18

Die Königin hatte beschlossen auszureiten, und wenn Azshara etwas beschloss, konnten auch alle Dämonen der Welt sie nicht umstimmen… was bedeutete, dass Captain Varo’then erst recht keine Chance hatte, sie daran zu hindern.

Sie hatte den Palast vor langer Zeit zum letzten Mal verlassen. Jetzt waren sie und ihre Zofen von riesigen Leibwächtern und einem zusätzlichen Trupp Soldaten umgeben, als sie die Palasttore hinter sich ließen und in die Stadt ritten.

In die Ruinen der einstigen Stadt.

Seit ihrer Zerstörung hatte die Herrin der Nachtelfen Zin-Azshari nicht mehr betreten. Ihre Blicke glitten über die vernichteten Häuser, die schuttbedeckten Straßen und die Leichen, die gelegentlich noch fast unversehrt zwischen den Trümmern lagen, weil es keine Aasfresser mehr gab. Azshara schürzte die Lippen und zog die Nase kraus. Offenbar gab es hier einen Geruch, der ihr missfiel.

Varo’then starrte ungehalten auf die Ruinen. Nichts durfte seine Königin verstören. Wenn er die Zerstörungen mit seinem Schwert hätte beseitigen können, so wie man sich eines Feindes entledigte, hätte er es getan.

Eine Teufelsbestie tauchte hinter einem zusammengestürzten Turm auf. Ihre mächtigen Kiefer zermahlten etwas. Sie schmatzte laut, als die Königin und ihre Eskorte vorbeiritten, dann verschwand sie wieder in ihrem Versteck.

Schweigend ritten sie durch die Stadt. Azshara sagte nichts, also wagte auch kein anderer zu sprechen. Die Teufelswächter blieben dicht neben ihr, obwohl keine Bedrohung auszumachen war. Die Dämonen waren der Königin ebenso ergeben wie ihre Soldaten. Hätte sie von ihnen verlangt, ihre eigenen Artgenossen anzugreifen, hätten sie ihr vermutlich gehorcht. Natürlich würde Azshara das nie von ihnen verlangen, denn es gab nur einen, den sie niemals – unter keinen Umständen – erzürnen wollte, und das war Sargeras, der Herr der Brennenden Legion.

„Glaubst du, dass es bald so weit ist, mein lieber Captain?“, fragte sie.

Der Offizier war verwirrt. „Licht der Lichter?“

„Dass er zu uns kommt, Captain. Zu uns.“

Varo’then nickte sofort. „Oh ja, meine Königin, sehr bald. Mannoroth sagt, dass das Portal mit jeder Nacht stärker wird.“

„Er muss wahrlich der Gott unter den Göttern sein, wenn er ein so starkes Tor benötigt.“

„Wenn Ihr das sagt, meine Königin.“

„Er muss… glorreich sein“, murmelte Azshara in einer Weise, die sie sonst für sich selbst beanspruchte.

Der vernarbte Nachtelf nickte und versuchte, seinen Neid zu verbergen. Niemand konnte sich mit einem Gott messen.

Über der Stadt lag der gleiche grüne Nebel, der fast ganz Kalimdor bedeckte. Azshara genoss den Anblick, denn er ließ ihre Stadt mysteriöser wirken, während er gleichzeitig Dinge vor ihr verbarg, die ihr vielleicht missfallen hätten. Wenn die Welt neu erschaffen war, würde sie Sargeras bitten, den Nebel zu lüften. Bis dahin gefiel er ihr.

Azshara sah sich um, als sie einen offenen Platz erreichten. Sie zog die Zügel ihres Nachtsäblers an und brachte ihn zum Stehen. Dann streichelte sie seinen Nacken, um ihn zu beruhigen. Alles im Palast hatte sich durch Sargeras verändert, und die Tiere bildeten keine Ausnahme. Die großen Katzen hatten jetzt rote wilde Augen. Sie hätten jeden Artgenossen, der nicht dem königlichen Stall entstammte, mit großer Freude angegriffen und zerrissen.

„Der Captain und ich werden ein paar Minuten allein weiterreiten.“

Weder die Nachtelfen noch die Dämonen wirkten erfreut über diesen Befehl… abgesehen von Varo’then natürlich. Er sah seine Männer an und knurrte: „Befolgt den Befehl der Königin!“

Die Eskorte gehorchte und blieb zurück, während er und die Königin weiterritten.

