15

Die Stimme in Illidans Kopf flüsterte Dinge, die er anfangs für undenkbar hielt. Ja, er war eifersüchtig auf seinen Bruder, aber er würde ihm trotzdem niemals ein Leid zufügen. Eher hätte er sich den eigenen Arm abgeschlagen.

Und doch… der Gedanke hatte auch etwas Tröstliches, bot er ihm doch eine Möglichkeit, den Verlust von Tyrande in gewisser Weise wettzumachen. Im tiefsten Inneren glaubte Illidan nämlich immer noch, dass die Priesterin erkennen würde, wie weit er seinem Bruder überlegen war.

Der dichte Nebel, der sich von Zin-Azshari ausdehnte, hob nicht gerade seine Laune. Lord Ravencrest, auf den er in diesem Moment zuging, wirkte ebenfalls unzufrieden. Dazu hatte er auch allen Grund, denn trotz der Fortschritte, die sie errungen hatten, waren Malfurion und Krasus immer noch verschwunden. Und auch Rhonin war noch nicht von der Mission zurückgekehrt, an der er unbedingt hatte teilnehmen wollen. Illidan war davon überzeugt, dass die Nachtelfen ohne die anderen Zauberer überleben konnten. Aber wenigstens den Mensch wünschte er sich zurück. Rhonin war der Einzige, der ihm noch etwas beibringen konnte.

Illidan verbeugte sich tief vor seinem Herrn. „Mylord.“

„Erhebe dich, Zauberer. Du musst für deine Männer und dich selbst die Vorbereitungen zum Aufbruch treffen.“

„Aber Meister Rhonin…“

„Ist vor wenigen Minuten zurückgekehrt und hat mir Bericht erstattet. Seine Schilderungen haben mich davon überzeugt, dass wir sofort aufbrechen sollten. Wir müssen endlich die Dämonen vernichten und die Hauptstadt wieder einnehmen.“

Illidan hatte die Rückkehr des Magiers nicht gespürt. Das überraschte ihn. Er richtete sich auf und sagte: „Wir werden bereit sein.“

Er wollte sich abwenden, aber Ravencrest schüttelte den Kopf. „Ich habe dich noch aus einem anderen Grund zu mir befohlen. Du sollst erfahren, was der Magier entdeckt hat, doch das ist nur für deine Ohren bestimmt.“

Stolz stieg in Illidan auf. „Ich werde niemandem davon erzählen, Mylord, auch nicht der Mondgarde.“

„Zumindest, bis ich dir einen entsprechenden Befehl erteile. Nun höre, was Meister Rhonin zu berichten hatte… und denke gut darüber nach, wenn du das vermagst.“

Der Herr von Black Rook Hold erzählte von den schrecklichen Dingen, die Rhonin und seinem Trupp widerfahren waren. Der Zauberer hörte zuerst ungläubig, dann mit wachsendem Staunen zu. Allerdings reagierte er nicht mit dem Entsetzen, das Lord Ravencrest erwartet hatte. Stattdessen bewunderte Illidan zum ersten Mal die Verwegenheit der Dämonen.

„Das hätte ich nie für möglich gehalten“, sagte er, als der Adlige seinen Bericht beendet hatte. „Wie gut müssen sie die magischen Künste beherrschen.“

„Ja“, antwortete Lord Ravencrest. Er bemerkte Illidans morbide Faszination nicht. „Ihre dunklen und tödlichen Künste. Die dämonische Bedrohung ist damit noch einmal gestiegen. Selbst ihnen hätte ich eine so schreckliche Tat nicht zugetraut.“

Illidan sah das etwas anders. Die Hexenmeister der Dämonen waren so gut, dass ihre Phantasie keine Grenzen kannte. Sie schöpften ihre Fähigkeiten zur Gänze aus und taten alles, um ihr Ziel zu erreichen. Das Ziel an sich war nicht bewundernswert, die Leistungen der Zauberkundigen waren es durchaus.

„Ich wünschte, wir könnten einen Eredar gefangen nehmen“, murmelte er. Der Zauberer hoffte, er könne sich mit einem der Dämonen unterhalten, um herauszufinden, wie sich ihre Magie von der seinen unterschied.

