Korialstrasz prallte so hart wie er nur konnte mit Neltharion zusammen. Er zielte dabei auf die Körperteile, die am wenigsten gepanzert waren. Gleichzeitig richtete er einen Feuerstoß auf die Augen des wahnsinnigen Aspekts.
Es gelang ihm zwar, den Erdwächter zu überraschen, doch die Scheibe hielt Neltharion weiterhin fest. Der schwarze Drache umklammerte sie förmlich. Sogar als er durch die Luft geschleudert wurde, achtete er darauf, seine geliebte Schöpfung nicht zu verlieren.
Korialstrasz zischte frustriert. Allein hatte er keine Chance gegen den wesentlich größeren Drachen. Außerdem spürte er, wie die Scheibe, die Krasus so treffend als Dämonenseele bezeichnet hatte, an ihm zerrte. Er wusste, dass ihn der Erdwächter ebenso versklaven konnte wie die anderen Drachen.
Trotzdem zog sich Alexstraszas Gefährte nicht zurück. Er hatte seine Entscheidung getroffen und würde bis zum Tode kämpfen. Vielleicht gelang es ihm, wenigstens seine Gefährtin zu retten.
Neltharion hatte sich noch nicht wieder gefangen, als Korialstrasz ihn erneut rammte, mit dem Kopf nach dem Bauch des Drachen schlug. Der Aspekt schnappte nach Luft. Seine Tatze öffnete sich… und die Scheibe stürzte in die Tiefe.
„Nein!“, schrie Neltharion. Kraftvoll stieß er den anderen Leviathan zur Seite und folgte der Scheibe. Neltharion legte die Schwingen an, tauchte hinter ihr her und fing sie nach kurzer Zeit wieder ein.
Er richtete sich auf und schrie den kleineren Drachen wutentbrannt an: „Wie kannst du es wagen!“
Korialstrasz wollte sich drehen, war jedoch zu langsam. Entsetzt sah er, wie Neltharion die Scheibe gegen ihn richtete.
„Du wirst mir deine Kehle darbieten!“
Der Lichtblitz überwältigte Korialstrasz. Er glaubte zu verbrennen, fürchtete, seine Schuppen würden schmelzen und seine Knochen zu Asche zerfallen. Er schrie seine Qual hinaus.
Dennoch warf er sich nach vorne, nicht etwa zurück. Er kämpfte gegen den Schmerz und flog auf Neltharion zu. Der Erdwächter brüllte frustriert. In seinem Wahnsinn hatte er sich dafür entschieden, seinen Gegner zu zerstören, nicht zu versklaven. Das rächte sich nun.
Sie prallten zusammen. Auf diese kurze Entfernung ließ sich die Scheibe nicht so gut einsetzen, wie Neltharion geglaubt hatte. Beide Drachen kämpften mit Klauen und Zähnen. Korialstrasz behauptete sich, so gut es ging.
Neltharion schnappte nach seiner Kehle. Der Rote atmete ein und spie dem Erdwächter einen Feuerstoß mitten ins Gesicht. Dieses Mal zeitigte der Angriff Erfolg. Der schwarze Drache wich zurück. Sein Kopf rauchte.
Doch Korialstrasz’ Sieg war nicht von langer Dauer. Neltharion flog aus seiner Reichweite, presste die Dämonenseele gegen seine Brust und grinste seinen Gegner an.
„Du amüsierst mich nicht mehr, junger Korialstrasz. Du bist nur eine Motte für mich, ein Insekt, das ich zerquetsche. Die Sklaverei ist zu gut für dich…“
Die Scheibe begann hell zu leuchten. Ihre goldene Aura hüllte Neltharion ein. Sein irres Gelächter zeugte von seinem Wahnsinn. Die Augen des Erdwächters glitzerten. Er schien größer zu werden.
„Ein Insekt!“, wiederholte er beinahe fröhlich. „Ihr alle seid für mich nur Insekten.“
Der schwarze Drache bebte, als stünde er kurz vor einer Explosion. Mit seiner freien Tatze zeigte er auf den Boden weit unter sich.
Die Erde erzitterte. Dämonen und Nachtelfen flohen vor den Vulkanen, die plötzlich ausbrachen. Lava schoss hoch in den Himmel und regnete auf jene herab, die nicht schnell genug gerannt waren. Neltharion hatte einst geschworen, die Kräfte der Erde weise zu nutzen. Jetzt setzte er sie ein, um sinnlos zu morden. Vor Korialstrasz’ Augen pervertierte der Erdwächter die Aufgabe, für die er gelebt hatte. Er verwandelte sich in das Gegenteil eines Aspekts.
