16

Kurz hinter Suramar traf die Streitmacht der Nachtelfen wieder auf die Dämonen. Die Brennende Legion widersetzte sich ihnen kurz und fiel dann zurück in Richtung Zin-Azshari. Am nächsten Abend verschärfte sich die Schlacht, aber keine Seite konnte an Boden gewinnen. Nachtelfen wie Dämonen starben entsetzliche Tode durch feindliche Klingen oder Magie.

Ravencrest ertrug diese Pattsituation nicht. Deshalb rief er Rhonin und Illidan zu sich.

„Magie wird diese Schlacht entscheiden“, sagte er und wandte sich dabei in erster Linie an den Menschen. „Kannst du etwas ausrichten?“

Rhonin dachte nach. „Es gibt eine mögliche Lösung, doch dafür benötige ich die volle Unterstützung der Mondgarde. Der Zauber könnte aber auch dann noch schief gehen.“

„Viel schlimmer kann es ja nicht mehr werden. Was meinst du, Illidan?“

„Ich werde Meister Rhonin bei allem unterstützen, was er zu tun wünscht“, sagte Malfurions Zwillingsbruder und verneigte sich vor dem Magier.

Rhonin zeigte keine Gefühle. Er hoffte, dass Illidan die Kontrolle über sich behielt und nicht versuchte, den Zauber zu verbessern. Das hätte nur im Chaos geendet.

Und Chaos war gleichbedeutend mit einer Niederlage.

„Wir werden so tief wie möglich aus dem Brunnen schöpfen“, erklärte Rhonin Illidan, als sie auf dem Weg zur Mondwache waren. „Ich möchte etwas versuchen, das sich die Zauberer von Dal… das sich die Zauberer meiner Heimat ausgedacht hatten. Sie kamen leider nicht mehr dazu, es anzuwenden.“

„Wird es kompliziert werden, Meister Rhonin?“

„Nein. Sie haben den Zauber wochenlang vorbereitet, aber ich habe mir alle Ergebnisse gemerkt. Wir werden möglicherweise ein paar Stunden brauchen. Das sollte reichen.“

Illidan grinste. „Ich habe volles Vertrauen in Euch, Meister Rhonin.“

Erneut fragte sich der Mensch, ob der Nachtelf seinen Befehlen tatsächlich folgen oder einen eigenen überstürzten Zauber zum Einsatz bringen würde. Illidan schien es immer schwerer zu fallen, nicht im Mittelpunkt eines magischen Aktes zu stehen. Er lebte für seine Kunst und kümmerte sich kaum darum, dass er einen Großteil seiner Kraft von der Mondgarde abzog.

Bei den Göttern, dachte Rhonin plötzlich. Er erinnert fast schon an einen Dämon.

Auch sonst stellte der Nachtelf mit den Bernsteinaugen eine große Bedrohung dar. Sollte Illidan versuchen, den Zauber an sich zu reißen, öffnete er damit dem Untergang Tür und Tor.

Ich werde die Kontrolle über ihn behalten. Außer Krasus und mir vermag das niemand. Er hoffte, dass es seinem ehemaligen Mentor gelungen war, die Drachen aufzusuchen. Wenn nicht, stand das Schicksal der Welt auf dem Spiel. Rhonin hatte einen so gefährlichen Zauber eigentlich nicht einsetzen wollen, aber jetzt, da der Ausgang des Krieges ungewiss war, sah er keine andere Möglichkeit mehr.

Er wollte die Soldaten nicht schutzlos der dunklen Macht der Hexenmeister preisgeben, deshalb bat Rhonin Illidan, die zwölf fähigsten Angehörigen der Mondgarde auszuwählen und dem Rest den Schutz der Soldaten anzuvertrauen. Er würde sie erst brauchen, wenn der Zauber bereit war. Die Mondgarde sollte ihn verstärken und ihn dorthin lenken, wo er benötigt wurde.

Aber nur wenn Rhonins Part gelang.