Azshara schwieg, bis sie außer Hörweite waren. Dann lächelte sie Varo’then an. „Verläuft alles zufrieden stellend?“

„Was meint Ihr damit?“

Die Königin blickte zum Horizont. „Die Säuberung meines Reiches. Müsste sie nicht längst vollzogen sein?“

„Archimonde wird dafür sorgen, meine Königin.“

„Aber ich hätte das gerne erledigt, bevor Sargeras eintrifft. Wäre das nicht ein wundervolles Geschenk für meinen… Zukünftigen?“

Varo’then unterdrückte seine Gefühle mühsam. Er schluckte seine Eifersucht herunter und sagte: „Ein wahrhaft wundervolles Geschenk. Er wird es erhalten.“

„Und warum verzögert es sich noch?“

„Dafür gibt es viele Gründe. Logistik – “

Sie beugte sich vor und gewährte ihm einen Blick auf ihren Körper. „Mein lieber, lieber Varo’then. Sehe ich denn tatsächlich aus wie du? Wie ein harter, muskulöser Soldat?“

Seine Wangen erröteten. „Nein, Vision der Vollkommenheit.“

„Dann gebrauche bitte nicht diese militärischen Begriffe. Zeige mir einfach, was du meinst.“

Azshara hob ihre Handfläche, auf der ein kleiner Kristall erschien. Er war anfangs kaum größer als eine Erbse, wuchs jedoch, bis er groß wie eine Melone war. Er leuchtete so hell wie der volle Mond.

„Wirst du mir diesen Gefallen erweisen?“

Der Soldat nahm den Kristall aus ihrer Hand und konzentrierte sich. Zwar war er kein mächtiger Zauberer wie die Hochwohlgeborenen, aber er beherrschte die Grundlagen der magischen Künste. Der Kristall reagierte auf seine Gedanken und verwandelte sie in Bilder.

„Ihr fragt mich, warum sich die Angelegenheit verzögert, meine Königin. Nun, hier sind einige Gründe dafür.“

In seiner Erinnerung entstand das Bild eines rothaarigen Wesens, das Azshara fremd vorkam. Sie betrachtete es mit leuchtenden Augen.

„Er sieht gut aus… für einen Fremden. Definitiv männlich.“

„Ein mächtiger Zauberer.“ Das Gesicht verschwand und wurde durch das eines älteren Mannes ersetzt.

„Warum zeigst du mir diesen Geist?“

„Das ist kein Geist. Trotz seiner blassen Hautfärbung lebt dieses Wesen. Als wir ihm begegneten, stellte er keine Gefahr dar, aber ich glaube, dass er zu diesem Zeitpunkt an einer Krankheit litt. Vor kurzem haben meine Spione ihn jedoch in Begleitung eines Drachen gesehen.“

Das beeindruckte die Königin. „Eines Drachen?“

„Ja, und die beiden haben Archimondes Kriegern große Probleme bereitet. Mittlerweile sind sie verschwunden, aber ich befürchte, dass sie zurückkehren werden.“

„Dann ist er wohl doch kein Geist“, entgegnete Azshara, während sie die blasse Erscheinung betrachtete, die an einen Nachtelf erinnerte. „Und nur sie verhindern die Vollkommenheit meiner Welt?“

Captain Varo’then schnaufte. „Auch einige aus unserem Volke sorgen dafür. Sie sind fehlgeleitet. Ihre Abbilder sind unscharf, weil sie mir nur über andere zugetragen worden sind.“

Azshara betrachtete die neuen Gesichter. Einer der beiden Nachtelfen hatte seine Haare zu einem Zopf zusammengebunden und trug schwarze Kleidung. Der andere hatte das Haare offen und schien erdfarbene Kleider zu bevorzugen. Beide Gesichter ähnelten sich so sehr, dass die Königin im ersten Moment glaubte, sie stellten ein und dieselbe Person dar.