Seine Gräueltaten schienen ihn auch äußerlich zu verändern. Ein Spalt erschien in seiner Brust. Schuppen zerrissen, als seien sie aus Papier. Es floss kein Blut aus den Wunden, nur reines Feuer. Ein zweiter Riss öffnete sich in der Brust, ein dritter auf dem Rücken.
Die Wunden breiteten sich wie eine schreckliche Seuche über seinen ganzen Körper aus. Korialstrasz glaubte, die Schmerzen zu spüren, die der Schwarze erleiden musste, aber Neltharion selbst schien nichts davon zu bemerken. Er schien die Veränderungen sogar zu genießen. Seine Augen brannten mit der Macht der Scheibe. Er lachte, während er das Land unter sich verheerte.
Korialstrasz sammelte sich und konzentrierte sich auf seinen wahrscheinlich letzten Angriff. Er flog auf Neltharion zu und bereitete sich auf seinen Tod vor. In Gedanken entschuldigte er sich bei Krasus, der im gleichen Moment sterben würde.
Neltharion war zwar mit seiner mörderischen Aufgabe beschäftigt, bemerkte aber dennoch die Rückkehr seines Gegners. Er lächelte herablassend und richtete die Dämonenseele gegen Korialstrasz.
Die Kraft der Scheibe schleuderte den roten Drachen dem Erdboden entgegen. Er versuchte, seinen Sturz zu bremsen, aber die Dämonenseele ließ es nicht zu.
Mit ohrenbetäubendem Krachen schlug er auf. Doch Neltharion ließ ihn immer noch nicht los. Er schien Korialstrasz zermalmen zu wollen.
Plötzlich erschien eine Aura aus knisternder blauer Energie rund um den Erdwächter. Er zischte und presste die Dämonenseele gegen seine Brust. Wütend drehte er sich um, suchte die Ursache seiner unerwarteten Gefangenschaft.
Korialstrasz blinzelte seine Tränen weg. Über ihm bewegten sich Gestalten auf Neltharion zu.
Die anderen Drachen waren frei. Durch den Kampf gegen Alexstraszas Gefährten und die Attacken, die er gegen die Nachtelfen und Dämonen geführt hatte, musste Neltharion den Überblick verloren haben. Der Zauber, der seine Sklaven an ihn band, war geschwächt worden. Dieser Fehler war Kalimdors letzte Hoffnung.
Eine Gruppe löste sich von den anderen. Wütende blaue Drachen umflatterten den gefangenen Aspekt. An ihrer Spitze flog einer, der den Erdwächter bis zu dem Moment von dessen Verrat mehr als jeder andere unterstützt hatte.
„Neltharion!“, brüllte Malygos. „Mein Freund Neltharion. Was ist nur aus dir geworden? Das Ding, das du erschaffen hast, wird dich vernichten. Gib es mir, damit ich seinen Fluch brechen kann.“
„Nein!“, schrie Neltharion zurück. „Du willst die Scheibe haben! Ihr alle wollt sie haben! Ihr wisst, welche Macht ihr durch sie erlangen könnt. Sie könnte euch alle in Götter verwandeln!“
„Neltharion – “
Weiter kam Malygos nicht. Der schwarze Drache zischte. Flammen schlugen aus seinem Körper. Die goldene Aura, die ihn und die Scheibe umgab, sprengte das Gefängnis der blauen Drachen auf.
„Du lässt uns keine Wahl, alter Freund“, seufzte Malygos und flog dem anderen Aspekt entgegen. Die sie umgebenden Blauen bereiteten sich auf ihren Angriff vor. Kein anderer Clan war mit den Besonderheiten der Magie so vertraut wie sie. Hier endlich, glaubte ein geschwächter Korialstrasz zu erkennen, würde Neltharions Verrat sein Ende finden.
Wie ein Wolfsrudel umkreisten die blauen Drachen ihren Gegner. Eine tiefblaue Aura umgab Malygos.