„Illidan… du musst mich lenken“, sagte der Zauberer, als alles vorbereitet war. „Du musst mich zum Brunnen führen.“

„Ja, Meister Rhonin“, sagte der Nachtelf eifrig. Er stand neben Rhonin und bereitete sich mit ihm auf die geistige Reise zur Quelle der Nachtelfenmagie vor. Bis jetzt hatte Rhonin nur den Rand des Brunnens berührt. Im Gegensatz zu Illidans Volk hing er nicht von der direkten Verbindung ab, was ihm einen immensen Vorteil verschaffte. Illidan und einige andere hatten diese Fähigkeit zwar von dem Menschen erlernt, beherrschten sie jedoch nicht so umfassend. Nun allerdings benötigte Rhonin so viel Kraft wie irgend möglich, um sein Vorhaben umzusetzen.

Weit entfernt ertönte ein Horn. Lord Ravencrest bereitete alles für Rhonins großen Zauber vor… oder für die Katastrophe.

Die beiden Zauberer verbanden ihre Gedanken miteinander. Rhonin spürte Illidans Verwegenheit und versuchte, ihn unter Kontrolle zu halten. Der Ehrgeiz des Nachtelfen bedrohte die Stabilität des Zaubers.

Illidans Gedanken lenkten den Magier. Mit seinem inneren Auge sah Rhonin, wie die Landschaft an ihm vorbeiflog, als er und sein Begleiter sich dem Brunnen näherten. Auf endlose Dämonenreihen folgten zerstörte Landschaften in nur wenigen Sekunden. Dann stieg die zerstörte Stadt Zin-Azshari vor ihnen auf und füllte sein Blickfeld aus. Er sah den großen Palast von Königin Azshara und dann die schwarzen Wasser des Brunnens der Ewigkeit.

Dessen Macht überwältigte ihn. Rhonin hatte geglaubt, den Brunnen durch die Magie spüren zu können, von der Kalimdor durchdrungen war, doch nun erkannte er, dass dies ein Irrtum gewesen war. Der Brunnen bestand aus einer Energie, die so rein war, dass sie ihn zu einem Gott hätte machen können.

Einem Gott

All das, wovon Rhonin geträumt hatte, als er die Roben des Zauberers annahm, erschien ihm nun plötzlich banal. Er konnte ganze Städte mit einem Augenzwinkern erschaffen und wieder vernichten. Er konnte die Macht der Erde selbst auf jeden Feind herabregnen lassen, der sich ihm entgegen stellte. Er konnte –

Mit einer gewaltigen Willensanstrengung befreite sich Rhonin von seinen dunklen Wünschen, und danach betrachtete er den Brunnen voller jäh erwachter Nervosität. Er hatte die ganze Zeit über geahnt, woraus die Quelle wirklich bestand, aber er hatte das Schlechte nicht wahrhaben wollen.

Die Magie hier trug den gleichen Makel wie die Dämonen. Sie war zwar rein, aber sie erschuf ebenso viel Finsternis wie Sargeras.

Es war jedoch zu spät, um sich jetzt noch abzuwenden. Dieses eine Mal musste Rhonin in den Brunnen eintauchen, dann niemals wieder. Zwar widerte es ihn jetzt an, sich von der hier ruhenden Macht bedienen zu müssen, aber ohne sie würde er niemals wieder Magie zum Einsatz bringen können… und Rhonin wusste, dass er das nicht ertragen hätte.

Der Magier spürte Illidans Ungeduld und Neugier, also entnahm er rasch die Energie, die er aus dem Brunnen benötigte. Die Verlockung, seinen Geist darin zu tränken, war groß, aber er widerstand ihr mühsam und zog sich aus den dunklen Wassern zurück.

Innerhalb weniger Augenblicke kehrten seine Seele und die des Nachtelfen in den Körper zurück. Die Verbindung zum Brunnen war so stark wie zuvor. Rhonin bereitete sich auf den Zauber vor. Er wollte ihn so schnell wie möglich weben, um das verdorbene Gefühl aus seiner Seele zu tilgen.

Es geht los, sagte er zu Illidan.

Malfurions Zwillingsbruder bereitete die Mondgarde sofort auf ihre Aufgabe vor. Sie sollte den Zauber des Magiers hundertfach verstärken und zu den Feinden schicken.