„Es sind Zwillinge“, stellte Varo’then klar. „Brüder.“

„Zwillinge… wie interessant.“ Sie strich mit dem Finger über die Bilder. „Aber sie sind so jung… sicherlich sind sie keine Anführer.“

„Sie sind mächtige Zauberer, aber sie führen die Rebellion nicht an. Diese Aufgabe hat der ehrenwerte Lord Ravencrest übernommen.“

„Mein lieber Kur’talos… ich habe ihn stets bevorzugt behandelt, und so dankt er es mir nun.“

Captain Varo’then ließ den Kristall sinken. Finster sagte er: „Black Rook hat den Palast stets beneidet, Licht der Lichter.“

Sie schmollte einen Augenblick lang. „Ich habe entschieden, dass Lord Ravencrest mir missfallen hat“, erklärte sie schließlich. „Kannst du dieses Problem lösen?“

Er zeigte seine Überraschung nicht. „Das wird uns einiges kosten… aber es kann uns gelingen, sollte das Euer Wunsch sein.“

„Mein größter Wunsch, lieber Captain.“

Azshara streichelte leicht über seine Wange, dann wendete sie ihr Reittier abrupt und ritt zurück zu der wartenden Eskorte. Ihre lange schimmernde Schärpe flatterte im Wind. Der Offizier nahm sich zusammen und dachte über die Wünsche seiner Herrin nach. Kur’talos Ravencrest missfiel ihr also. Eines größeren Verbrechens konnte man sich in ganz Kalimdor nicht schuldig machen.

„Wir werden das Problem beseitigen, meine Königin“, murmelte er. „Wir werden es beseitigen.“


Sie ließen Suramar hinter sich und trieben die Dämonen in Richtung Zin-Azshari. Rhonins Meisterzauber hatte den Vorstoß ausgelöst, aber jetzt übernahmen Illidans Mondgarde und die Soldaten an vorderster Front. Sie vernichteten jeden Dämon, der es wagte, sich ihnen entgegenzustellen.

Rhonin ruhte sich nicht auf seinem Erfolg aus. Er legte zwar eine kurze Pause ein, nutzte die Situation jedoch dann, um die Brennende Legion weiter zu schwächen. Jeder Dämon, der fiel, war einer, der seiner Familie kein Leid mehr zufügen konnte. Rhonin interessierte es nicht mehr, welche Konsequenzen seine Anwesenheit in diesem Krieg haben würde. Wenn es ihnen gelang, die Brennende Legion hier zu vernichten, würde die Welt der Zukunft weder unter ihr, noch unter der Untoten-Geißel zu leiden haben.

Brox hatte ebenfalls alle Zweifel abgelegt. Er war ein Orc-Krieger, und Orc-Krieger kämpften. Über die Konsequenzen konnten sich andere Sorgen machen. Er wusste nur, dass seine Axt das Blut von Dämonen schmecken wollte.

Die Streitmacht der Nachtelfen schlug einen Keil mitten in die Dämonen. An den Flanken kämpfte die Mondgarde gegen den Feind. Die Eredar und die Schreckenslords wagten zwar hin und wieder Gegenangriffe, aber sie hatten Illidans Zaubern nichts entgegenzusetzen.

„Wir treiben sie zu den Hügeln von Urae!“, rief Jarod Rhonin zu. „Dahinter liegt nur noch Zin-Azshari.“

„Zum Glück haben wir sie in Panik versetzt“, antwortete der Magier grimmig. „Wenn sie Verstärkung hätten oder organisierter vorgingen, sähe es für uns nicht gut aus. Wir müssten uns den Berg hinaufkämpfen.“

„Auf der anderen Seite werden wir die Hügel zu unserem Vorteil nutzen.“

„Dann sollten wir sie so schnell wie möglich erreichen.“

Die Dämonen zogen sich weiter in die Hügel zurück. Es war ein chaotischer, unstrukturierter Vorgang. Archimonde konnte Rhonin nicht ausmachen. Wäre der Dämonenlord anwesend gewesen, hätte die Brennende Legion sicherlich besser gekämpft, außer…

Ist das möglich?, fragte er sich. Der Gedanke war furchteinflößend.

„Jarod! Brox! Ich muss Ravencrest finden!“

„Geh ruhig“, knurrte der Orc, während seine Axt zuerst durch die Rüstung eines Dämons und dann in dessen Brust schnitt.

