3

Der Schmerz seines Todes war unerträglich gewesen. Gleichzeitig hatte man ihn auf ein Dutzend entsetzliche Weisen vernichtet. Die Folter war so schrecklich gewesen, dass er den Tod wie eine sehnsüchtig erwartete Geliebte empfangen hatte.

Doch selbst die Leiden seines Sterbens verblassten verglichen mit dem, was danach kam.

Er hatte keinen Körper mehr, keine Substanz, nichts. Von ihm war weniger geblieben als ein Geist. Seine eigene Existenz war ihm nur bewusst, weil ein anderer ihn leiden ließ. Er hatte diesen anderen enttäuscht, und Enttäuschung war die größtmögliche Sünde.

Sein Gefängnis war ein endloses Nichts. Er hörte nichts, sah nichts, spürte nichts… außer Schmerz. Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Tage, Wochen, Monate, Jahre, Jahrhunderte? Oder nur einige wenige entsetzliche Minuten? Wenn Letzteres zutraf, dann war seine Folter wahrhaft monströs.

Sein Schmerz endete unerwartet. Ohne einen Mund konnte er seine Erleichterung, seine Freude nicht hinausschreien. Noch nie war er so dankbar für etwas gewesen.

Doch dann begann er sich zu fragen, ob diese Pause nur die Vorbereitung auf eine neue, noch schlimmere Folter war.

Ich habe beschlossen, dich zu begnadigen.

Die Stimme seines Gottes erfüllte ihn gleichermaßen mit Hoffnung und Angst. Er wollte sich verbeugen, auf Knien rutschen, doch ohne Körper war ihm das – oder irgendetwas anderes – nicht möglich.

Ich habe entschieden, dass es einen Platz für dich gibt. Ich habe die Schwärze in dir erblickt und gefunden, was mich einst erfreute. Das wird der Kern deines neuen Ichs sein. Du wirst ein weit besserer Diener werden als zuvor.

Er war unendlich dankbar für dieses Geschenk, konnte dies jedoch ebenfalls nicht zeigen.

Du musst neu geformt werden, aber so, dass andere in dir den Ruhm sehen, den ich gebe und die Strafen, die ich austeile. Ich werde dir etwas zurückgeben, durch das sie dich erkennen werden.

Ein Energieblitz durchfuhr ihn. Winzige Materieflocken flogen ins Innere des Energiesturms, verbanden sich miteinander und schenkten ihm Substanz. Viele hatten vor seiner Zerstörung zu ihm gehört und waren ihm, wie seine Seele, im Augenblick seines Todes von seinem Gott genommen worden.

Langsam und verschwommen bildete sich ein Körper um ihn. Er konnte sich nicht bewegen, konnte nicht atmen. Dunkelheit umgab ihn, und er erkannte, dass er sein Augenlicht zurückerhalten hatte.

Und dann begann er zum ersten Mal nach seinem Tode wirklich zu sehen. Er bemerkte, dass seine Arme und Beine anders waren als zuvor. Die Beine bogen sich an den Knien nach hinten und endeten in Hufen. Alle Gliedmaßen waren von dichtem Fell bedeckt, die Hände endeten in langen Klauen.

Sein Gesicht fühlte sich fremd an. Er spürte, dass gekrümmte Hörner aus seiner Stirn ragten. Nichts erinnerte an seinen letzten Körper, und er fragte sich, wie andere ihn erkennen sollten.

Zögernd hob er die Hand und berührte seine Augen… und plötzlich wusste er, woran man ihn erkennen würde. Er spürte, wie die Kräfte darin mit jeder Sekunde größer wurden. Er erkannte die Stränge magischer Energie, die ihn umgaben, sah, wie die unsichtbare Hand seines Gottes seinen Körper erschuf und ihm mehr Macht verlieh als je zuvor.

Er beobachtete die Arbeit seines Gottes und bewunderte ihre Perfektion. Hier entstand eine neue Art von Diener, einer, den alle anderen Jünger seines Herrn beneiden würden.

All dies sah er durch künstliche Augen aus schwarzem Metall, die von rubinroten Schlieren durchzogen waren.

Diese Augen würden all jene zu deuten wissen, die ihn einmal gekannt hatten – und sie würden lernen, ihn aufs Neue zu fürchten.