Mit Leichtigkeit erschuf Rhonin die Formel, für die seine Lehrer in Dalaran gestorben waren. Er dankte ihren verwehten Seelen, obwohl die Magier erst in Jahrhunderten geboren würden. Dann, als Rhonin sicher sein konnte, dass der innere Zusammenhalt des Zaubers stabil bleiben würde, löste er ihn aus.

Illidan und die anderen erzitterten auf geistiger Ebene, als die Energien sie durchströmten. Der junge Zauberer bewies Umsicht, als er die deutlich erfahreneren Magier der Mondgarde an einem Rückzug hinderte. Der Ehrgeiz, den Rhonin fürchtete, half jetzt seinem Plan.

Gleichzeitig schlugen sie zu.

Ein ohrenbetäubender Klang traf die Brennende Legion, verschonte jedoch die Soldaten, die so verzweifelt auf die Reihen des monströsen Gegners einhieben. Gewaltige Dämonen kreischten auf und ließen ihre Waffen fallen. Die Vibrationen zerfetzten ihre Organe und raubten ihnen den Verstand. Die Welle raste über sie hinweg, und die Dämonen fielen, als würden sie von einem unsichtbaren Besen hinfort gekehrt.

An der gesamten Front starben sie. Und die Soldaten standen erstarrt vor ihnen, konnten nicht fassen, was geschah.

„Jetzt, Ravencrest“, flüsterte Rhonin. „Jetzt!“

Die Hörner erschallten und riefen zum Angriff. Pantherreiter führten den Vorstoß an. Sie galoppierten über das Schlachtfeld und suchten nach dem Feind, aber vor ihnen lagen nur Tote. Die Schallwelle raste weiter und erschuf eine Ebene des Todes. Kein Dämon, den sie traf, überlebte. Hunderte starben.

Rhonin spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben. Er taumelte, glaubte, sein Kopf würde explodieren wie der eines Dämons.

Der Zauberer brach zusammen.

„Ich habe Euch, Meister Rhonin…“

Illidan ließ ihn sanft zu Boden gleiten. Die zum Einsatz gebrachte Magie schien ihn nicht geschwächt zu haben. Die Mitglieder der Mondgarde sahen hingegen so aus, wie sich Rhonin fühlte. Die meisten saßen oder lagen am Boden und kümmerten sich nicht darum, dass die Soldaten vorwärts zogen.

„Hast du es gesehen? Hast du gesehen, was wir getan haben?“ Er blickte zu jemandem, den Rhonin nicht sehen konnte. „Der Brunnen ist der einzige Weg, Bruder. Verstehst du? Nichts reicht an ihn heran!“

Er brüllte den abwesenden Malfurion weiter an. Rhonin, den seine Stärke verlassen hatte, hörte ihm reglos zu. Illidans Habgier und Eifersucht uferten so sehr aus, dass sie an Hass gegenüber dem Druiden grenzten.

Rhonin hatte die Dämonen dank seines Zaubers in die Flucht geschlagen und damit das Kriegsglück vielleicht endgültig gewendet… doch als er Illidans verzerrtes Gesicht betrachtete und daran dachte, wie er sich selbst beinahe vom Brunnen hätte verführen lassen, fragte er sich, ob er nicht eine noch schlimmere Gefahr über das Volk der Nachtelfen gebracht hatte.


Korialstrasz war tief in Gedanken versunken. Seine Geduld neigte sich ihrem Ende entgegen. Man hatte den Drachen befohlen, den Befehl der Aspekte abzuwarten. Sobald er erfolgte, würden sich alle Clans in die Lüfte erheben, geleitet von einem einzigen Willen. Sie sollten sich auf die Dämonen stürzen, die die Drachenseele bereits zerreißen würde, noch bevor die Leviathane selbst zuschlugen.

Ein einfacher sorgsam durchdachter Plan. Fehlerlos.

Aber dennoch ein Plan, dem Korialstrasz – aus Gründen, die er selbst nicht erklären konnte – misstraute.

Doch er war seiner Königin und Gefährtin treu ergeben, deshalb unternahm er nichts. Alexstrasza vertraute auf Neltharions Schöpfung, sie vertraute auch dem Erdwächter selbst. Die Zweifel, die Korialstrasz empfand, musste er für sich behalten.