Rhonin hatte Schuldgefühle, weil er seine Freunde mitten im Kampf verließ, aber gleichzeitig spürte er, dass er den Kommandanten so schnell wie möglich finden musste. Die Theorie, die unerwünscht in seinem Verstand erschienen war, konnte nur der Adlige bestätigen oder verwerfen.

Doch Lord Ravencrest zu finden, war keine einfache Aufgabe. Der Nachtsäbler schob sich langsam durch die vorrückenden Soldaten, während der Zauberer die Gegend absuchte – ohne Erfolg jedoch. Er wusste nicht, wo sich sein Ziel aufhielt. Es gab tausend Möglichkeiten.

Rhonin wurde nervös, doch dann sah er endlich jemanden, der möglicherweise Ravencrests Aufenthaltsort kannte. Lord Desdel Stareyes Rüstung war fleckenlos, und seine Katze wirkte, als habe man sie eben erst gebürstet. Rhonin fragte sich, ob er überhaupt in die Nähe der Schlacht geraten war, geschweige denn darin gekämpft hatte. Allerdings war Stareye Ravencrests Vertrauter; etwas anderes zählte in dieser Situation nicht.

„Mylord! Mylord!“, rief der rothaarige Magier.

Der Nachtelf sah ihn mit deutlichem Widerwillen an. Dann griff er in seine Gürteltasche und nahm ein Pulver heraus, das er schniefte. Sein Schwert ließ er jedoch stecken.

„Das ist ein sehr ungünstiger Zeitpunkt, Zauberer“, beschwerte er sich. „Was willst du?“

„Wo ist Lord Ravencrest? Ich muss ihn sprechen.“

„Kur’talos ist gerade sehr beschäftigt. Was machst du überhaupt hier? Solltest du nicht deine Zauber an der Front wirken oder so etwas?“

Rhonin kannte Leute wie diesen Nachtelf aus seiner eigenen Zeit. Solche hochgestellten Persönlichkeiten waren nicht nur unnütz, als Kommandanten waren sie sogar gefährlich. Sie interessierte nichts außer dem eigenen Vergnügen, und sie sahen im Krieg nur ein weiteres Spiel.

„Es ist überaus wichtig, Mylord.“

„Worum geht es?“

Der Magier hatte keine Zeit für diese Verzögerungstaktik, erkannte jedoch, dass er Stareye von der Dringlichkeit seiner Bitte überzeugen musste, um zu Ravencrest vorgelassen zu werden.

Also sagte er: „Ich muss wissen, ob Ravencrest in der letzten Zeit Kundschafter ausgesandt hat und ob sie irgendwas auf der anderen Seite der Hügel gefunden haben.“

Der Nachtelf schnaubte. „In ein paar Stunden wirst du selbst sehen können, was sich jenseits der Hügel befindet.“

Rhonin bedauerte, dass er keine magische Verbindung zum Kommandanten aufgebaut hatte, aber Ravencrest lehnte diese Art der Kommunikation an. Er glaubte, dass die magischen Kräfte der Zauberer es dem Feind erleichterten, ihre Gedanken zu lesen. Und er wollte verhindern, dass seine Pläne durch seine Verbindung zu ihnen in Gefahr gerieten.

Rhonin hielt diese Behauptung für lächerlich, hatte es aber längst aufgegeben, mit Ravencrest darüber zu streiten. Diese Verfehlung rächte sich jetzt vielleicht.

„Lord Stareye, wo ist er?“

Der hagere Adlige wirkte einen Moment lang nachdenklich, dann sagte er: „Folge mir, Zauberer. Ich bringe dich an die Stelle, wo ich ihn zuletzt sah.“

Rhonin atmete erleichtert auf und folgte Stareye. Zu seiner Überraschung wandte sich der Nachtelf von der Schlacht ab. Im ersten Moment wollte er dagegen protestieren, doch dann erkannte er, dass sie auf diese Weise ungehinderter und schneller vorankamen.

Trotz dieses Manövers verstrich kostbare Zeit, während sie sich von einer Seite der Streitmacht zur anderen bewegten. Gleichzeitig kämpften sich die Nachtelfen weiter vorwärts, folgten den Dämonen auf immer schmaler werdenden Wegen die Hügel hinauf.