„Diese Obszönität hätte niemals entstehen dürfen“, sagte der Zauberer zu Neltharion. „Leider war ich maßgeblich an der Schöpfung beteiligt – daher ist es nur fair, wenn ich sie auch wieder tilge.“
Ein Pfeil aus weißem Licht schoss der Scheibe entgegen. Malygos hatte nicht gelogen: Er wollte die Dämonenseele im wahrsten Sinne des Wortes auslöschen. Alles, was der Pfeil berührte, hörte auf zu existieren. Es gab keinen Nebel mehr und keinen Himmel, nur ein weißes Nichts. Der Himmel kehrte nach nur wenigen Sekunden zurück, doch die Scheibe würde auf ewig verschwinden.
Zumindest hätte sie das tun sollen, aber weder Korialstrasz, noch einer der anderen Drachen würde je erfahren, ob Malygos’ Zauber dies auch tatsächlich vollbracht hätte. Der Pfeil war noch Sekundenbruchteile von der Dämonenseele entfernt, als Neltharion ausspuckte. Sein Speichel wurde zu einer schwarz leuchtenden Kugel, die auf den Pfeil traf. Funken sprühten… und dann verschwand beides.
Malygos schrie wütend und forderte seinen Clan mit einer Geste zum Kampf auf.
Doch Neltharion war schneller. Der weiße Pfeil hatte sich noch nicht vollständig aufgelöst, da richtete der Aspekt bereits die Dämonenseele auf seine Gegner. Dieses Mal schoss kein goldenes Licht aus ihr hervor, sondern ein diffuses Grau.
Malygos erschuf einen Schild aus Rauch, der ihm aber wenig nützte. Das graue Licht schleuderte ihn so hart zurück, dass er schreiend über die Hügel und bis hinter den Horizont geworfen wurde.
Für seine Gefährtinnen und Anhänger hatte sich Neltharion ein schlimmeres Schicksal ersonnen. Gleichzeitig begannen sie auszutrocknen wie Wasserschläuche in der Sonne. Ihre Schreie waren entsetzlich. Sie wehrten sich gegen den Angriff, aber keiner von ihnen konnte dem grauen Licht entrinnen.
Die anderen Drachen versuchten ihnen zu helfen, doch sie kamen zu spät. Die sterbenden blauen Drachen waren nur noch vertrocknete Hüllen. Die Dämonenseele hatte ihnen die Lebenskraft und die Magie entzogen. Sie zerfielen zu Staub und wurden vom Wind davongetragen.
„Nein…!“, stieß Korialstrasz hervor. Er versuchte aufzustehen. Die Welt begann sich zu drehen, und er brach wieder zusammen. Unter ihm zerpulverte der Fels. „Nein…“
„Narren!“, knurrte der Erdwächter ohne einen Hauch von Reue. „Ich habe euch oft genug gewarnt. Ich bin euch überlegen! Alles gehört mir! Es gibt nur Leben, weil ich es erlaube!“
Er warf einen kurzen Blick in die Richtung seiner Gegner, dann schickte er ihnen einen Wirbelsturm, der sie so haltlos durcheinander warf, als seien sie Spielzeug. Selbst Alexstrasza und Ysera konnten sich nicht dagegen wehren und wurden mit den anderen davon gerissen. Hilflos und taumelnd legten sie die Meilen zurück. Kein einziger Drache entkam Neltharions Zauber.
Der monströse Leviathan, dessen Körper aufgedunsen und voller brennender Wunden war, wandte sich wieder den Nachtelfen und deren Gegnern zu. „Und ihr! Nichts habt ihr begriffen! Aber das werdet ihr! Das werdet ihr!“
Er lachte. Mit seiner freien Tatze griff er nach einem Riss in seiner Haut. Erst jetzt schien er die schrecklichen Veränderungen zu bemerken. Ehrfürchtig staunend betrachtete er seinen Körper. Dann sah er sein Publikum an. „Wir werden bald sehen, wer es wert ist, in meiner Welt zu leben. Ich überlasse euch eurem kleinen Krieg… ihr werdet darum kämpfen, wer überleben und mir huldigen darf.“
Nach einem letzten wahnsinnigen Gelächter wandte sich der schwarze Riese ab und flog davon.
Korialstrasz war froh, dass der Erdwächter seinen irrsinnigen Vernichtungsfeldzug nicht fortgesetzt hatte. Zugleich wusste er aber auch, dass das Schicksal ihnen nur eine Atempause gönnte. Neltharion schien die Veränderungen seines Körpers zwar einerseits zu erstaunen, andererseits hatte er aber wohl auch begriffen, dass er etwas gegen die Kräfte unternehmen musste, die ihn auseinander rissen. Der geschwächte Korialstrasz ahnte, dass der Schwarze schon bald eine Lösung finden und die Erschaffung seiner Welt fortsetzen würde.
