„Das ist unerträglich“, sagte Lord Stareye, während er ein wenig Schnupfpulver aus einem Beutel nahm und es durch ein Nasenloch schniefte. „Wir haben uns die Gelegenheit durch die Lappen gehen lassen, Kur’talus.“
„Vielleicht, Destel. Vielleicht auch nicht. Aber wir müssen uns damit abfinden, dass es nun einmal geschehen ist.“
Die beiden Adligen standen mit einigen anderen aristokratischen Offizieren in Lord Ravencrests Zelt und sprachen über die nächste Vorgehensweise. Desdel Stareye war der Meinung, Krasus habe die Streitmacht voreilig gestoppt; schließlich war der Feind ja vor den Nachtelfen geflohen. Stareye war überzeugt, dass die Soldaten den Feind bis Suramar hätten treiben können – eine Ansicht, die er mehrfach dargelegt hatte, vor allem, seit Krasus und die anderen der Gruppe beigetreten waren.
„Die Soldaten haben mutig gekämpft“, antwortete der Magier höflich, „aber sie sind aus Fleisch und Blut und daher erschöpft. Sie brauchen diese Pause.“
„Und was zu essen“, grunzte Brox, der die Zauberer begleitete. Bei den Nachtelfen war der Orc zwar nicht gern gesehen, aber da Ravencrest ihn nicht aus seinem Zeit geworfen hatte, schwiegen sie. Sogar Stareye äußerte sich nicht abfällig über seine Gegenwart.
„Ja, das stimmt“, sagte der Herr von Black Rook Hold. „Die Soldaten und die Flüchtlinge müssen essen und schlafen. Damit ist das Thema erledigt. Wenden wir uns also der Zukunft zu.“
„Zin-Azshari ist die Zukunft“, meldete sich Stareye prompt zu Wort. „Wir müssen Königin Azshara retten.“
Die anderen Adligen stimmten zu. Krasus verzog das Gesicht, schwieg jedoch. Er und seine Begleiter hatten vor ihrem Besuch im Zelt über das Problem gesprochen. Sie waren zu der Überzeugung gelangt, dass die Nachtelfen sich an dem Glauben, die Königin sei eine Gefangene der Dämonen, regelrecht aufrecht hielten. Da aber Zin-Azshari auch der Ort war, an dem die Brennende Legion nach Kalimdor einfiel, schien nichts gegen dieses Ziel zu sprechen. Die Hauptstadt musste eingenommen werden, ganz gleich, aus welchem Grund.
Krasus bezweifelte jedoch, dass Malfurions Volk dazu allein in der Lage sein würde.
Er ignorierte die Höflichkeitsregeln, stand auf und sagte: „Mylord Ravencrest, ich muss mich noch einmal zu einem Thema äußern, das Ihr nicht besprechen wollt, das aber doch besprochen werden muss.“
Ravencrest nahm einen Weinkelch entgegen, den Lord Stareye gefüllt hatte. Selbst inmitten einer solch großen Krise achteten die Nachtelfen noch auf ihre Hierarchie. „Du redest von einem Gespräch mit Zwergen und ähnlichem.“
Neben ihm verdrehte Stareye die Augen. Auch die anderen Adligen schnitten ähnliche Grimassen.
Der Magier ahnte, dass seine Bitte auch dieses Mal kein Gehör finden würde, blieb aber hartnäckig. „Die Zwerge, die Tauren und die anderen Völker kämpfen in diesem Moment selbst gegen die Brennende Legion. Solange wir ein jeder für sich kämpfen, haben wir keine großen Siegeschancen, aber gemeinsam könnten wir Zin-Azshari ohne große Verluste einnehmen.“
„Tauren in Zin-Azshari?“, stieß ein Adliger hervor. „Wie barbarisch!“
„Gefallen ihnen Dämonen dort besser?“, murmelte Rhonin an Malfurion gewandt.
„Du verstehst das nicht“, antwortete der Druide resignierend.