Lord Kur’talos Ravencrest stand vor dem hohen steinernen Stuhl, von dem aus er normalerweise seine Audienzen hielt, und betrachtete die vor ihm versammelten Kommandanten. Selbst für einen Nachtelf war er außergewöhnlich groß. Sein Gesicht war lang und schmal. Es erinnerte ein wenig an den schwarzen Vogel, dessen Namen er trug. Sogar seine Nase war gebogen wie ein Schnabel. Sein gestutzter Bart und die streng blickenden Augen verliehen ihm eine Aura der Weisheit und Macht. Er trug die graugrüne Rüstung seiner Soldaten, betonte seinen hohen Status jedoch durch einen goldfarbenen Umhang und einen großen, rot eingefassten Helm, auf dem der stilisierte Kopf eines Raben prangte.

Hinter dem Stuhl hingen die Banner seines Hauses, rechteckige, purpurne Fahnen, die die schwarze Silhouette eines Vogels in ihrer Mitte trugen. Das Banner des Hauses Ravencrest war zum Symbol der Verteidiger geworden, und manche sprachen mit der gleichen Ehrfurcht über den Adligen, mit der sie einst von der Königin gesprochen hatten.

Lord Ravencrest selbst schätzte die Königin immer noch, und als Malfurion ihm zuhörte und begriff, in welche Richtung der Gegenangriff gehen sollte, wuchsen seine Bedenken.

„Es ist klar“, betonte der bärtige Nachtelf, „dass wir uns auf Zin-Azshari konzentrieren müssen. Von dort kommen diese Ungeheuer, dort müssen wir sie angreifen!“

Die versammelten Nachtelfen nickten und murmelten Zustimmung. Der Feind musste von seinem Nachschub abgeschnitten werden. Ohne die Verstärkung aus Zin-Azshari würden die Dämonen, die sich bereits im Land aufhielten, sicher bald vernichtet werden.

Ravencrest beugte sich seinem Publikum entgegen. „Doch wir werden uns nicht nur den Ungeheuern aus einer anderen Welt stellen. In Zin-Azshari lauern die Verräter aus unserem eigenen Volk!“

„Tod den Hochwohlgeborenen!“, schrie ein Nachtelf.

„Ja! Die Hochwohlgeborenen! Sie und ihr Anführer Lord Xavius haben dieses Unglück über uns gebracht. Ihnen müssen wir mit erhobenen Schwertern und Lanzen entgegentreten, um sie für ihre Verbrechen zu bestrafen!“

Der Gesichtsausdruck des Adligen wurde noch grimmiger. „Schließlich halten sie unsere geliebte Azshara gefangen.“

Wütende Rufe antworteten ihm. Einige schrien: „Gelobt sei Azshara, das Licht der Lichter!“

Jemand neben Malfurion murmelte: „Sie sind noch immer verblendet.“

Er drehte den Kopf und entdeckte Rhonin, den rothaarigen Zauberer. Er war einen Kopf kleiner als ein Nachtelf, aber breiter gebaut, sodass er nicht nur wie ein Zauberer, sondern ebenfalls wie ein Krieger wirkte. Rhonin war der einzige Mensch unter ihnen – der einzige Mensch der Welt, so weit Malfurion wusste –, und seine bloße Anwesenheit löste Aufregung aus. Die Nachtelfen neigten zur Arroganz und zu Vorurteilen, wenn es um andere Völker ging. Rhonin behandelten sie mit Respekt, weil er mächtig war, doch nur wenige hätten ihn wohl in ihr Heim eingeladen.

Noch weiter entfernt von einer Einladung war die groteske, tierhafte Gestalt neben ihm, die fast so groß wie Malfurion und beinahe so breit wie ein Bär war. Auf dem Rücken trug der Orc eine gewaltige, doppelt geschliffene Streitaxt, die aus Holz zu sein schien, aber wie Stahl glänzte.

„Wer die Wahrheit in der Schlacht nicht erkennt, stürmt der Niederlage entgegen“, grunzte der grünhäutige Krieger, und die philosophischen Worte passten nicht zu seinem primitiven Aussehen.

Broxigar – oder Brox, wie er sich meist nannte – schüttelte den Kopf über die unverminderte Hingabe der Nachtelfen. Rhonin antwortete dem Orc mit einem zynisch traurigen Lächeln, was Malfurion zu der Frage führte, wie sein Volk in den Augen dieser Fremden wirken musste. Im Gegensatz zu den meisten Nachtelfen hatten sie die Wahrheit längst erkannt: Azshara wusste, was in ihrem Palast vorging.