„Immer in Gedanken, mein Geliebter, immer voller Sorge.“

Er hob den Kopf, als der weibliche Drache seine Kammer betrat. „Alexstrasza“, sagte er. „Solltet Ihr nicht bei den anderen Aspekten sein?“

„Ich habe mich für meine Abwesenheit entschuldigt. Neltharion ist unzufrieden, aber er wird sich damit abfinden müssen.“

Korialstrasz neigte respektvoll den Kopf. „Wie kann ich Euch dienen, meine Königin?“

Einen Moment lang wirkte sie unentschlossen. Dann sagte sie mit ungewöhnlich leiser Stimme: „Ich möchte, dass du mir nicht gehorchst.“

Ihr Gefährte war überrascht. „Meine Geliebte, was meint Ihr?“

„Abgesehen von den Wachen, die wir postiert haben, sollen alle Drachen in diesem großen Höhlensystem bleiben, bis der Befehl zum Aufbruch gegeben wird. Ich möchte, dass du diese Weisung missachtest und die Höhlen verlässt.“

Er war wie betäubt. Sicherlich sollten die anderen Aspekte nichts von seiner Abreise erfahren. „Aber wohin soll ich gehen?“

„Ich weiß es nicht genau, aber ich hoffe, dass du es erkennen wirst, wenn die Barriere hinter dir liegt. Ich möchte, dass du Krasus findest.“

Krasus. Auch mit dem mysteriösen Magier hatten sich Korialstrasz’ Gedanken beschäftigt. Krasus wusste wahrscheinlich vieles über die Dinge, über die er selbst nur spekulieren konnte. „Er wird vermutlich noch bei den Nachtelfen sein…“

„Nein. Noch vor kurzem war er in unserer Nähe. Ysera hat mir erzählt, dass ein Nachtelf namens Malfurion durch sie versucht hat, mit mir in Kontakt zu treten. Allerdings misstraute sie ihm und ließ ihn warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war.“

„Und?“

„Ysera suchte nach Malfurion, aber er war verschwunden. Sie erzählte mir davon, während Neltharion und Malygos über die Verzauberung der Seele sprachen.“

„Aber was wollte Krasus hier?“ Die Sorge des roten Drachen nahm zu. Die Reise aus dem Land der Nachtelfen war beschwerlich für jemanden, der nicht mit einem Flügelschlag mehrere Meilen überbrücken konnte.

„Genau das will ich wissen.“

„Ich werde tun, was ich kann, um ihn zu finden, aber das könnte sehr schwierig werden.“

Die Königin schnaufte. Sie schloss einen Moment lang nachdenklich die Augen, dann nickte sie. „Ja, du musst es jetzt erfahren.“

„Was erfahren?“

„Geliebter, du hast die Nähe zwischen dir und Krasus gespürt. Du würdest ihn fast schon als einen Bruder bezeichnen, nicht wahr?“

Er hatte noch nie darüber nachgedacht, begriff jetzt jedoch, dass Alexstrasza Recht hatte. Krasus nahm diesen Platz in seinem Herzen ein. Es hatte nichts mit den Schuppen zu tun, die sie getauscht hatten, um ihre Schwäche zu überwinden. Korialstrasz vertraute ihm einfach, so wie er seiner Gefährtin vertraute.

Und manchmal sogar noch mehr.

Alexstrasza las die Antwort in seinem Gesicht. „Dann höre mich an, Geliebter. Der Grund für deine Nähe zu Krasus ist, dass ihr… eins seid.“

Der rote Drache blinzelte verwirrt. Er glaubte, sich verhört zu haben.