„Einen gefangen nehmen? Sei kein Narr, Junge! Wir müssen sie sofort töten, wenn wir sie sehen – erst recht nach diesen Neuigkeiten. Mit jedem toten Hexenmeister sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns dem gleichen Grauen wie Meister Rhonin und seine Begleiter stellen müssen.“

Illidan unterdrückte die Hochachtung, die er für die Magier fühlte und fügte rasch hinzu: „Natürlich, Mylord. Das ist von größter Wichtigkeit!“

„Fürwahr, das ist es! Das war alles, Zauberer.“

Illidan verbeugte sich und zog sich unverzüglich zurück. Seine Gedanken kreisten aufgeregt um die Dinge, die er gerade erfahren hatte. Die Toten erwecken! Welche phantastischen Fähigkeiten beherrschten die Eredar wohl noch? Die beiden Magier schienen diese Kunst nicht zu beherrschen, sonst hätten sie doch sicherlich die Toten beider Seiten erweckt und gegen die Brennende Legion ins Feld geschickt.

Lord Ravencrest beging einen schrecklichen Fehler. Einen Feind besiegte man am leichtesten, indem man dessen Stärken auskundschaftete und sie den eigenen hinzufügte. Ausgestattet mit dem Wissen der Eredar und seinen eigenen, erprobten Fähigkeiten würde Illidan die Dämonen fast allein hinwegfegen können.

Dann würde Tyrande wohl endlich begreifen, dass er seinem Bruder überlegen war.

„Wenn ich nur von ihnen lernen könnte…“, flüsterte er. Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, sah er sich auch schon nervös um. Solche Worte durfte niemand hören. Doch er war allein, der nächste Soldat stand viele Schritte von ihm entfernt.

Mit frischem Selbstbewusstsein machte sich Illidan auf den Weg zur Mondgarde. Er hatte nachzudenken. Sehr viel nachzudenken.

Der Schatten zog sich von Illidan zurück und machte einen Bogen um Lord Stareyes Zelt. Trotz seiner Hufe bewegte sich der Schatten lautlos über den felsigen Untergrund. Die Wachen, die ihre Runden drehten, bemerkten ihn nicht, auch wenn er dicht an ihnen vorbeiging. Nur wenn er es wünschte, konnten andere ihn wahrnehmen.

Xavius grinste zufrieden. Er hatte nicht nur seinem ruhmreichen Herrn gedient, sondern auch seine eigene Rache eingeleitet. Der Bruder des Druiden war gezeichnet, sein Verfall hatte bereits begonnen. Die Fragen, Zweifel und Sehnsüchte schwelten in ihm. Illidan Stormrage würde sie zu einem Feuer entfachen. Es war nur eine Frage der Zeit.

Der Satyr schlich sich aus dem Lager zum Versteck der anderen. Selbst Archimonde kannte nicht den ganzen Plan, denn der ehemalige Nachtelf hatte nur Sargeras gegenüber Rechenschaft abzulegen. Archimonde und Mannoroth hatten keine Macht über ihn.

Xavius sehnte sich nach dem Tag, an dem Sargeras die Welt betreten würde, denn wenn alles nach Wunsch verlief, würde er es sein, der an der rechten Seite des Dämonenherrschers stand, während Archimonde und Mannoroth vor ihm niederknieten.


Der Schmerz weckte Krasus. Es war ein Schmerz, der durch seinen ganzen Körper loderte. Selbst das Atmen fiel beinahe unerträglich schwer.

„Ruhig, ruhig“, sang eine weibliche Stimme. „Du darfst noch nicht aufstehen.“

Er versuchte seine Augen zu öffnen, doch die Anstrengung war zu groß.

„Wer…?“

„Schlafe, schlafe…“ Ihre Stimme war reinste Musik. Etwas darin ließ den Zauberer vermuten, dass mehr als ein Mensch oder ein Nachtelf dahintersteckte.

Krasus wehrte sich gegen ihren Vorschlag, doch seine Stärke verließ ihn, und er schlief ein. Flugträume mischten sich in seine Gedanken. Er war wieder ein Drache, doch statt der Schuppen war er bunt gefiedert wie ein Vogel. Das interessierte den Magier nicht. Er genoss nur das Gefühl, durch die Lüfte zu gleiten.

Der Traum wollte nicht enden und lockte ihn mit seinen Versprechungen. Doch dann schüttelte jemand Krasus und riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Der Magier wollte den Störenfried verfluchen.