„Wenn ihr wüsstet, was sie einst für uns darstellte“, flüsterte Malfurion, „dann würdet ihr verstehen, weshalb ihr Verrat so schwer zu akzeptieren ist.“

„Es ist egal, was sie denken“, mischte sich Illidan in die Unterhaltung ein. „Sie werden Zin-Azshari ohnehin angreifen. Das Ergebnis wird das Gleiche sein: Das Ende der Dämonen.“

„Und wenn Azshara vor sie tritt und erklärt, sie habe den Hochwohlgeborenen die Kontrolle über die Dämonen abgerungen und alles sei wieder in Ordnung?“, fragte Rhonin spitz. „Wenn sie ihren Leuten befiehlt, die Waffen niederzulegen, weil die Schlacht vorüber ist? Und wenn die Brennende Legion Ravencrest und die anderen angreift, während die Königin über deren Dummheit lacht?“

Illidan wusste nichts darauf zu erwidern, Brox hingegen schon. Er legte eine Pranke auf den Griff seines Dolches und murmelte leise: „Wir wissen um ihren Verrat. Wir werden dafür sorgen, dass diese Königin niemanden mehr täuscht…“

Rhonin neigte unter seiner Kapuze den Kopf zur Seite, als wolle er über diesen Vorschlag nachdenken. Illidan verbarg seine Gefühle hinter einem starren Gesichtsausdruck. Malfurion zog die Augenbrauen zusammen, war hin- und hergerissen zwischen den Überbleibseln seiner eigenen königlichen Verehrung und der Erkenntnis, dass man irgendwann gegen die Königin vorgehen musste. Weil sonst die Welt die Invasion der Monstrositäten nicht überstehen würde.

„Sollte die Zeit kommen, werden wir tun, was getan werden muss“, antwortete er schließlich.

„Und diese Zeit wird bald kommen.“

Krasus betrat leise den Saal, worauf sie verstummten. Der blasse, rätselhafte Zauberer bewegte sich sicherer, erholter, aber der Drache, vom dem er seine Stärke zu beziehen schien, war natürlich nicht im Saal zu sehen.

Rhonin ging sofort zu ihm. „Krasus, wie ist das möglich?“

„Ich habe getan, was ich getan habe“, sagte der Angesprochene und berührte unbewusst die drei kleinen Narben auf seinem Gesicht. „Ich muss euch sagen, dass Korialstrasz uns verlassen hat.“

Die Nachricht kam zwar nicht überraschend, schockierte jedoch alle. Ohne den Drachen mussten sich die Nachtelfen noch stärker als zuvor auf ihre kleine Gemeinschaft stützen.

Am anderen Ende des Saals setzte Lord Ravencrest seine Rede fort. „Sobald wir dort sind, wird eine zweite Streitmacht unter Lord Desdel Stareyes Kommando vom Süden her angreifen und sie so von zwei Seiten in die Zange nehmen…“

Neben dem Thron stand ein sehr hagerer Nachtelf, der die gleiche Rüstung wie Ravencrest angelegt hatte, aber einen Umhang aus miteinander verwobenen grünen, orangefarbenen und purpurnen Linien trug. An der Spitze von Stareyes Helm sah man eine Krone aus Nachtsäblerfell. Der Helm war außerdem mit zahlreichen kleinen Edelsteinsternen verziert. In der Mitte jedes Edelsteins saß ein goldenes Auge. Zweifellos wirkten diese Verzierungen auf Außenstehende kitschig, Stareyes Kameraden gefielen sie jedoch. Der Nachtelf schien auf jeden herabzublicken – auf jeden außer seinem Gastgeber, denn Desdel Stareye wusste, wie wichtig seine Verbindung zum Hause Ravencrest war.

„Wir müssen uns schnell bewegen, natürlich, ja“, fügte Stareye überflüssigerweise hinzu. „Sie im Herzen treffen, ja. Die Dämonen werden sich vor unseren Klingen ducken und um Gnade winseln, doch die werden wir ihnen nicht gewähren.“

Er griff in einen Beutel an seinem Gürtel, nahm ein weißes Pulver heraus und schniefte es.

„Der Himmel möge uns beistehen, wenn dieser Lackaffe eine Armee kommandieren soll“, murmelte Rhonin. „Seine Rüstung glänzt, als wäre sie frisch geschmiedet. Hat er jemals eine Schlacht gesehen?“

Malfurion verzog das Gesicht. „Nur wenige aus unserem Volk haben das. Die meisten überlassen diese geschmacklose Pflicht Lord Ravencrest, der Mondgarde oder den örtlichen Streitkräften. Leider entscheidet in schweren Zeiten die Blutlinie darüber, wer den höchsten Rang erhält.“

„Fast wie bei den Menschen“, sagte Krasus, bevor Rhonin antworten konnte.