Aber Alexstrasza schüttelte ihren massigen Kopf und sagte: „Krasus ist du, Korialstrasz. Er ist nur viel älter, viel erfahrener und viel weiser. Er ist so wie du in unzähligen Jahrhunderten sein wirst.“

„Das ist unmöglich!“ Ihm kam plötzlich ein Gedanke. „Ist das ein Trick von Nozdormu. Seine Abwesenheit ist sehr verwunderlich…“

„Nozdormu spielt eine Rolle in dieser Angelegenheit, aber Genaueres kann ich dir nicht sagen. Du musst nur wissen, dass Krasus hier ist, weil es nicht anders geht.“

„Dann steht der Ausgang des Krieges fest. Durch die Drachenseele werden wir über die Dämonen triumphieren. Meine Sorge war unbegründet.“

„Deine Sorge ist begründet. Wir kennen den Ausgang nicht. Krasus befürchtet, dass Nozdormu ihn hierher geschickt hat, weil sich die Zeitlinie verschob… verschieben wird. Es gab einen Zeitpunkt, an dem ich darüber nachdachte, ob ich ihn und seine Begleiter vielleicht töten müsste, um sie zu erhalten, aber schon bald wurde deutlich, dass es damit nicht getan gewesen wäre.“

Korialstrasz starrte sie aus großen Augen an. „Ihr hättet… mich getötet?“

„Wenn er darauf beharrt hätte, mein Geliebter.“

Er dachte darüber nach und verstand, dass sie richtig gehandelt hätte. „Vergebt mir. Ja, meine Königin, ich werde ihn suchen.“

„Ich danke dir. Die Reise durch die Zeit hat seine Erinnerung stark getrübt. Vielleicht liegt es daran, dass er hier bereits in deiner Gestalt existiert. Trotzdem ist sein Verstand scharf, und wenn er so dringend um eine Unterredung ersucht, sollten wir ihn finden.“

„Ich breche sofort auf.“

Alexstrasza neigte dankbar den Kopf. „Ich muss so tun, als wäre dies allein deine Idee gewesen, Korialstrasz.“

„Natürlich. Ich werde Euch nicht enttäuschen, meine Königin.“

Sie sah ihn liebevoll an, dann verließ sie seine Kammer. Der rote Drache wartete, bis sie sich weit genug entfernt hatte, dann ging auch er.

Zu seiner Erleichterung konnte er den Berg ohne Zwischenfälle verlassen, da die meisten Drachen in den Höhlen saßen und den Angriffsbefehl erwarteten. Bei dem Rest handelte es sich um Gefährten wie ihn oder Tyran, die sich in der Nähe der Aspekte aufhalten mussten für den Fall, dass sie gebraucht wurden.

Den Wachen aus dem Weg zu gehen, erwies sich als schwieriger. Dem ersten Wächter, der aus seinem eigenen Clan stammte, entging er, weil er dessen Persönlichkeit einschätzen konnte. Horakastrasz war ein junger Drache mit scharfen Augen, aber er ließ sich leicht ablenken. Korialstrasz traf auf ihn, als er gerade gelangweilt Felsen mit seinem Schwanz aus dem Berg riss und zusah, wie sie zu Tal stürzten. Dem nächsten Wachposten entging er, indem er so hoch flog, dass der andere die Veränderung des Luftwiderstands nicht wahrnahm.

Auch vom Rest blieb er dank unterschiedlicher Tricks unbemerkt. Dann stellte er sich auf den Kontakt mit der Barriere ein. Mit dem Kopf voran prallte er gegen die unsichtbare Mauer. Es fühlte sich an, als wate er durch Molasse. So kräftig es ging schlug er mit den Flügeln und katapultierte sich schließlich aus dem Hemmnis hinaus. Meilenweit flog er taumelnd, bis er die volle Kontrolle über seinen Flügelschlag endlich zurückerlangte.

Korialstrasz hockte sich auf einen Berggipfel und konzentrierte sich auf Krasus. Zur Sicherheit legte er eine Klaue auf die Schuppe, die sein älteres Ich ihm geschenkt hatte. So vieles ergab jetzt mehr Sinn. Er hatte vorher nicht verstanden, warum der Schuppentausch ihnen beiden geholfen hatte. Jetzt wusste er, dass beide Hälften dadurch vollständiger geworden waren. Korialstrasz war zwar immer noch etwas erschöpft, aber es ging ihm seit dem Tausch schon wesentlich besser.

Mit aller Kraft suchte er nach Krasus und konzentrierte sich auf die Verbindung die nur zwei haben konnten, die eins waren. Der Drache bezweifelte, dass seine andere Hälfte sich noch in der Nähe aufhielt. Korialstrasz – der ja Krasus war – hätte an seiner Stelle versucht, die Barriere auf andere Weise zu durchbrechen. Da er das offenbar nicht getan hatte, musste er geflohen sein.