Er versuchte erneut aufzustehen, aber sein Körper gehorchte ihm noch immer nicht. Hoffnungsvoll blickte er in den nebligen Himmel, fand aber keinen Hinweis auf Alexstrasza und die anderen Drachen. Besorgt fragte er sich, ob sie wohl ein ähnliches Schicksal wie Malygos’ Clan erlitten haben mochten. In Gedanken sah er seine Königin leblos in einer kargen Berglandschaft liegen. Eine Träne löste sich aus seinem Auge. Doch selbst diese furchtbare Vorstellung mobilisierte nicht die verschütteten Kräfte seines Körpers.
Ausruhen… muss mich ausruhen… dann Krasus finden…er wird wissen, was zu tun ist…
Der rote Gigant ließ seinen Kopf zur Seite fallen. Er brauchte nur einige Minuten Ruhe. Dann konnte er sich wieder in die Lüfte erheben.
Doch wenig später nahm sein feines Gehör neue Geräusche wahr. Er erkannte sofort, worum es sich handelte.
Es war Schlachtenlärm.
Die Dämonen griffen wieder an.
Ein Alptraum. Krasus steckte inmitten eines furchtbaren Alptraums. Er und Malfurion waren an einem Punkt angelangt, von dem aus sie zwar nicht die Schlacht, aber wenigstens die Ereignisse am Himmel verfolgen konnten.
Krasus musste mit ansehen, wie sein Volk einer einzigen, wahnsinnigen Kreatur zum Opfer fiel.
Er hatte beobachtet, wie sein jüngeres Ich mutig, aber leider auch sinnlos, dem Aspekt entgegengetreten war. Der Kampf war so ausgegangen, wie er es erwartet hatte, obwohl er auf seine eigenen Erinnerungen so gut wie nicht zugreifen konnte. Sein Herz hatte einen Schlag ausgesetzt, als er Korialstrasz’ Sturz beobachtete. Zwar hatte er den Schmerz gespürt, wusste aber auch, dass der Rote überlebt hatte. Das war zumindest ein kleiner Erfolg.
Es war schlimm, dass so viele Nachtelfen durch Neltharions Hand gestorben waren, aber für Krasus war es kein Vergleich zum Schicksal der Drachen. Er wusste, dass Malygos den Verlust seines Clans nicht verkraften und in seinem eigenen Wahnsinn versinken würde. Der fröhliche Riese gehörte der Vergangenheit an. An seine Stelle würde eine gefährliche, in sich selbst gekehrte Bestie treten.
Dass der letzte Angriff die anderen Drachen bis hinter den Horizont geschleudert hatte, traf Krasus schwer. Immer wieder sagte er sich, dass es Alexstrasza gut ging, dass die meisten Drachen diese Reise um die halbe Welt überstehen würden. Die Geschichte gab ihm Recht, doch sein Herz behauptete das Gegenteil.
Er drängte sich an Malfurion vorbei und versuchte verzweifelt, sich zu verwandeln. Er war jetzt älter und weiser, erfahrener. Er würde eine größere Chance im Kampf gegen Neltharion haben. Der Drachenmagier wollte die Transformation erzwingen, wollte endlich wieder er selbst werden…
Doch stattdessen stolperte er nur und fiel mit dem Gesicht nach vorne in den Dreck. Dort blieb er liegen. Das Gefühl, versagt zu haben, überwältigte ihn.
„Meister Krasus!“ Malfurion hob ihn hoch.
Der Drachenmagier war beschämt über sein Scheitern und verbarg seine Gefühle hinter einer emotionslosen Maske. „Es geht mir gut, Druide.“
Der junge Nachtelf nickte. „Ich verstehe ein wenig von dem, was Ihr durchmacht.“
Krasus wollte ihm wütend entgegnen, dass er das unmöglich verstehen konnte, erkannte jedoch rechtzeitig, wie dumm eine solche Bemerkung gewesen wäre. Natürlich verstand Malfurion es. In diesem Moment starben schließlich unweit entfernt die Angehörigen seines Volkes, vielleicht sogar Freunde.
Plötzlich sah sein Begleiter auf. „Gelobt sei Cenarius! Wir haben Glück.“
Glück? Krasus folgte seinem Blick und entdeckte Tyrande, die ihnen mit zwei weiteren Schwestern und zwei gesattelten reiterlosen Nachtsäblern entgegenritt.