„Krasus! Ich bin es, Malfurion. Wacht auf!“

Der Drachenmagier kam mürrisch zu sich. „Ich bin ja schon hier, Druide.“

„Elune sei Dank. Ich hatte befürchtet, Ihr würdet auf ewig schlummern.“

Jetzt, da er wach war, erkannte Krasus, dass der Nachtelf ihm wahrscheinlich einen großen Gefallen erwiesen hatte. „Ich sollte wohl auch schlafen… zumindest bis unser Gastgeber zurückkehrt.“ Der hagere Magier sah sich um. „Vielleicht schlafe ich ja immer noch.“

Der Raum, in dem sie sich befanden, war groß und sah so merkwürdig aus, dass Krasus ihn näher in Augenschein nehmen wollte. Man hatte ihn aus unzähligen Ästen, Zweigen und anderen Materialien gebildet und mit Lehm abgedichtet. Die Decke war gewölbt. Der einzig sichtbare Eingang war ein Loch in der rechten Wand. Er blickte nach unten und bemerkte, dass seine Schlafstatt ebenfalls aus Ästen bestand. Darauf lag eine weiche Decke aus frischen, miteinander verflochtenen Blättern. Auf einem kleinen Tisch, der aus einem Baumstumpf bestand, lag eine außergewöhnlich große, mit Wasser gefüllte Nussschale. Krasus nahm an, dass das Wasser für ihn gedacht war und trank einen Schluck.

Dann setzte er seine Untersuchung fort. Seine Augen verengten sich, als sich ein Hindernis, das er für eine Innenwand gehalten hatte, als Beginn eines Ganges entpuppte. Durch die Krümmung des Raumes war der Gang beinahe unsichtbar, wenn man nicht direkt davor stand.

„Er ist sehr lang“, sagte Malfurion. „Ich habe einen zweiten, noch größeren Raum gefunden. Dahinter liegen noch zwei Kammern und einige Gänge. An dem Punkt habe ich umgedreht, um zu Euch zurückzukehren.“

„Eine weise Entscheidung.“ Krasus runzelte die Stirn. Sein feines Gehör nahm ein Geräusch von draußen wahr, das er nach einem Moment als Vogelzwitschern identifizierte. Er unterschied die Rufe mehrerer Arten, einige davon waren nahezu einzigartig.

„Was ist da draußen?“

„Das möchte ich nicht sagen, Meister Krasus. Ihr solltet es selbst sehen.“

Seine Neugier war geweckt. Krasus erhob sich und ging zu der Öffnung. Als er sich ihr näherte, wurde das Zwitschern lauter. Es schien, als niste dort draußen jede Vogelart der Welt…

Krasus zögerte und warf einen neuerlichen Blick durch den Raum. Endlich erkannte er, dass ihn seine Umgebung an ein riesiges Vogelnest erinnerte.

Der Drachenmagier ahnte bereits, was er sehen würde, als er den Kopf durch die Öffnung streckte.

Anscheinend nistete tatsächlich jede Vogelart dort im Freien. Wo Krasus auch hinblickte, sah er gewaltige Laub bedeckte Äste, in denen sich Vögel ein Zuhause gebaut hatten. Auf den ersten Blick entdeckte er Tauben, Rotkehlchen, Meisen, Nachtigallen und andere. Es gab Vögel aus kalten und aus tropischen Regionen. Sie waren bunt gemischt und zwitscherten gemeinsam. Es gab Vögel, die Beeren fraßen, solche, die Fische fingen und sogar welche, die andere Vögel töteten. Letztere schienen jedoch zufrieden zu sein mit den Kaninchen und Eidechsen, die sie jetzt an ihre Jungen verfütterten.

Krasus sah nach oben und fand weitere Nester. Die Zweige dieses gewaltigen Baums waren voller Vögel aus allen Teilen der Welt.

Zwischen ihnen sah Krasus Spuren des seltsamen Konstrukts. Der Raum, in dem er und Malfurion sich befanden, war nur einer von Hunderten.