„Rasch bis ins Herz vorstoßen“, pflichtete Lord Ravencrest bei. „Und das muss uns gelingen, bevor die Hochwohlgeborenen das Portal für weitere Ungeheuer öffnen…“

Malfurion war überrascht, als Krasus vortrat und es wagte, Ravencrest zu unterbrechen. „Ich befürchte, dass es dafür bereits zu spät ist, Mylord.“

Einige Nachtelfen murmelten verärgert über diese Unhöflichkeit eines Fremden. Krasus ignorierte sie und ging auf den Thron zu. Malfurion bemerkte, dass der Magier noch immer leichte Anzeichen des Unwohlseins zeigte. Es schien ihm zwar gelungen zu sein, sich von dem Drachen zu lösen, doch seine geheimnisvolle Krankheit hatte er nicht völlig überwunden.

„Was soll das heißen, Zauberer?“

Krasus blieb vor Ravencrest stehen. „Dass das Portal bereits geöffnet wurde.“

Seine Worte hallten durch den Saal. Einige Nachtelfen wurden blass unter ihrer purpurnen Gesichtsfarbe. Malfurion verstand es gut, denn das waren wirklich schlechte Nachrichten. Er fragte sich, wie sie reagieren würden, wenn sie erfuhren, dass der einzige Drache, der sie unterstützt hatte, nicht mehr bei ihnen war.

Desdel Stareye fragte hochmütig: „Woher weißt du das?“

„Ich habe die magischen Strahlen gespürt“, antwortete Krasus. „Ich weiß, was sie bedeuten. Das Portal wurde geöffnet.“

Der Adlige rümpfte die Nase, als wolle er damit ausdrücken, wie fragwürdig solche Beweise waren. Lord Ravencrest akzeptierte Krasus’ Aussage jedoch mit düsterem Nicken. „Wie lange ist das her?“

„Einige Minuten. Ich habe es zweimal überprüft, bevor ich hierher eilte.“

Der Herrscher der Black-Rook-Festung lehnte sich zurück. „Das sind schlimme Nachrichten. Doch, wenn erst so wenig Zeit vergangen ist…“

„Es gibt noch Hoffnung“, stimmte der Zauberer zu. „Das Portal ist schwach. Sie werden nur wenige gleichzeitig hindurchbringen können. Noch wichtiger ist, dass ihr Herr es noch nicht betreten kann. Sollte er es versuchen, wird er das Portal zerstören…“

„Welche Rolle spielt das? Er kann doch einfach da bleiben, wo er ist und seinen Armeen Befehle erteilen“, sagte Stareye und schniefte.

„Die Brennende Legion ist nur ein Schatten seiner furchtbaren Macht. Selbst wenn alle Dämonen, die ihm dienen, das Portal durchschreiten, hätten wir noch Hoffnung. Doch sollten wir alle vernichten, aber ihm den Schritt in unsere Welt ermöglichen, gäbe es diese nicht mehr.“

Stille folgte auf seine Worte. Malfurion blickte zu Rhonin und Brox. Ihre Mimik spiegelte Krasus’ Warnung wider.

„Das ändert nichts“, erklärte Ravencrest abrupt. Er sah sein Publikum entschlossen an. „Zin-Azshari steht jetzt mehr denn je im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Dort erwarten uns das Portal und unsere geliebte Azshara. Deshalb werden wir dorthin marschieren!“

Die Nachtelfen begannen spontan zu jubeln, so sehr vertrauten sie dem älteren Kommandanten in Kriegsdingen. Nur wenige Nachtelfen hatten einen Ruf, der sich mit dem von Lord Ravencrest messen konnte. Er scharte die Krieger mit fast ebenso großem Geschick unter seinem Banner wie die Königin.

„Die Krieger stehen bereit! Sie warten nur noch auf unsere Entscheidung. Nach dieser Versammlung werdet ihr alle zu euren Einheiten zurückkehren und sie vorbereiten. Morgen werden wir am Ende des Tages unseren Marsch auf die Hauptstadt beginnen!“ Ravencrest hob seine Faust. „Für Azshara! Für Azshara!“

„Für Azshara!“, wiederholten die anderen Nachtelfen, unter anderem auch Illidan. Malfurion wusste jedoch, dass sein Bruder den Ruf nur aufnahm, weil er zum Zauberer von Black Rook geworden war. Auch wenn Illidan vielleicht seine eigene Meinung über Königin Azshara hatte, seine neu gewonnene Position wollte er dafür nicht aufs Spiel setzen.

