vier, und der Adlige war sicher, dass der Druide so geschützt selbst entscheiden konnte, welche Angriffsstrategien gegen die Dämonen am wirkungsvollsten sein würden.

Malfurion, der den ganzen Tag mit Cenarius gearbeitet und die Nacht über geritten war, begann seine Erschöpfung zu spüren. Der Halbgott hatte ihm beigebracht, seine Stärke aus der Natur zu ziehen, und Malfurion hoffte, dass er vor der Schlacht Gelegenheit dazu erhalten würde.

Die Sonne stieg über den Horizont, verschwand aber fast sofort hinter tief hängenden, dunklen Wolken. Das war sogar von Vorteil für die Streitmacht. Die Zauber, die Krasus und Rhonin über sich selbst und Brox gewoben hatten, ermöglichte es ihren Augen, sich sofort veränderten Lichtverhältnissen anzupassen. Die meisten Soldaten mussten jedoch warten, bis ihre Augen sich ohne magischen Beistand daran gewöhnten. Die dichte Wolkendecke half dem nachtaktiven Volk dabei und stärkte dessen Siegessicherheit.

Die Kundschafter schwärmten weiterhin aus, um Informationen zu sammeln. Die Dämonen hatten die flüchtenden Nachtelfen noch nicht eingeholt, aber sie rückten näher. Ravencrest trieb seine Krieger zu größerer Eile an. Er schickte eine große Gruppe von Nachtsäbler-Reitern aus, um die Brennende Legion von zwei Seiten in die Zange zu nehmen.

Als die Kundschafter meldeten, die Streitkräfte stünden jetzt zwischen den Flüchtenden und der Legion, ließ Ravencrest das Horn ertönen. Die Krieger bereiteten sich auf die Schlacht vor.

Hinter einer Hügelkuppe warfen die Nachtelfen zum ersten Mal einen Blick auf den Feind.

Die Feuerdämonen hatten das Land verbrannt. Hinter ihnen existierte kein Leben mehr. Das tote Land, das Krasus von Korialstrasz’ Rücken aus gesehen hatte, erstreckte sich bis zum Horizont und spornte die Soldaten noch mehr an.

„Wie es die Kundschafter beschrieben haben“, murmelte der Herrscher von Black Rook und zog sein Schwert. „Umso besser. Jetzt werden wir ihnen zeigen, was mit denen passiert, die unser Land verwüsten.“

Krasus betrachtete die Horde. Sie war ein ernstzunehmender Feind, aber auch einer, den die Nachtelfen ohne große Mühen besiegen konnten. „Mylord, Ihr solltet vorsichtig sein.“ Aber Ravencrest beachtete ihn nicht. Der ältere Nachtelf hob sein Schwert und schwang es zweimal von rechts nach links und wieder zurück. Alle Regimenter der großen Streitmacht stießen in ihre Hörner.

Mit einem gewaltigen Gebrüll stürmten die Nachtelfen den Dämonen entgegen.

Die Brennende Legion verlor im Angesicht der überlegenen Streitmacht nicht die Nerven. Stattdessen begannen die gepanzerten Dämonen kampfeslustig zu brüllen. Die Zerstörung, die sie Kalimdor gebracht hatten, schien ihnen noch nicht zu genügen. Sie vergaßen die Flüchtlinge und wandte sich den Kriegern zu.

Ein Pfeilregen schoss ihnen entgegen. Wie kreischende Banshees kamen die Pfeile über die monströsen Krieger, rissen Kehlen auf, verheerten Gliedmaßen und Köpfe. Tote und verletzte Dämonen brachen zusammen, zwangen andere, über sie hinwegzuklettern.

Ein goldener Blitz schlug mitten zwischen den Dämonen ein. Teufelswächter wurden emporgeschleudert. Fleischstücke und die dunkle Flüssigkeit, die in den dämonischen Adern floss, prasselten auf die Überlebenden herab. Krasus sah nach links, wo Illidan über seinen gelungenen Angriff lachte. Der junge Zauberer befahl der Mondgarde, die gleiche Formation einzunehmen, die sie bei der ersten Schlacht gegen die Legion verwendet hatten. Illidan wollte die Macht der Magier an sich binden und verstärken.

Der Drachenmagier runzelte die Stirn. Eine solche Taktik neigte dazu, die Zauberer, die ihre Energie lieferten, weit mehr zu schwächen als denjenigen, der sie an sich zog. Illidan musste sehr genau auf den Zustand der Mondgarde achten, sonst riskierte er es, sie in solchem Maße zu schwächen, dass sie sich nicht mehr gegen Angriffe der Eredar verteidigen konnten.

Krasus’ Gedanken wanderten von den Risiken, die Malfurions Bruder einging, zum Feind. Zum ersten Mal wob er in Korialstrasz’ Abwesenheit einen Zauber. Er wusste nicht, was geschehen würde, doch dann spürte er, wie die Macht in ihm anstieg – und lächelte.

Ein furchtbarer Wind fuhr durch die vorderen Reihen der Dämonen. Er warf die gehörnten Krieger gegeneinander, sorgte sogar dafür, dass sie die Waffen gegeneinander richteten. Chaos brach unter ihnen aus.