Das „Nest“ dehnte sich wie ein riesiger Ameisenhügel über die Äste aus. Der Magier schätzte, dass man die gesamte Streitmacht der Nachtelfen dort hätte unterbringen können – inklusive der Flüchtlinge. Die Räume wirkten filigran, mussten aber wesentlich robuster sein als sie aussahen. Der Wind, der durch die Äste strich, drückte sie zwar zur Seite, aber sie schwangen nur geschmeidig wieder zurück. Der Drachenmagier berührte den Rand des Eingangs und bemerkte, dass das Material einen stärkeren Zusammenhalt besaß als die Steine einer mächtigen Burg.

Dann blickte er endlich nach unten.

Konnte ein Drache unter Höhenangst leiden? Einen Moment zuvor hätte Krasus noch über diese Vorstellung gelacht. Doch jetzt hielt er sich krampfhaft an den Rändern der Öffnung fest und versuchte zu verarbeiten, was er sah.

„Meister Krasus!“ Malfurion zog ihn vom Eingang zurück. „Ihr wärt beinahe gestürzt. Verzeiht mir, ich hätte Euch vorwarnen sollen.“

Krasus atmete aus und gewann die Kontrolle über seine Sinne zurück. „Alles in Ordnung, mein Freund. Du kannst mich los lassen. Ich weiß jetzt, was mir bevorsteht.“

Krasus kehrte zur Öffnung zurück. Er umklammerte die Ränder und spähte erneut nach unten.

Der Baum und seine Äste erstreckten sich so weit er blicken konnte. Überall saßen oder nisteten Vögel. Krasus kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich, aber er konnte den Erdboden nicht erkennen. Große Wolken zogen vorbei, ein Beweis für die große Höhe, in der sie sich befanden.

Der Nachtelf tauchte neben ihm auf. „Ihr könnt den Boden ebenfalls nicht sehen, oder?“

„Nein, das kann ich nicht.“

„Ich habe noch nie von einem Baum gehört, der so hoch wächst, dass sich der Grund nicht mehr erkennen lässt.“

„Ich schon“, antwortete Krasus, während er in seinen verschütteten Erinnerungen bohrte. „Das ist… das ist G’hanir, der Mutterbaum. Dies ist die Heimstatt aller geflügelten Wesen. Sie befindet sich jenseits der Welt der Sterblichen, ist aber doch ein Teil von ihr, so wie der smaragdfarbene Traum. G’hanir ist der höchste Baum auf dem höchsten Gipfel. Seine Früchte tragen die Samen aller irdischen Bäume.“

Er dachte angestrengt nach. „Dies ist die Heimat unserer Gastgeberin… der Halbgöttin Aviana.“

„Aviana?“

„Ja.“ Eine flüchtige weiße Gestalt, die in ihre Richtung flog, erregte seine Aufmerksamkeit. „Und offenbar ist sie gerade auf dem Weg zu uns.“

Die geflügelte Gestalt wurde rasch größer und entpuppte sich schließlich als gewaltiger Falke, der den Nachtelf und den Drachenmagier überragte. Krasus zog den Nachtelf zurück und gab den Eingang frei.

Der riesige Falke flatterte ins Innere und begann sich zu verwandeln. Seine Beine wurden länger und kräftiger. Die Flügel schrumpften, bis sie zu schlanken, gefiederten Händen wurden. Der Körper veränderte seine Form, wurde weiblicher und humanoider. Der Schwanz verwandelte sich in die Schärpe eines Seidengewands.

Eine schlanke Frau, die dank ihrer runden Augen beinahe menschlich wirkte, betrachtete sie. Ihre Nase war spitz und schmal. Sie hatte ein elfenbeinfarbenes anmutiges Gesicht, und anstelle von Haaren war ihr Kopf von einem dichten Federkleid bedeckt. Ihr Gewand flatterte bei jedem Schritt und enthüllte zwei schlanke, aber mit scharfen Klauen versehene Füße.

„Wach, wach bist du“, sagte sie mit leichtem Stirnrunzeln. „Du solltest ausruhen, ausruhen.“

Krasus verneigte sich vor ihr. „Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Mylady, aber mir geht es gut. Ich kann meine Reise fortsetzen.“

Sie legte den Kopf schräg, so wie es Vögel taten, und sah den Magier strafend an. „Nein, nein… zu früh, zu früh. Bitte setz dich.“

Die beiden sahen sich um und entdeckten zwei Stühle, die aus dem gleichen Material bestanden wie der Rest des Nestes. Malfurion wartete Krasus’ Reaktion ab. Als er sich setzte, folgte er seinem Beispiel.