Vielleicht hat Stareye sogar Recht, dachte er Magier pessimistisch. Bis wir Ravencrest gefunden haben, steht die Streitmacht längst auf der anderen Seite der Hügel.

„Da!“, rief sein Begleiter schließlich. „Siehst du sein Banner?“

Rhonin suchte vergeblich danach. „Wo?“

„Da, du Narr! Es – “ Stareye schüttelte den Kopf. „Jetzt sehe ich es auch nicht mehr. Komm, ich bringe dich hin.“

Stareye hatte wohl gehofft, den Magier schnell loswerden zu können, doch das erwies sich als falsch. Rhonin hielt zwar nach dem Banner des Adligen Ausschau, entdeckte es jedoch nirgends. Hinzu kam, dass sich die Streitmacht so schnell bewegte, dass der Kommandant wahrscheinlich ständig die Position wechselte, um den Überblick zu behalten.

„Verdammt“, murmelte der Nachtelf nach einer Weile und wischte sich Lehm von seiner glänzenden Rüstung. „Er war hier. Ich habe ihn doch gesehen.“

Sie zogen weiter durch die vorrückenden Linien. Rhonin warf einen Blick zu den Hügeln, die bedrohlich näher gekommen waren und ihn an die spitzen Reißzähne einer Bestie erinnerten. Zwischen ihnen sah er die Dämonen, deren Rückzug durch den Aufstieg verlangsamt wurde. An manchen Punkten war er sogar ganz zum Erliegen gekommen.

Oder?

Stareye wies mit der Hand nach vorne, um die Richtung zu zeigen, doch im gleichen Moment geriet ein wenig Staub in Rhonins Auge. Der Magier wandte sich ab und blinzelte. Überrascht bemerkte er Ravencrests Banner, das hinter ihm im Wind flatterte.

„Da ist er!“, rief Rhonin.

„Nein, ich glaube…“ Stareye unterbrach sich, als er dem Blick des Magiers folgte. Rhonin trieb indessen bereits sein Reittier an, lenkte es Ravencrests Position entgegen. Er bewegte sich gegen den Strom der Soldaten und ließ sich nicht davon mitreißen. Noch war nicht alles verloren. Wenn er Ravencrest erst einmal…

Gebrüll kam an der Front auf. Hörnerschall erklang, Trommeln wurden geschlagen. Die Gesichter rund um Rhonin erblassten.

„Was ist los?“, rief er einem Soldaten zu, der aber nicht antwortete.

Rhonin blickte wieder zur Front. „Nein…!“, stieß er entsetzt hervor.

Die Hügel waren voller Dämonen, die den Nachtelfen entgegenstürmten. Das allein hätte Rhonin nicht geängstigt, aber er sah andere Dämonen, brennende, monströse Kreaturen, die sich wie eine Flut über die Felsen ergossen. Aus dem diesigen Himmel regneten Geschosse auf die Streitmacht herab. Sie sahen aus wie Felsbrocken, in Wirklichkeit jedoch handelte es sich um Höllenbestien.

Eine solch große Streitmacht konnte nicht in so kurzer Zeit durch das Portal gekommen sein, das wurde Rhonin klar, während er voller Entsetzen das endlos erscheinende Heer betrachtete. Es gab nur eine Erklärung: Archimonde hatte die Heere aus ganz Kalimdor hier zusammengezogen, weil er wusste, dass ihm nur die Nachtelfen ernsthaft gefährlich werden konnten.

Sein geschickter Schachzug war erfolgreich gewesen. Jetzt war sein Gegner genau dort, wo er ihn haben wollte.


Die Stimmen in Neltharions Kopf flüsterten aufgeregt. Der schwarze Drache hörte ihnen angespannt zu, obwohl sie immer wieder das Gleiche verkündeten:

Die Zeit ist gekommen

Die Zeit ist gekommen

Die Zeit ist gekommen

Er hob die Drachenseele empor und blickte über ihren Rand hinweg auf die anderen Aspekte.

„Es ist so weit“, donnerte er.

Die anderen nickten verstehend und verließen nacheinander die große Höhle. Erst als Neltharion mit den Stimmen allein war, wagte er es, die Wahrheit auszusprechen:

„Meine Zeit ist gekommen.“


Nur Minuten später strömten die Leviathane aus allen Klüften und Höhlen. Einige kletterten aus dem Erdboden hervor, andere sprangen vom Berggipfel. Aus jedem erdenklichen Ausgang quollen Drachen.