Sie zügelte ihr Reittier vor ihnen, sprang ab und umarmte Malfurion, ohne zu zögern. Die anderen Schwestern sahen höflich zur Seite. Krasus bemerkte, wie respektvoll sie sich gegenüber Tyrande verhielten, obwohl sie deutlich älter wirkten.
„Dank sei Mutter Mond!“, stieß sie hervor. „Nach allem, was heute passiert ist und nach Korialstrasz’ Niederlage fürchtete ich schon, du seiest – “
„Ähnliches fürchtete auch ich umgekehrt“, antwortete der Druide.
Krasus’ Herz zog sich zusammen. In seinem Geiste sah er nicht die beiden Nachtelfen, sondern sich selbst und Alexstrasza. Doch zu dieser Begegnung würde es nur kommen, wenn sie die Brennende Legion und Neltharion aufhielten.
„Wir müssen weiter“, sagte er. „Wir müssen die Dämonen stoppen. Erst dann können wir uns um den Erdwächter kümmern.“
Malfurion und Tyrande trennten sich zögernd. Dann stiegen sie und Krasus auf ihre Nachtsäbler und ritten mit den anderen in Richtung der Schlacht. Sie hörten die Schreie und das Waffenklirren lange bevor sie auf das erste Blutvergießen stießen. Die Schlacht hatte sich so schnell gewendet, dass sogar Tyrande und die Schwestern überrascht waren.
„Die Front sollte nicht so nahe sein“, merkte eine von ihnen an. „Die Linien brechen in sich zusammen.“
Die andere nickte und wandte sich an Tyrande. „Herrin, wir müssen einen anderen Weg finden. Der, auf dem wir gekommen sind, ist in Feindeshand.“
Krasus und Malfurion bemerkten die ungewöhnliche Anrede, konnten jedoch über ihre Bedeutung nur spekulieren. Tyrande trug zu dem Rätsel bei, als sie dem Vorschlag wie eine Kommandantin zustimmte. „Wähle den Weg, der dir am besten erscheint.“
Sie ritten weiter und versuchten die Streitmacht auf anderen Pfaden zu erreichen. Der Weg, auf den sie schließlich stießen, brachte sie jedoch gefährlich nahe an die Front. Eine Alternative schien es nicht zu geben. Sie hätten die Armee zwar an der Rückseite umgehen können, doch das hätte Stunden gedauert.
Während des Ritts beobachtete Krasus den Verlauf der Schlacht. Die Dämonen glaubten wohl immer noch, sie könnten die Welt für ihren Herrn erobern. Dabei würde Neltharion sie wahrscheinlich ebenso auslöschen wie die Nachtelfen. Archimonde wollte die Schlacht vermutlich so schnell wie möglich beenden und sich dann dem schwarzen Drachen stellen. Krasus wusste nicht, wie er sich diesen Kampf vorstellte, aber der Dämonenlenker war ein guter Taktiker. Und da die Zukunft längst nicht mehr in Stein gemeißelt war, konnte alles passieren.
„Hier lang“, sagte die Priesterin, die die Führung übernommen hatte. Sie leitete ihr Reittier über einen Pfad, der an einer Hügelseite hinablief und hinter einer Kurve verschwand.
Die anderen folgten ihr rasch. Sie wussten, dass jede Sekunde zählte. Doch als sie den Hügel umrunden wollten, rief Malfurion: „Vorsicht!“
Die Schlacht schien aus dem Nichts vor ihnen aufzutauchen. Verzweifelte Soldaten wichen vor grinsenden Dämonen zurück. Die Reiter wären beinahe mit ihnen zusammengestoßen. Und dann standen sie plötzlich vor dem Feind.
Die Schwester, die an der Spitze ritt, versuchte einer brennenden Dämonenklinge auszuweichen, doch sie war nicht schnell genug. Das gewaltige Schwert schnitt tief in ihre Schulter und in ihren Hals. Lautlos brach sie zusammen. Ihr Nachtsäbler tötete zwar den Dämon, doch für seine Reiterin kam jede Hilfe zu spät.
„Herrin!“, rief eine andere Schwester. „Zurück!“ Sie schlug auf eine Teufelswache ein und versuchte, sie von Tyrande abzulenken.