„Stimmt.“
Der bärtige Kommandant trank seinen Wein und reichte Lord Stareye den leeren Kelch. Dann sah er den Magier an, als gelte sein Blick einem respektierten, aber fehlgeleiteten Alten. „Meister Krasus, dein Rat hat uns während dieses Unternehmens sehr geholfen. Dein magisches Wissen ist größer als das unserer Zauberer, und wenn es um dieses Wissen geht, werde ich mich gerne wieder an dich wenden.“ Sein Gesichtsausdruck wurde düsterer. „Allerdings geht es hier um andere Dinge, daher muss ich dich daran erinnern, dass du keiner der unsrigen bist. Du verstehst die grundlegenden Tatsachen nicht. Selbst wenn ich so verrückt wäre, die Zwerge und die Tauren zu Hilfe zu rufen, würden sie nicht kommen. Sie misstrauen uns so sehr, wie sie einander misstrauen. Und selbst wenn sie es täten, würden unsere Soldaten nicht an ihrer Seite kämpfen.“
„Die Zwerge würden uns wahrscheinlich in den Rücken fallen“, mischte sich Stareye ein. „Sie sind für ihre Hinterlist bekannt. Sie würden uns ausrauben und zurück in ihre Löcher kriechen.“
Ein anderer Offizier fügte hinzu: „Und die Tauren würden sich die ganze Zeit gegenseitig bekämpfen. Sie sind Tiere, keine zivilisierten Wesen. Ihr Chaos würde unsere Soldaten so sehr beeinträchtigen, dass die Dämonen leichtes Spiel hätten.“
Lord Ravencrest nickte zustimmend. „Verstehst du, Meister Krasus? Wir würden unsere Streitmacht in ein Tollhaus verwandeln. Der Krieg könnte nur in einer Katastrophe enden.“
„In der wird er auch enden, wenn wir allein vorrücken.“
„Dieses Thema ist hiermit erledigt, mein guter Zauberer. Ich möchte dich respektvoll darum ersuchen, es nicht wieder anzusprechen.“
Die beiden starrten sich mehrere Sekunden lang an, dann sah Ravencrest als erster zur Seite. Trotz des kleinen Siegs entschuldigte sich Krasus.
„Vergebt mir meine Aufdringlichkeit“, sagte er.
„Wir werden jetzt über Vorräte und Logistik sprechen, Meister Krasus. Außer Illidan, der mir direkt unterstellt ist, muss eigentlich kein Zauberer anwesend sein. Ich schlage vor, dass ihr euch die Ruhe gönnt, die ihr verdient habt. Wir werden eure Kräfte brauchen, wenn wir weiterziehen.“
Krasus verbeugte sich höflich und schwieg. Dann verließ er zusammen mit den anderen ruhig das Zelt.
Doch kaum war er außer Hörweite, sagte er bitter: „Ihre Kurzsichtigkeit wird eine Tragödie auslösen. Ohne eine Allianz mit den anderen Völkern kann es keinen Sieg geben.“
„Sie werden sie nicht akzeptieren“, beharrte Malfurion. „Mein Volk wird nie Seite an Seite mit ihnen kämpfen.“
„Sie haben Korialstrasz sofort akzeptiert“, konterte Rhonin.
„Nur wenige würden es wagen, sich gegen einen Drachen zu stellen, Meister Rhonin.“
„Wie wahr“, murmelte Krasus nachdenklich. „Rhonin, ich muss sie suchen.“
„Wen?“
„Meine… die Drachen natürlich.“
Brox schnaufte, und Malfurion wirkte überrascht. Der Druide wusste, dass es eine Verbindung zwischen Krasus und Korialstrasz gab, aber die ganze Wahrheit kannte er nicht.
„Die Drachen, Meister Krasus? Aber sie halten sich verborgen. Wie wollt Ihr sie finden?“
„Ich habe meine Methoden… doch dazu brauche ich ein schnelles Transportmittel. Die Nachtsäbler sind zu langsam. Ich brauche etwas, das fliegen kann.“
„Wie ein Drache?“, fragte Rhonin trocken.
„Etwas Kleineres würde es auch tun, mein Freund.“
„Ganz in der Nähe liegt ein Wald“, sagte Malfurion überraschend. „Vielleicht kann ich Kontakt zu Cenarius aufnehmen. Er könnte eine Lösung wissen.“
Es war Krasus anzusehen, dass er die Idee für nicht sehr erfolgversprechend hielt, aber niemand sonst schien einen besseren Vorschlag zu haben. Also nickte er schließlich und sagte: „Wir müssen so bald wie möglich abreisen. Captain Shadowsong wird ansonsten versuchen, uns aufzuhalten, oder schlimmer noch, uns mit seinen Truppen zu begleiten. Ich fürchte, dadurch würden wir die Aufmerksamkeit der Brennenden Legion und der Nachtelfen auf uns ziehen.“
Jarod und der restlichen Leibwache hatte man eine Erholungspause zugestanden. Inmitten der Streitmacht glaubte niemand, dass die Zauberer körperlich gefährdet waren, und gegen magische Angriffe waren die Soldaten ohnehin nicht gerüstet. Während des Marschs würde die Leibwache ihre Pflichten natürlich wieder aufnehmen.