Die Nachelfen-Offiziere stürmten fast aus dem Raum, konnten es kaum erwarten, zu ihren Soldaten zurückzukehren. Malfurion blickte ihnen nach und dachte daran, wie launisch sein Volk sein konnte. Eben noch hatten sie über die neue Bedrohung durch das Portal geklagt, aber jetzt taten sie so, als hätten sie die schlimmen Neuigkeiten nie erfahren.

Aber selbst wenn sie tatsächlich so vergesslich gewesen wären, Rhonin und Brox dachten noch daran. Sie schüttelten die Köpfe, und der rothaarige Zauberer murmelte: „Das geht nicht gut aus. Dein Volk versteht nicht, worauf es sich einlässt.“

„Haben sie denn eine Wahl?“

„Ihr müsst noch einmal darüber nachdenken, Boten auszusenden, so wie ich es vorgeschlagen habe“, beharrte Krasus plötzlich.

Der Zauberer stand noch immer vor Lord Ravencrest, der von zwei ernst wirkenden Wachen und Desdel Stareye umgeben war. Krasus hatte einen Fuß auf das Podest gesetzt. Malfurion hatte ihn noch nie so erregt erlebt.

„Boten aussenden?“, entgegnete Stareye. „Ihr beliebt zu scherzen.“

„Ich verstehe Eure Sorge“, antwortete ihr Gastgeber, „aber so tief sind wir noch nicht gesunken. Fürchtet Euch nicht, Meister Krasus, wir werden Zin-Azshari einnehmen und den Dämonen den Weg durch das Portal abschneiden. Das verspreche ich Euch.“ Er rückte seinen Helm zurecht. „Nun, ich glaube, wir müssen beide noch einiges vor dem Marsch vorbereiten, oder?“

Der Adlige verließ hoch erhobenen Hauptes den Raum, so als habe er bereits gesiegt. Die Wachen und Stareye folgten ihm. Illidan stieß kurz vor der Tür zu seinem Herrn. Krasus sah ihnen mit missmutigem Gesicht hinterher.

„Von was wolltest du ihn überzeugen?“, fragte Rhonin. „Zu wem sollte er Boten schicken?“

„Ich habe versucht – erfolglos versucht, wie es scheint – ihn davon zu überzeugen, um die Hilfe der Zwerge und der anderen Völker zu bitten…“

„Der anderen Völker?!“, stieß Malfurion hervor. Wenn Krasus ihn von Anfang an gefragt hätte, wie groß seine Erfolgschancen waren, hätte der junge Nachtelf sofort versucht, ihn von diesem Vorschlag abzubringen. Obwohl Kalimdor belagert wurde und Hunderte bereits gestorben waren, hätte sich kein Lord so sehr erniedrigt, Fremde um Hilfe zu bitten. Für die meisten Nachtelfen waren Zwerge und ähnliche Wesen beinahe Ungeziefer.

„Ja… und ich entnehme deiner Mimik, dass es auch sinnlos wäre, ihn später darauf anzusprechen.“

„Weißt du noch, wie schwierig es bei uns war, die Zwerge, Orcs, Elfen und Menschen von einer Zusammenarbeit zu überzeugen?“, fragte Rhonin. „Ganz zu schweigen von den Problemen, die es mit den einzelnen Fraktionen und Königreichen innerhalb der Völker gab.“

Krasus nickte müde. „Sogar mein eigenes Volk ist nicht frei von Vorurteilen.“

Noch nie war Malfurion der Frage, wer Krasus eigentlich war, so nahe gewesen, aber er hakte nicht nach. Seine Neugier über die Identität seines Verbündeten war unbedeutend im Angesicht der Katastrophe, der sie entgegensahen.

„Ihr habt ihnen nichts von der Abreise des Drachen erzählt“, sagte er stattdessen zu Krasus.

„Lord Ravencrest weiß Bescheid. Ich habe ihm eine Nachricht geschickt, als Korialstrasz mir seine Entscheidung mitteilte.“

Rhonin runzelte die Stirn. „Du hättest Korialstrasz nicht gehen lassen sollen.“

„Er teilt meine Sorge über die Drachen. Das solltest du auch.“ Eine stumme Unterhaltung fand zwischen den beiden Zauberern statt, die Rhonin schließlich mit einem Nicken beendete.