„Ihr seid die Mutter des Flugs, die Herrin der Vögel, richtig?“, fragte der Drachenmagier.

„Ich bin Aviana, wenn du das meinst.“ Aus großen Augen betrachtete sie Krasus. „Und du bist einer der meinen, einer der meinen, wenn ich Recht habe.“

„Ja, Mylady, ich kenne den Rausch der Lüfte. Meine Seele gehört Alexstrasza…“

„Aaah…“ Die Halbgöttin lächelte mütterlich. „Liebe, liebe Alexstrasza… unser letztes Gespräch liegt lange zurück. Das sollten wir ändern.“

„Ja.“ Krasus wies sie nicht darauf hin, dass dies eine schlechte Zeit für Besuche sei. Er zweifelte nicht daran, dass Aviana genau wusste, was in der Welt geschah und dass sie trotz ihrer scheinbaren Abgehobenheit mit den anderen Halbgöttern und Geistern über ein gemeinsames Vorgehen gegen die Brennende Legion diskutierte.

Die Luftgottheit sah den Nachtelfen an. „Du, du gehörst zu Cenarius…“

„Mein Name ist Malfurion.“

Aviana zwitscherte und klang dabei wie eine Nachtigall. „Natürlich, natürlich ist das dein Name. Cenarius spricht wohlwollend über dich, Junge.“

Der Druide errötete.

Eine Frage brannte auf Krasus’ Zunge, also stieß er hervor: „Mylady, wieso sind wir hier?“

Zum ersten Mal wirkte sie überrascht. „Natürlich, weil du hierher kommen wolltest, wolltest.“

Krasus konnte sich nur noch an den Wurm erinnern, der knapp hinter ihnen auf das Tor zugeschossen war. Er sah den Nachtelf an und bat mit Blicken um eine Erklärung, doch dieser schien noch weniger zu wissen als er. „Ihr sagt, ich hätte uns hierher geschickt?“

Aviana hob eine feingliedrige Hand. Ein bunter Singvogel flatterte durch den Eingang hinein, ließ sich auf ihrem Handrücken nieder und rieb seinen Kopf an ihrem Hals.

„Nur die, die es wirklich wünschen, können hierher gelangen. Dieser Vogel hier hat euch auf den Ästen liegend gefunden, gefunden. Um euch herum lagen die Fleischbrocken eines sehr großen und wohlschmeckenden Wurms. Die Kinder werden sich lange Zeit daran erfreuen.“

Malfurion sah aus, als würde ihm übel. Der Magier nickte. Als er das Bewusstsein verlor, hatte sich das Portal geschlossen und den Wurm in zwei Hälften gespalten.

Krasus ignorierte seinen Ekel und sagte: „Ich bedauere, Mylady, aber wir sind tatsächlich wegen eines Fehlers hierher gelangt. Der Zauber, den ich aussprach, verlief nicht wie gewünscht.“

Ihr kleiner Mund lächelte erneut. „Also möchtest du nicht wieder fliegen, fliegen?“

Krasus verzog das Gesicht. „Es gibt nichts, das ich lieber täte.“

„Dann ist dies, ist dies der Grund eurer Anwesenheit.“

Der Drachenmagier dachte über ihre Worte nach. Seine Sehnsucht nach seiner früheren Existenz hatte anscheinend seinen Zauber beeinflusst. Das hatte Aviana gespürt. „Aber du kannst nichts für mich tun.“

„So traurig, so traurig.“ Die Halbgöttin ließ den Singvogel fliegen. „Aber vielleicht, vielleicht kann ich… wenn du wirklich abreisen möchtest.“

„Das möchte ich.“

„Nun gut, nun gut.“ Aviana zog eine Feder unter ihrem linken Flügel hervor, die von einer silbernen Aura umgeben war. Dann reichte die Himmelsgöttin Krasus diesen Teil ihres Gefieders. Er nahm das Geschenk entgegen und betrachtete es voller Ehrerbietung. Avianas Feder war offensichtlich magisch – aber konnte diese Magie ihm wirklich helfen?

„Lege sie auf deine Brust.“

Krasus zögerte, bevor er die Robe anhob und seine Brust enthüllte. Neben ihm zog Malfurion scharf die Luft ein. Avianas Augen weiteten sich.