Doch die scheute nicht den Kampf. Mit einer Leidenschaft, die Krasus an sein eigenes Volk erinnerte, kam sie der Priesterin zu Hilfe und bohrte ihre Klinge in einen Dämonenkörper. Die Teufelswache brach zusammen. Die Front der Verteidiger verdichtete sich wieder.
„Wir müssen Rhonin und Lord Ravencrest finden!“, drängte Krasus.
Sie versuchten weiterzukommen, wurden jedoch von Freund und Feind zugleich zurückgedrängt. Krasus sprach einen Zauber, der die am Boden liegenden Waffen belebte und der Brennenden Legion entgegenschickte. Zahlreiche Dämonen kamen durch die Angriffe der Nachtelfen und die verzauberten Klingen ums Leben.
Der Einsatz der Magie schwächte Krasus unerwartet schnell. Die Verletzungen seines jüngeren Ichs wirkten sich auch auf seine Kraft aus. Über die Verbindung, die zwischen ihnen bestand, zog er Lebensenergie von dem Drachenmagier ab.
Malfurion hatte dieses Problem nicht. Er erschuf einen Sandsturm, der die Brennende Legion blendete. Die Soldaten töteten die verwirrten, wild um sich schlagenden Dämonen mit Leichtigkeit.
Krasus richtete seine Aufmerksamkeit auf den Kampf, der sich vor ihm abspielte, nicht auf den Himmel. Nach Neltharions Auftritt nahm er nicht an, dass dort oben noch Gefahren lauerten.
Doch als er ein hohes Kreischen hörte und einen rasch größer werdenden Schatten bemerkte, blickte er dann doch in die Höhe – und hatte gerade noch Zeit, seinen Leichtsinn zu verfluchen.
Dann schlugen die beiden Höllenbestien in der Nähe ein.
Chaos brach aus.
Der Einschlag der Dämonen hatte schreckliche Konsequenzen. Das Erdbeben riss alle von den Beinen. Soldaten schrien, als sie von Felsen getroffen und von Drecklawinen verschüttet wurden. Tyrandes Reittier wurde von einem großen Stein getroffen und stürzte. Die Priesterin brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit, landete jedoch inmitten der Dämonen. Die zweite Schwester wollte nach ihr greifen, aber eine Flammenklinge durchbohrte ihr Herz. Malfurion streckte ebenfalls die Hand aus. Im gleichen Moment stürmte einer der Dämonen aus dem Krater, den er selbst erschaffen hatte, und warf sich gegen den Nachtsäbler des Druiden.
Krasus konnte ihm nicht helfen. Der Drachenmagier hing halb bewusstlos im Sattel. Er war von einem Stein am Kopf getroffen worden. Sein Nachtsäbler war durch das Erdbeben in Panik geraten und galoppierte davon.
Malfurion sprang von seinem Tier. Die Höllenbestie lief an ihm vorbei. Ein Opfer reichte ihr nicht. Sie strebte ein größeres Blutvergießen an.
Der Druide kämpfte sich durch die desillusionierten Soldaten, bis er Tyrande entdeckte. Sie kniete am Boden, hatte eine Hand auf ihren Kopf gelegt. Ihr Helm lag neben ihr, eine Seite war stark eingedrückt. Wie durch ein Wunder hatte die Priesterin überlebt.
„Tyrande!“, rief er und streckte ihr seine Hand entgegen. Einen Moment starrte sie verwirrt darauf, dann legte sie ihre Hand in seine. Malfurion zog sie hoch und fort aus dem schlimmsten Schlachtgetümmel.
Tyrande stützte sich schwer auf ihn, während er nach einem Platz suchte, an dem sie wenigstens vorübergehend in Sicherheit waren. Malfurion fühlte sich schuldig, weil sie verletzt worden war, auch wenn er wusste, dass dies zu jedem anderen Zeitpunkt der Schlacht hätte passieren können.
Er lenkte sie den Hügel hinauf. Auch hier war es nicht sicher, denn am Fuß der Erhebung kämpften Nachtelfen und Dämonen bereits gegeneinander. Im Moment gab es jedoch keinen besseren Ort.
Einige Grünpflanzen klammerten sich in den Hügeln noch an ihr Leben. Der Druide berührte eine und bat sie um ihre Feuchtigkeit. Er legte die grünen Blätter an Tyrandes Lippen und flößte ihr ein wenig Wasser ein.