„Was sollen wir machen?“, fragte Brox. „Sollen wir mit den Nachtelfen kämpfen?“

„Wir haben keine andere Wahl“, antwortete Rhonin vor Krasus. „Wir sind hier gefangen. Die Dinge sind so kompliziert geworden, dass wir eine aktivere Rolle einnehmen müssen.“ Er blickte dem älteren Magier tief in die Augen. „Wir können nicht einfach zusehen.“

„Nein, das können wir nicht. Dazu ist es bereits zu spät. Außerdem habe ich nicht vor, auf meine Attentäter zu warten. Ich werde mich zur Wehr setzen.“

Rhonin nickte. „Dann sind wir uns einig.“

Malfurion verstand nicht alles, was gesagt wurde, aber er erkannte, dass er das Ende eines langen, schwierigen Disputs beobachtete. Anscheinend war Krasus trotz der Unterstützung, die er den Nachtelfen gewährt hatte, nicht sicher, ob er ihnen wirklich helfen sollte. Das war paradox, fand der Druide, wenn man bedachte, wie leidenschaftlich Krasus darum gebeten hatte, Zwerge und Tauren zu Verbündeten zu machen.

Erst dann fiel ihm auf, dass sie beschlossen hatten, gemeinsam mit den Streitkräften gegen Zin-Azshari zu ziehen. Malfurion wusste, dass er noch mit einer Person sprechen musste, bevor das geschah. Er konnte Suramar erst verlassen, wenn er sie noch einmal gesehen hatte.

„Ich muss gehen“, sagte er den anderen. „Es… es gibt etwas, das ich noch erledigen muss.“

Seine Wangen mussten sich gerötet haben, denn Krasus nickte freundlich. „Bitte übermittle ihr meine Grüße.“

„Ich… natürlich.“

Doch als er an dem älteren Magier vorbeigehen wollte, griff dieser nach seinem Arm. „Wehre dich nicht zu sehr gegen deine Gefühle, mein Junge. Sie sind Teil deiner Berufung, deines Schicksals. Du wirst sie in den Tagen, die nun kommen, brauchen, vor allem, da er zweifellos hier eingetroffen ist.“

„Hier?“ Rhonin runzelte die Stirn. „Wer? Was verschweigst du uns?“

„Ich denke nur logisch, Rhonin. Du hast gesehen, dass der Dämon Mannoroth die Legion anführte, als sie die Stadt verließ. Du weißt, dass wir trotz seiner Anwesenheit das Portal destabilisieren und seinen Armeen großen Schaden zufügen konnten.“

„Wir haben Mannoroth geschlagen, das weiß ich. Das haben wir in… zu Hause auch geschafft.“

Krasus Augen’ verschleierten sich. Malfurion spürte, wie seine Sorge zunahm. „Dann solltest du auch noch wissen, was nach seiner Niederlage geschah.“

Der Nachtelf sah, wie Rhonin erbleichte. Brox war ebenfalls verstört, aber seine Reaktion entsprach der von Malfurion. Er wusste, dass etwas Unangenehmes enthüllt werden würde, er wusste nur nicht, was.

„Archimonde.“ Der Mensch flüsterte den Namen nur, als habe er Angst, sein Träger könne durch einen lauten Ruf angelockt werden.

„Archimonde“, wiederholte Brox verstehend. Er umklammerte den Griff seines Dolches. Seine Blicke irrten durch den Raum.

„Wer ist dieser… dieser Archimonde?“, fragte Malfurion. Der Name hinterließ einen schlechten Geschmack in seinem Mund.

Es war Rhonin, der ihm antwortete. Rhonin, dessen Augen leuchteten und dessen Lippen hasserfüllt verzerrt waren. „Er, der zur Rechten des Lords der Brennenden Legion sitzt.“


Captain Varo’then überbrachte seiner Königin wie immer die Neuigkeiten. Seit Lord Xavius’ Tod war er zu ihrem Liebling aufgestiegen… in mehr als nur einer Hinsicht. Seine neue Uniform – ein glitzerndes Grün mit goldenen Sonnenstrahlen auf der Brust – war das letzte Geschenk, das Azshara ihm überreicht hatte. Sein Rang war zwar immer noch der eines Captains, aber in Wirklichkeit befehligte er nicht nur Generäle, sondern sogar Dämonen.

Varo’then warf seinen glänzenden goldenen Umhang nach hinten, als er das Quartier seiner Königin betrat. Ihre Zofen verneigten sich tief und verließen dann den Raum.