„Also, also gehörst du tatsächlich zu den meinen.“

Er hatte die Drachenschuppe völlig vergessen. Sie hatte sich so perfekt in seine Haut eingefügt, dass er sie gar nicht mehr bemerkt hatte. Er fragte sich, ob er mit ihrer Hilfe vielleicht in der Lage gewesen wäre, die Drachenbarriere zu durchbrechen. Aber dann erkannte er, dass Neltharion sie zu diesem Zeitpunkt bereits lückenlos geschlossen hatte. Nur seine eigenen Wachen hatten sie noch überwinden können. Der Erdwächter hatte jede Störung seines Zaubers ausschließen wollen.

„Aber natürlich, natürlich. Umso besser.“

Krasus drückte die Feder gegen einen Teil seiner Brust, den die Schuppe nicht bedeckte und wartete.

Die Feder verschmolz mit ihm, wie es die Drachenschuppe getan hatte. Ihre feinen Daunen lagen flach auf seiner Haut und begannen zu wachsen, sich über seinen Oberkörper auszudehnen.

Malfurion wirkte besorgt, aber Krasus schüttelte den Kopf. Er wusste, was Aviana versuchte. Sein Herz schlug doppelt so schnell wie sonst. Ein Teil von ihm wollte aus dem Nest springen.

„Nein, noch nicht, noch nicht“, warnte die Halbgöttin. „Du wirst spüren, wenn ihr Werk vollendet ist.“

Etwas in seinem Rücken begann zu ziehen. Krasus hörte, wie seine Robe zerriss.

„Da kommt etwas aus Eurem Rücken!“, stieß der Druide hervor.

Krasus wusste bereits, was da aus ihm herauswuchs, bevor sich die großen weißen Flügel auszubreiten begannen. Sie sahen aus wie jene, die Aviana als Vogel getragen hatte. Krasus schlug instinktiv damit und stellte fest, dass sie ihm so vertraut waren wie seine eigenen Schwingen.

„Sie gehören dir für diese Reise, diese Reise.“

Der Drachenmagier betrachtete seinen Begleiter. „Was ist mit ihm?“

„Er wurde nicht für den Himmel geboren, geboren. Er könnte es lernen, ja, lernen. Zu langwierig, langwierig. Du musst ihn tragen, tragen.“

Krasus bezweifelte, dass er in seiner gegenwärtigen Gestalt die Kraft für die lange Reise aufbringen würde. Diese Sorge sprach er aus. Ihre Gastgeberin ging jedoch nicht darauf ein.

Stattdessen zog sie eine einzelne Strähne aus einer Feder. Sie legte sie an die Lippen und blies sie Malfurion sanft entgegen. Der Druide wirkte unsicher, blieb jedoch stehen, während ihm die winzige Feder entgegenschwebte.

Sie berührte seine Schulter und blieb dort hängen. Malfurion schüttelte sich, dann bewegte er neugierig Arme und Beine.

„Ich fühle mich – “ Er sprang hoch und wäre beinahe gegen die Decke geprallt. Ein kindisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er wieder den Boden berührte.

Die Vogelgottheit lächelte, dann kehrte ihr Blick zu Krasus zurück. „Er wird keine Last für dich sein, keine Last.“

„Ich…“ Krasus fehlten die Worte. Erst jetzt begriff er, wie sehr er das Fliegen vermisst hatte. Eine Träne löste sich aus seinem Auge. Er ging vor Aviana auf die Knie und sagte: „Danke…“

„Kein Grund zur Dankbarkeit, kein Grund.“ Mit einer Handbewegung bat sie ihn, sich zu erheben, dann führte sie beide zum Ausgang. „Du wirst fliegen, fliegen. Zu diesem hohen Ast, dann nach rechts, rechts. Durch die Wolken und dann hinab. Mach dich auf den Weg, auf den Weg.“

„Was ist mit der Feder? Wie – “

Sie legte einen Finger auf die Lippen des Magiers. „Still, still. Sie wird es spüren, spüren.“

Malfurion trat neben Krasus. Aviana wurde ernster und sagte zu dem Druiden: „Dein shan’do lässt dir ausrichten, dass er bei dir ist, bei dir ist. Wir ignorieren die Gefahr nicht, nicht. Unser Wille, unser Wille ist stark…“

„Danke. Das gibt mir Hoffnung.“

„Das gibt uns allen Hoffnung“, fügte Krasus hinzu. „Wenn wir nur etwas wegen der Drachen unternehmen könnten.“

Sie stimmte zu. „Ja. Auch wir verstehen nicht, was dort geschieht, geschieht.“

Ihre beiden Besucher sahen sich an. Dann sagte Krasus. „Sie haben einen Plan, aber es existiert eine Bedrohung, die – “

Sein Mund fühlte sich plötzlich an, als sei er voller Watte. Seine Zunge zuckte. Aviana wartete, aber Krasus konnte nicht weitersprechen.