Sie stöhnte. Er bettete sie sanft auf den Boden und stützte ihren Kopf mit seiner Armbeuge. „Ganz ruhig, Tyrande.“
„Malfurion… was ist mit den anderen?“
„Alles in Ordnung“, log er. „Ruhe dich ein wenig aus. Du hast dir den Kopf gestoßen.“
„Hel’jara! Sie… die Klinge hat sie durchbohrt!“
Malfurion fluchte leise. Wenn sie sich jetzt schon an den Tod der Schwester erinnern konnte, würde ihr der Rest auch bald wieder einfallen. „Versuche dich zu entspannen.“
Er selbst spannte sich jedoch an. Er spürte, dass ihn jemand beobachtete.
Der Druide drehte sich um. Er glaubte, einen Schatten zu erkennen und ballte die Hand zur Faust. War ihnen ein Angreifer gefolgt?
„Tyrande“, flüsterte er. „Ich muss mit Krasus reden. Er ist nicht weit entfernt. Ruhe du dich noch aus.“
Sie schien zu merken, dass etwas nicht stimmte, konnte es aber nicht einordnen. Er hoffte, dass sie nicht allzu bald wieder zu sich fand und sich daran erinnerte, dass der Magier von ihnen getrennt worden war. Malfurion legte ihren Kopf sanft auf einige Blätter, dann schlich er sich davon.
Vorsichtig ging er auf die Stelle zu, wo er den Schatten wahrgenommen hatte. Er konzentrierte sich auf die Zauber, die er in seiner Umwelt fand. Das Land half ihm sicherlich gern gegen eine Teufelswache oder einen anderen Dämon.
Irgendjemand oder irgendetwas war hier gewesen. Er sah einen Abdruck im Gras, der jedoch kleiner als erwartet war. Der Abdruck gehörte entweder einem sehr zierlichen Dämon oder einem unbekannten Tier. Es schien sich um mehr als ein Wesen zu handeln.
Hinter einem Baum hielt er inne. Vor sich hörte er, wie etwas über den Fels schabte. Malfurion ging auf das Geräusch zu und bereitete sich auf den Angriff vor.
Doch als er hinter einen anderen Baum blickte, fand er keinen Dämon, sondern eine Nachtelfe.
Sie wich ihm aus und lief so schnell davon, dass er ihr nicht folgte. Er wollte sich nicht zu weit von Tyrande entfernen. Das junge Mädchen hatte weder Rüstung noch ein Tempelgewand getragen, sondern die schlichten Straßenkleider, die man bei vielen Flüchtlingen sah. In einer Hand hatte die junge Frau etwas Langes aus Holz getragen, aber er hatte nicht genau erkennen können, worum es sich bei dem Gegenstand handelte.
Es überraschte ihn nicht, dass er auf einen Flüchtling getroffen war. Die einfachen Leute rannten vermutlich gerade voller Panik um ihr Leben. Die Streitmacht, der sie gefolgt waren, wurde zurückgeschlagen. Eine Rettung lag in weiter Ferne.
Malfurion wandte sich ab und ging zurück zu Tyrande. Nur sie interessierte ihn jetzt noch. Er konnte dem jungen Mädchen, das sich so weit von allen anderen entfernt hatte, nicht helfen.
Der Druide ging an einigen Bäumen vorbei. Er hatte bereits zu viel Zeit verschwendet. Sie mussten fliehen, bevor sich die Schlacht auf die Hügel ausdehnte.
Malfurion ließ den letzten Baum hinter sich und atmete erleichtert auf. Der Schlachtenlärm drang aus einiger Entfernung zu ihnen herauf. Tyrande war also noch in Sicherheit.
Er blieb abrupt stehen, als er die reglose Priesterin sah… und die dunkle Gestalt, die sich über sie beugte.
Die Kreatur hätte Malfurion eigentlich nicht hören dürfen, aber sie drehte sich trotzdem zu ihm um. Ihre Hufe wühlten den Boden auf. Der Oberkörper war der eines Nachtelfen, wenn man einmal von den geschwungenen Hörnern absah. Das elfische Gesicht lächelte den Druiden triumphierend an. Seine Klauen streckten sich erwartungsvoll nach ihm aus. Malfurion blickte sprachlos und entsetzt in dieses Gesicht.
Er kannte es. Niemand wusste, dass es ihn in seinen Alpträumen verfolgte. Es hatte sich zwar verändert, aber diese Augen würde er niemals vergessen… diese schwarzroten Augen aus Kristall.
Lord Xavius war von den Toten auferstanden.