Der Rote versuchte nicht daran zu denken, was sein älteres Ich gezwungen hatte, die Gegend vor der Barriere zu verlassen. Stattdessen sandte er seinen Geist nach ihm aus. Nur der Wille eines Drachen vermochte es, sich so weit über das Land auszustrecken, wie Korialstrasz es gerade tat. Sein Geist überbrückte auf der Suche nach sich selbst endlose Landschaften.

Doch er stieß auf keine Spur, und seine Geduld begann nachzulassen. Die Aufgabe war nicht schwer, trotzdem konnte er sie nicht bewältigen. War Krasus vielleicht einem Feind zum Opfer gefallen? Der Gedanke ließ Korialstrasz erschaudern. Kein Wesen sollte sein eigenes Ende miterleben müssen…

Doch dann spürte der Drache plötzlich eine vertraute Präsenz, die wie neu erschaffen wirkte. Den genauen Aufenthaltsort konnte er nicht ermitteln, aber er wusste zumindest, in welche Richtung er fliegen musste.

Korialstrasz stieg sofort in die Lüfte auf. All seine Kraft legte er in die Flügelschläge. Je schneller er sein anderes Ich fand, desto eher würde er sich wieder sicher fühlen.

Er blendete alles außer Krasus in seinem Denken aus. Seine Umgebung verschwamm. Seine gewaltigen Flügel fraßen die Meilen, aber trotzdem zog sich die Reise dahin.

Korialstrasz war so besessen von seiner Suche, dass er den Angreifer erst bemerkte, als sich Klauen in seinen Rücken gruben.

Erschrocken schrie er auf, warf sich jedoch gleichzeitig in der Luft herum und überraschte damit seinen Gegner. Das monströse Gesicht eines schwarzen Drachen starrte ihm entgegen.

„Aufhören!“, rief der Rote. „Beim Ruhm der Aspekte verlange ich, dass du – “

Der andere Drache öffnete das Maul.

Korialstrasz stoppte seinen Flügelschlag abrupt. Sein massiger Körper fiel dem Erdboden wie ein Stein entgegen. Diese schnelle Reaktion rettete ihn vor einem Strahl aus brennender Lava. Die Hitze, die über seinen Kopf strich, war so groß, dass ihm Tränen in die Augen stiegen.

Die Schmerzen aus den Klauenwunden brannten in Korialstrasz’ Körper. Er war zwar etwas größer als der Schwarze, aber seine Schwäche hob diesen vermeintlichen Vorteil wieder auf.

„Lass mich in Ruhe“, sagte er ruhig, um den anderen nicht zu provozieren. „Es gibt keinen Streit zwischen uns.“

„Du darfst dich nicht einmischen!“, gab der Schwarze zurück. Sein Blick flackerte wahnsinnig.

Alexstraszas Gefährte wusste nicht, was sein Gegner damit meinte, aber seine Sorge um Krasus wuchs.

Der schwarze Leviathan ließ sich auf Korialstrasz fallen und zwang ihn so, noch tiefer zu sinken. Korialstrasz ließ es zu, wollte zuerst warten und sich dann im letzten Moment unter seinem Gegner zur Seite drehen.

Doch als sich ihm der Berggipfel näherte, erkannte er, dass man ihn genarrt hatte.

Korialstrasz’ Gegner ließ ihn plötzlich los. Im gleichen Moment tauchte ein zweiter schwarzer Drache neben dem Gipfel auf und warf sich dem Roten entgegen. Die Drachen prallten zusammen und stürzten unkontrolliert den spitzen Felsen entgegen.

„Du bringst uns beide um!“, rief Korialstrasz.

„Zum Ruhme meines Herrn!“

Der tosende Wind zwang die Flügel des Schwarzen nach hinten. Erst jetzt sah der Rote, dass eine der beiden Schwingen gebrochen und zerfetzt war. Dieser Drache konnte nicht mehr richtig fliegen, und jetzt wollte er sich opfern und seinen Gegner mit in den Tod reißen.