Die Halbgöttin hielt seine Stille für Verschwiegenheit und nickte respektvoll. Dann bat sie den Drachenmagier, durch die Öffnung zu treten.

Krasus folgte der Aufforderung und sprang förmlich in den Himmel. Die Flügel reagierten sofort und hoben ihn hoch. Vögel begannen zu zwitschern und zu singen, hießen ein neues geflügeltes Wesen willkommen.

Seine Freude ließ Krasus für einen Moment Malfurion und seine Mission vergessen. Das Gefühl, endlich wieder eigene Flügel zu besitzen, war so spektakulär, dass er zuerst eine Runde durch die Äste drehen musste, bis sein Verstand sich meldete.

Ein wenig reumütig kehrte der Magier schließlich zu Aviana und dem Druiden zurück. Der Nachtelf sah ihn ehrfürchtig an, während die Halbgöttin ihn wie eine stolze Mutter anlächelte. Sie bedeutete dem Druiden, das Nest ebenfalls zu verlassen, und nach kurzem Zögern folgte er ihrer Aufforderung.

Krasus schwebte hinter ihn und hob ihn an den Schultern empor. Malfurion war fast schwerelos.

„Ist es angenehm so?“, fragte der Magier.

„Erst wenn meine Füße wieder den Boden berühren, wird irgendetwas angenehm sein“, murmelte Malfurion. „Doch bis dahin muss es wohl gehen, Meister Krasus.“

„Dann geht, geht“, sagte Aviana. An Krasus gewandt fügte sie hinzu: „Und wenn das Ende deiner Tage gekommen ist, mein Junge, wird dein Nest bereit sein, bereit sein.“

Krasus erbleichte. Er betrachtete die endlosen Reihen der Vögel, die vielen Arten, die zusammenlebten, obwohl das eigentlich undenkbar schien.

Und er erkannte, dass sie nur deshalb zusammenlebten, weil sie nicht mehr lebten. Die Halbgöttin hatte ihre Seelen hierher gebracht. Irgendwo gab es wohl größere Flugwesen, so wie das Hippogriff, das getötet worden war… und natürlich auch Drachen, die das Ende ihrer Tage erreicht hatten.

„Geht nun, geht“, sagte die weiße Gestalt. „Du wirst zeitig genug zurückkehren, zurückkehren…“

Krasus war noch nie zuvor so überrascht worden. Er schluckte. „Ja, Mylady… ich danke Euch.“

Ihr Lächeln beruhigte ihn nicht.

Krasus stieg einige Meter empor und blickte in die Richtung, die Aviana ihm genannt hatte. Dann verlieh er dem nervösen Malfurion einen festeren Halt und flog los.

Als sie an Geschwindigkeit gewannen, fragte der Nachtelf: „Was hat sie damit gemeint, dass du zurückkehren würdest?“

„Wir sterben alle eines Tages, Malfurion.“

„Wir…“ Der Druide schüttelte sich, als er die Wahrheit begriff. „Du meinst… all das…?“

„All das.“ Krasus wollte nicht mehr dazu sagen, sondern blickte stattdessen neugierig zurück zum Nest. Seine Augen weiteten sich, als ihm klar wurde, wie wenig er davon gesehen hatte. Zum ersten Mal konnte er die gewaltige Struktur in ihrer Gesamtheit überblicken. Sie breitete sich nach allen Richtungen aus. An jeder Kreuzung befand sich eine riesige gewölbte Höhle, von der weitere Gänge abzweigten. Der Drachenmagier betrachtete die ganze Konstruktion, dann den Baum, neben dem sie winzig wirkte. Hoch oben bemerkte er geflügelte, nicht genauer zu erkennende Wesen.

Und dann, noch während er in den Anblick vertieft war, tauchten sie in die Wolken ein.

Загрузка...