Damit erhielten die Nachtelfen ihre große Gelegenheit. Die ersten Soldaten erreichten die Dämonen und erschlugen sie. Die vorderen Reihen der Legion gerieten vollends in Unordnung. Teufelswachen fielen zu Dutzenden, während sie versuchten, sich zu sammeln.

Ein weiterer Pfeilregen dezimierte die hinteren Reihen. Innerhalb weniger Minuten lag ein Viertel der Horde entweder tot oder sterbend am Boden. Krasus hätte Zuversicht spüren sollen, aber er hatte immer noch den Eindruck, dass alles zu einfach war. Die Brennende Legion war noch nie so leicht besiegt worden.

Über seine Unsicherheit konnte er mit niemandem sprechen. Brox war zwischen den Kriegern verschwunden und irgendwie bis in die erste Reihe vorgestoßen. Er saß auf seinem Nachtsäbler und ließ die Axt kreisen. Seine Klinge brachte den Tod. Der grünhäutige Krieger brüllte der Legion seine Herausforderung entgegen, während der abgetrennte Kopf eines Dämons über seine Schulter flog.

Zur gleichen Zeit mobilisierte Rhonin Zauber, deren Stärke Krasus neidisch werden ließ. Der rothaarige Magier berührte die grünen Flammen, von denen die Körper der Dämonen umgeben waren und verwandelte sie in echtes Feuer. Die Monstrositäten verbrannten innerlich. Einer nach dem anderen zerfiel zu Staub und hinterließ nur Reste der Rüstung. Rhonins Gesichtsausdruck war grimmiger als der der meisten Soldaten. Der Drachenmagier ahnte, dass sein ehemaliger Schüler die ganze Zeit über an seine Frau und seine ungeborenen Kinder dachte, deren Schicksal vom Ausgang dieser Schlacht abhing.

Aber wo war Malfurion? Im ersten Moment konnte der hagere Zauberer den Druiden nicht entdecken, doch dann fand er ihn im hinteren Teil der Streitmacht. Malfurion saß ruhig auf seinem Reittier. Sein Gesicht wirkte konzentriert, seine Augen waren geschlossen. Krasus spürte zuerst nichts, doch dann bemerkte er einen Druck in der Erde, der sich rasch auf die Brennende Legion zu bewegte. Mit seinen magischen Sinnen folgte er dem Zauber. Er wollte wissen, was geschehen würde.

In den ersten Reihen der Horde schossen plötzlich Wurzeln aus dem Boden. Baumwurzeln, Graswurzeln… alle möglichen Arten von Geflecht. Krasus bemerkte, dass Malfurion sie nicht nur aus dem Boden wachsen ließ, er ließ sie auch weitaus größer werden, als das normalerweise der Fall gewesen wäre.

Ein gehörnter Krieger stolperte und stürzte in die Klinge eines wartenden Nachtelfs. Eine Teufelsbestie knurrte und schnappte nach den Wurzeln, in denen sich ihre Tatzen verfangen hatten. Keiner der Nachtelfen hatte Probleme mit den Wurzeln. Das knorrige Holz teilte sich sogar, um den Soldaten den Weg zu erleichtern.

Nur noch die Hälfte der Dämonen kämpfte, der Sieg war also nahe. Trotzdem traute Krasus diesem Eindruck nicht. Misstrauisch beobachtete er die Schlacht, fand jedoch nichts, was seine Sorge bestätigt hätte.

Nichts außer einem einsamen geflügelten Dämon, der zwischen den Wolken verschwand. Krasus wob rasch einen Zauber, als er ihn bemerkte.

Nebel legte sich wie ein Umhang um die Verdammniswache, drückte die Flügel gegen den Körper, presste sie zusammen. Der Dämon wehrte sich, ohne etwas ausrichten zu können. Einen Augenblick später stürzte er seinen Mitstreitern als tödliches Geschoss entgegen.

Krasus gratulierte sich nicht zu seiner entschlossenen Tat. Stattdessen ritt er auf Lord Ravencrest zu und versuchte, dessen Aufmerksamkeit zu erregen. Doch der Adlige ritt im gleichen Moment zur Seite, um einigen Soldaten Befehle zu erteilen.

Der Drachenmagier blickte zum Himmel empor. Sie hatten immer noch eine Chance. Wenn die Nachtelfen die Gefahr schnell genug erkannten, ließ sich die Katastrophe noch abwenden.

Sein Körper begann zu kribbeln. Krasus verlor die Kontrolle über seine Gliedmaßen. Er sackte auf seinem Panther zusammen. Nur die Breite des Tiers verhinderte seinen Sturz. Erst jetzt begriff er, dass er in seiner Sorge vergessen hatte, auf Angriffe der Eredar-Hexenmeister zu achten.

Krasus kämpfte gegen die Magie, während er seinen Blick in den Himmel richtete. Die Wolken schienen dunkler und schwerer zu werden, sanken langsam dem Boden entgegen.

Nein, das war nur eine Illusion, so viel war ihm klar. Krasus wehrte sich gleichzeitig gegen den Zauber und gegen das Bild, das die Dämonen in den stürmischen Himmel projiziert hatten. Die angeschwollenen Wolken verschwanden und enthüllten die Wahrheit.

Und aus dem Himmel stürzte die Brennende Legion auf die Streitmacht herab.

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