Korialstrasz hatte jedoch nicht vor, dies geschehen zu lassen. Er schlug hart mit den Flügeln und tat, was sein verletzter Feind nicht mehr vermochte: Er steuerte seinen Fall mit ihnen. Plötzlich war er über dem Schwarzen, nicht mehr unter ihm.

Der verwundete Riese brüllte wütend und versuchte, sich herumzuwerfen. Korialstrasz hörte den Schrei des anderen Drachen, der begriff, was geschah.

Der Rote zog alle vier Beine an, lockerte seinen Griff jedoch nicht. Leise zählte er die Sekunden, die ihm noch blieben. Die raue Landschaft schoss ihm entgegen. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die spitzen Felsen, die unter ihm aufragten.

Als er und der Schwarze sie erreichten, streckte Korialstrasz seine Beine aus und stieß sich von seinem Feind ab. Mit kräftigen Flügelschlägen kämpfte er sich nach oben.

Mit einem schmerzerfüllten Brüllen, das durch die Berge hallte, schlug der verletzte Schwarze auf. Seine Knochen barsten, und für einen kurzen Augenblick strauchelte er wie ein Blatt im Wind. Blut besudelte die Landschaft.

Dem sterbenden Leviathan entwich ein letztes Stöhnen… dann fiel sein Kopf zur Seite. Seine Zunge rollte aus dem Maul.

Die zweite Attacke traf Korialstrasz während seines mühsamen Wiederaufstiegs. Erneut gruben sich Klauen in den Rücken des Roten und ließen ihn aufschreien. Die Schlacht begann ihren Tribut von Korialstrasz zu fordern. Sein Atem ging stoßweise, und das Fliegen fiel ihm schwer. Weder er noch Alexstrasza hatten damit gerechnet, so von Neltharions Clan hintergangen zu werden.

„Du musst sterben!“, brüllte der Schwarze wütend, als könne sein Wunsch bereits dadurch zur Realität werden.

Der rote Drache entging den tödlichen Klauen, aber sein Gegner griff unablässig an. Er war nicht nur schnell, sondern wurde von dem brennenden Wunsch getrieben, seinem Herrn zu gefallen. Wie der erste Schwarze schien auch er bereit zu sein, sich selbst zu opfern, nur um seinen Auftrag zu erfüllen.

Aber welcher Auftrag mochte das sein? Wieso war er so wütend, weil ein Drache sich von den anderen getrennt hatte? Wieso hatte Neltharion solche Angst davor, dass er seinen Wachen gebot, dies notfalls mit ihrem eigenen Leben zu verhindern?

Korialstrasz kannte den Grund nicht, konnte jedoch auch nicht mehr länger darüber nachsinnen. Feuerodem traf ihn mitten in die Brust. Er drehte sich unkontrolliert und vermochte sich nicht mehr zu konzentrieren.

Klauen bohrten sich in sein Fleisch. Der faulige Atem des Schwarzen ließ ihn würgen.

„Ich habe dich!“, brüllte der wahnsinnige Drache und atmete tief ein. Sein nächster Feuerstoß sollte seinen Gegner aus nächster Nähe treffen und töten.

Verzweifelt stieß Korialstrasz seinen Kopf vor. Seine mächtigen Kiefer schlossen sich um den Hals des schwarzen Drachen und drückten so hart zu, dass sie ihm den Atem raubten.

Sein Feind wand sich in Krämpfen, als die Kräfte, die er schon fast freigesetzt hatte, kein Ventil fanden. Seine Klauen kratzten über Korialstrasz’ Gesicht und seinen Körper, hinterließen tiefe Narben.

Dann explodierte der Schwarze.

Korialstrasz ließ den Hals des Gegners los und schrie schmerzerfüllt, als die brennende Lava, die aus dem Leichnam quoll, seinen Körper streifte. Das war zu viel. Er konnte sich nicht mehr halten. Gemeinsam mit seinem besiegten Gegner stürzte er in die Tiefe.

Und kurz bevor er das Bewusstsein verlor, fragte sich der rote Drache, welchen Einfluss sein Tod auf sein zukünftiges Ich haben mochte.

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