Es war Zeit zu handeln.

Nie zuvor in der Geschichte der Welt hatten sich so viele Drachen an einem Ort befunden. Als sie sich in die Lüfte erhoben, gab es etliche, die beinahe ehrerbietig auf den Anblick reagierten, den sie zusammen mit den anderen boten. Rote Drachen flogen neben Bronzefarbenen und Grünen. Blaue und Schwarze tauchten als dunkle Tupfer zwischen ihnen auf. Die fünf großen Clans waren zu einem einzigen geworden.

Es gab Drachen, deren Flügel den Himmel zu umspannen schienen und gegen die andere wie Motten wirkten. Doch jeder, egal ob alt oder jung, musste mitfliegen. So hatten es die Aspekte beschlossen.

Die ersten Drachen, die aufstiegen, flogen jedoch nicht direkt auf das Land der Nachtelfen zu. Stattdessen kreisten sie hoch über den Bergen und warteten auf die anderen. Der Himmel war voll von ihnen. Sie flogen übereinander und untereinander, um Kollisionen zu vermeiden.

Immer mehr Drachen kamen aus den Bergen. Wer sie sah, musste glauben, das Ende der Welt stehe vor der Tür, und vielleicht war es ja auch so. Die Leviathane realisierten das Böse, das von den Dämonen ausging. Im Angesicht einer solchen Bedrohung durfte sich niemand dem Kampf verweigern. Einer nach dem anderen brüllte leidenschaftlich in Erwartung der kommenden Schlacht.

Dann erschienen auch die Aspekte: Alexstrasza, die Rote, die Mutter des Lebens; Malygos, der Blaue, der Hexenmeister; die grüne Ysera, Herrin der Träume; und da Nozdormu, der Zeitlose abwesend war, hatte seine älteste Gefährtin seinen Platz eingenommen.

Erst, als alle versammelt waren, zeigte sich Neltharion, der schwarze Drache und Erdwächter.

Die winzige Scheibe leuchtete hell und zog trotz ihrer schmucklosen Erscheinung die Aufmerksamkeit der Drachen auf sich. Neltharion brüllte, als er sich in die Luft erhob. Sein Ruf hallte über die Bergkette.

Die anderen Drachen folgten Neltharion. Die Zeit der Abrechnung war gekommen. Sie alle hatten einen Teil ihrer selbst gegeben, um die gewaltigste Waffe aller Zeiten zu erschaffen. Und sollte sie nicht ausreichen, um den Gegner zu bezwingen, blieben ihnen immer noch ihre Klauen und Zähne.

Würde aber auch das nicht ausreichen, gab es keine Hoffnung mehr.


Tyrande hörte die Rufe und den Hörnerklang. Sofort begriff sie, was geschehen war. Die Schlacht hatte eine neue, unvorhergesehene Wendung genommen. Die Dämonen schlugen mit aller Härte zurück.

Sie entschuldigte sich hastig bei dem Verwundeten, den sie geheilt hatte und sprang auf ihren Nachtsäbler. Shandris, die bereits im Sattel saß, machte rasch Platz für sie. Dann ritten sie los, um nach den anderen Schwestern zu suchen.

Die meisten warteten bereits auf ihr neues Oberhaupt. Dazu zählten nicht nur die Priesterinnen, die man Tyrande ursprünglich zugeteilt hatte, sondern auch viele ältere. Alle knieten nieder oder verbeugten sich, als sie sich ihnen näherte.

„Bitte lasst das“, sagte Tyrande, die sich bei dem Anblick unwohl fühlte. „Das ist überflüssig.“

„Wir erwarten deine Weisungen“, antwortete Marinda respektvoll.

Vor diesem Moment hatte sich Tyrande gefürchtet. Sie wusste, wie man Hilfe für Flüchtlinge und verletzte Soldaten organisierte, aber die Schwestern in den Kampf zu schicken, war etwas völlig anderes.