Azshara selbst lag auf einem silberfarbenen Sofa, den Kopf auf ein kleines Kissen gebettet. Ihr Haar, das noch silberner als das Sofa leuchtete, floss über ihren Nacken, ihre Schultern und ihren Rücken. Die Königin hatte mandelförmige Augen aus reinem Gold und ebenmäßige Gesichtszüge. Die Robe, die sie trug, leuchtete blau und brachte ihre perfekten Formen wunderbar zur Geltung.

In einer Hand hielt Azshara einen Blickglobus, ein magisches Kunstwerk, auf dem man Tausende von exotischen Bildern betrachten konnte. Das Bild, das sich gerade auflöste, als der Soldat niederkniete, schien Azshara selbst darzustellen, aber Varo’then war sich nicht sicher.

„Ja, mein lieber Captain?“

Varo’then hoffte, dass seine Wangen nicht vor Leidenschaft erröteten. „Licht des Mondes, Blume des Lebens, ich bringe wichtige Nachrichten. Der Großmächtige, Sargeras – “

Sie setzte sich augenblicklich auf. Ihre Augen weiteten sich. „Er ist hier?“, fragte die Königin.

Ein Moment der Eifersucht griff nach dem Captain. „Nein, Licht aller Lichter. Das Portal ist noch nicht groß genug, um den Großmächtigen in all seiner Herrlichkeit aufzunehmen… aber er hat seinen engsten Vertrauten zu uns gesandt, um ihm den Weg zu ebnen.“

„Dann muss ich ihn begrüßen!“, erklärte Azshara und erhob sich. Zofen liefen aus ihren Verstecken, um die lange Schärpe der Königin zu tragen. Der Rock war so geschnitten, dass er die langen, glatten Beine der Königin beim Gehen freigab. Azshara war die personifizierte Verführung. Varo’then wusste zwar, dass sie nur mit ihm spielte, aber das interessierte ihn nicht.

In dem Moment, in dem sie sich bewegte, traten andere Gestalten aus den Schatten. Trotz ihrer gewaltigen Größe waren die Teufelswächter, die als persönliche Leibwache der Königin dienten, vorher nicht zu sehen gewesen. Zwei traten vor, der Rest blieb hinter ihnen. Die Dämonen warteten geduldig und ausdruckslos auf die nächste Bewegung ihrer Königin.

Varo’then winkelte seinen gepanzerten Arm an, und Azshara legte ihre perfekten Finger darauf. Er führte sie durch die bunt gestrichenen Marmorhallen des Palasts zu dem Turm, wo die überlebenden hochwohlgeborenen Priester ihre Bemühungen wieder aufgenommen hatten. Elfische und dämonische Wächter nahmen Haltung an, wenn sie an ihnen vorbeischritten. Varo’then hatte sich ausgiebig mit der Legion beschäftigt und wusste, dass die Schönheit der Königin zwar weder von Mannoroth, noch von Hakkar wahrgenommen wurde, wohl aber von den niederen Dämonen. Ihre Leibwache hatte sogar begonnen, andere ihrer Art mit Misstrauen und Eifersucht zu betrachten.

Selbst die Dämonenlords taten gut daran, die Herrscherin der Nachtelfen nicht zu unterschätzen.

Zwei Teufelsbestien bewachten die äußere Tür. Die Tentakel der hundeartigen Dämonen zuckten der Leibgarde entgegen.

Sofort bildeten die Teufelswächter eine schützende Wand zwischen Azshara und den Hunden. Teufelsbestien entzogen Lebewesen Magie, so wie Insekten Blut saugten, und Azshara hatte große magische Kräfte, auch wenn sie nicht so aussah. Für die Kreaturen wäre sie ein Festmahl gewesen.

Varo’then zog bereits seine eigene Waffe, als Azshara sanft seine Wange berührte und sagte: „Nein, geliebter Captain.“

Sie winkte die Wächter zur Seite und ging auf die Teufelsbestien zu. Sie ignorierte die gefährlichen Tentakel, kniete vor den beiden nieder und lächelte.

Eines der Monster rieb sofort seinen ausgestreckten Kopf an ihrer Hand. Der andere Dämon öffnete sein Maul und zeigte Reihen scharfer Zähne. Seine Zunge hing an der Seite heraus. Beide benahmen sich in Azsharas Gegenwart wie drei Tage alte Nachtsäbler.

Die Königin streichelte die Häupter der beiden Monster und drückte sie dann zur Seite. Die Teufelsbestien gehorchten, setzten sich vor der Wand auf die Hinterpfoten und sahen aus, als erhofften sie sich eine kleine Leckerei.