„Wir müssen…“ Sie unterbrach sich und bat Mutter Mond stumm um ihren Beistand. „Wir müssen uns aufteilen, um die schwächsten Bereiche der Front zu unterstützen… aber nicht alle. Ein Drittel von uns bleibt in den hinteren Reihen und kümmert sich um die Verwundeten.“

Einigen Schwestern schien das nicht zu gefallen. Sie wollten vorne mitkämpfen. Tyrande verstand das, aber sie wusste auch, dass die Schwesternschaft trotz der verzweifelten Schlacht nicht die anderen Gaben ihres Tempels vergessen durfte.

„Wir benötigen Heilerinnen für die Soldaten. Jeder Streiter, der an die Frontlinie zurückkehren kann, ist ein Gewinn. Bedenkt auch dies: Die Schwesternschaft der Elune darf nicht aussterben. Wenn wir alle kämpfen und vielleicht dabei umkommen, wer wird dann noch da sein, um ihre Lehren und ihre Liebe zu verbreiten?“ Tyrande ver4suchte nicht daran zu denken, dass es vielleicht schon bald niemanden mehr geben würde, dem man die Lehren der Elune vermitteln konnte. Die Dämonen würden daran wohl kein Interesse finden.

„Wir hören und gehorchen“, sagte eine ältere Priesterin. Die anderen nickten.

„Marinda, du wirst die Gruppe der Heilerinnen leiten.“

„Ja, Mylady.“

Tyrande fuhr fort: „Sollte ich sterben, wirst du meine Position einnehmen.“

Die Nachtelfe sah sie entsetzt an. „Tyrande…“

„Die Kette darf nicht unterbrochen werden. Das habe ich begriffen. Ich hoffe, du begreifst es auch.“

„Ich…“ Marinda unterbrach sich. „Ja, das tue ich.“ Ihr Blick glitt über die anderen Priesterinnen. Ebenso wie Tyrande vor ihr dachte nun sie darüber nach, wer ihre Stelle einnehmen würde, wenn sie fiel.

Die neue Hohepriesterin atmete tief durch. Vielleicht hatte sie ihre Entscheidungen übereilt getroffen, doch mit diesen Zweifeln konnte sie sich jetzt nicht beschäftigen. Die Schwestern wurden gebraucht. Elune wurde gebraucht.

„Das ist alles… Möge das weise Licht von Mutter Mond eure Pfade erhellen.“

Es war eine uralte Abschiedsfloskel. Tyrande blieb zurück, während die meisten Schwestern sich abwandten und zu ihren Posten gingen. Die Gruppe, die ihr zugeteilt war, stieg auf die Nachtsäbler.

Eine Schwester sah Tyrande an. „Mylady, was ist mit ihr?“

„Ihr?“ Sie blinzelte. Sie hatte sich so an Shandris gewöhnt, dass sie erst jetzt erkannte, dass das Mädchen sie nicht begleiten konnte.

Shandris schien zu wissen, was sie sagen wollte, denn sie hielt die Zügel mit beiden Händen fest. „Ich komme mit dir!“

„Das geht nicht.“

„Ich kann mit einem Bogen umgehen. Mein Vater hat mir das beigebracht. Ich bin bestimmt so gut wie die da!“

Trotz des bevorstehenden Kampfes mussten die Schwestern über so viel Trotz schmunzeln.

„Wirklich so gut?“, scherzte eine.

Tyrande nahm Shandris’ Hand. „Nein, du bleibst hier.“

„Aber – “

„Steig ab, Shandris.“

Die Waise stieg ab. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie sah Tyrande aus großen Augen an und löste damit Schuldgefühle bei der Priesterin aus.

„Ich bin bald zurück, Shandris. Du weißt, wo du warten musst.“

„Ja… Mylady.“

„Kommt“, sagte Tyrande zu den anderen. Elune hatte sie für ihre Rolle auserkoren, also musste sie damit leben und ihre Pflichten so gut wie möglich erfüllen. Dazu gehörte auch, dass sie so viele Schwestern am Leben erhielt, wie Mutter Mond ihr erlaubte.

Selbst wenn sie sich selbst dafür opfern musste.

Shandris sah ihnen nach. Ihr Gesicht war tränennass, und sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ihr Herz schlug im Rhythmus der Kriegstrommeln.

Als sie es nicht mehr aushielt, lief sie den Priesterinnen hinterher.

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