Der Captain steckte seine Waffe wieder weg. Nein, niemand tat gut daran, seine geliebte Königin zu unterschätzen.

Die Tür öffnete sich, als Azshara an den Teufelsbestien vorbei schritt. Varo’then, der unmittelbar hinter ihr ging, sah, wie Mannoroth über seine Schulter blickte, als er die Neuankömmlinge bemerkte. Der Captain glaubte, große Sorge im Mienenspiel des Dämons zu erkennen. Mannoroth schien sich nicht gerade auf die Ankunft des großmächtigen Beraters zu freuen.

Als die Nachtelfen den Raum betraten, erkannten sie, dass Archimonde bereits eingetroffen war.

Zum ersten Mal schien Azshara ein wenig die Fassung zu verlieren. Ihr kurzer, erschrockener Laut überraschte Varo’then fast so sehr wie der Dämon selbst.

Archimonde war groß wie Mannoroth, aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Er sah wesentlich besser aus, erinnerte fast schon an die Nachtelfen, über die er sich erhob. Seine Haut war blauschwarz, und Varo’then begriff nach einem Moment, dass er mit den Eredar-Hexenmeistern verwandt sein musste. Er war wie sie gebaut und verfügte sogar über einen ähnlichen, wild peitschenden Schwanz. Sein Körper war völlig unbehaart, sein Kopf gewaltig, seine Ohren ragten lang und spitz nach oben. Seine dunkelgrünen Augen lagen im Schatten einer tiefen Stirn. Er trug Plattenpanzer auf seinen Schultern, seinen Schienbeinen, Unterarmen und seiner Hüfte, sonst fast nichts. Die Linien und Kreise, die auf seinen Körper tätowiert waren, erstrahlten in einem magischen Licht.

„Ihr seid Königin Azshara“, sagte er mit glatter und angenehm modulierter Stimme. Mannoroth klang weitaus gutturaler, Hakkar zischender. „Sargeras gefällt Eure Loyalität.“

Die Nachtelfe errötete leicht.

Sein ruhiger Blick fiel auf Captain Varo’then. „Und der Großmächtige freut sich stets über einen guten Krieger.“

Varo’then berührte mit einem Knie den Boden. „Ich fühle mich geehrt.“

Archimonde schien sein Interesse an den beiden Nachtelfen bereits zu verlieren, denn er wandte sich wieder den Zauberern zu. Ein schwarzer Riss hing in der Mitte des Musters, das sie erschaffen hatten, ein Riss, durch den sich der riesige Dämon gequetscht hatte.

„Haltet durch. Er wird gleich kommen.“

„Wer?“, stieß Azshara hervor. „Sargeras?“

Archimonde schüttelte gleichgültig den Kopf. „Nein, ein anderer.“

Varo’then warf einen Blick auf Mannoroth, der ebenfalls verwirrt wirkte.

Die Ränder des Risses verschwammen plötzlich. Die Hochwohlgeborenen, die das Portal geöffnet hatten, begannen zu zittern, als der Druck stärker wurde. Einige stöhnten auf, brachen aber zu ihrem eigenen Glück nicht zusammen.

Und dann erschien eine Gestalt in den Tiefen des Portals. Sie war kleiner als die Dämonen, strahlte jedoch große Macht aus. Sie stand auf einer Stufe mit Archimonde und Azshara, das erkannte Varo’then bereits, bevor sie den ersten Fuß in seine Welt setzte.

Besser gesagt, den ersten Huf.

Auf zwei Ziegenbeinen bewegte sich der Fremde auf die Dämonen und Nachtelfen zu. Die untere Hälfte seinen Körpers war die eines Tiers. Der unbekleidete Oberkörper war zwar extrem muskulös und so purpurn, dass er beinahe schwarz erschien, erinnerte jedoch stark an den eines Nachtelfen. Das schmale Gesicht wurde von langem blauschwarzem Haar umrahmt. Große, gewundene Hörner standen in deutlichem Kontrast zu den eleganten spitzen Ohren. Der Fremde trug nur einen Lendenschurz, keine sonstige Kleidung.

Erst jetzt bemerkte der Soldat die Augen. Es war eindeutig, dass es sich bei den schwarzen, von roten Linien durchzogenen Kristallen um künstliche Gebilde handelte. Augen, die Varo’then kannte, denn nur ein Wesen hatte solche je besessen.

Captain Varo’then starrte es an, doch den Namen des Wesens sprach Königin Azshara aus, nachdem sie das schmale Gesicht ungläubig betrachtet hatte.

„Lord… Xavius?

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