Aber bis dahin wollte Krasus längst unterwegs sein.
„Hältst du das wirklich für nötig?“, fragte der rothaarige Magier.
„Ich gehe aus zwei Gründen, Rhonin. Über den ersten haben wir gerade gesprochen. Die Drachen könnten die Schlacht entscheiden. Der zweite Grund ist persönlicher. Ich möchte wissen, warum ich nur Schweigen von ihnen wahrnehme. Wie du weißt, dürfte das nicht der Fall sein. Ich muss die Wahrheit herausfinden.“
Niemand widersprach ihm. Lord Ravencrest wollte den Marschbefehl bei Einbruch der Dunkelheit geben. Dann würde Krasus’ Abwesenheit auffallen, also musste er bis dahin weit weg sein.
Rhonin nickte. „Was ist mit mir und Brox?“
„Wenn es unserem Druidenfreund gelingt, mir ein Transportmittel zu besorgen, sollte er lange vor Nachteinbruch zurück sein. In der Zwischenzeit sollten du und Brox versuchen, Ravencrest aus dem Weg zu gehen. Er könnte Fragen über uns stellen. Und er wird schon wütend genug werden, wenn er entdeckt, dass ich weg bin.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Dann stellt wenigstens niemand mehr öffentlich seine Entscheidungen in Frage.“
Krasus ignorierte den Scherz des Menschen und wandte sich an Malfurion. „Wir müssen aufbrechen. Wenn wir auf Nachtsäblern in die Zone der Flüchtlinge reiten, werden uns die Soldaten nicht aufhalten. Dann können wir umdrehen und uns auf den Weg in den Wald machen.“ Er zischte leise. „Und dann können wir nur noch hoffen, dass dein Lehrer uns wirklich seine Hilfe anbietet.“
Sie ließen die anderen zurück und hielten sich an den Plan des Magiers. Die Soldaten beobachteten sie mit leichtem Misstrauen und auch Neugierde, aber da sie sich nicht in Frontrichtung bewegten, schwand ihre Aufmerksamkeit bald.
Malfurion gefiel die Idee des Zauberers nicht, aber er schwieg. Er respektierte Krasus’ Weisheit. Längst hatte er verstanden, dass der ältere Magier mehr über Drachen wusste als jeder andere, den er je getroffen hatte. Er wirkte sogar häufig selbst wie ein Drache. Wahrscheinlich hatte er irgendwann einmal die Gelegenheit gehabt, bei diesen einzigartigen Wesen zu leben. Eine andere Erklärung für seine Verbindung zu den Leviathanen gab es wohl kaum.
Nach fast drei Stunden erreichten sie endlich den Wald. Malfurion fühlte nicht den Frieden, den er bei seinem letzten Aufenthalt zwischen Bäumen gespürt hatte. Dieser Wald war von der Legion beschmutzt worden, und dieser Makel war haften geblieben. Hätte sich das Schlachtenglück nicht gewendet, wären die Pflanzen längst zerstört worden.
Trotz der Drohung, die in der Luft lag, gab es noch reichlich Leben hier. Vögel sangen, und Malfurion spürte, wie die Bäume sich gegenseitig über die neuen Eindringlinge informierten. Das Rauschen der Blätter wurde lauter, wenn Krasus sich ihnen näherte, so als wüssten auch die Bäume, dass er etwas Besonderes war. Den Nachtelf hießen sie willkommen, denn sie erkannten seine Aura und spürten, dass Cenarius ihn gesegnet hatte.
Doch den Halbgott selbst erspürte Malfurion nicht. Cenarius hatte viele Aufgaben. In erster Linie musste er die anderen Halbgötter davon überzeugen, für die Rettung ihrer Welt zu kämpfen. Durfte Malfurion überhaupt hoffen, dass der Waldgott die Zeit fand, auf seine Anrufung zu reagieren?
„Dieses Land hat schon viel gelitten“, sagte sein Begleiter. „Ich kann das Böse spüren, das hier wütete.“
„Ich ebenfalls. Krasus, ich weiß nicht, ob Cenarius mich erhören wird.“
„Ich kann dich nur bitten, es zu versuchen, Malfurion. Wenn es fehlschlägt, werde ich dir keinen Vorwurf machen. Dann werde ich meine Reise auf einem Nachtsäbler unternehmen müssen, auch wenn sie dadurch viel Zeit erfordern wird.“
Sie drangen tiefer in den Wald ein, bis Malfurion einen Platz fand, der friedlicher wirkte. Beide stiegen von ihren Reittieren ab.
„Soll ich dich allein lassen?“, fragte der Magier.
„Wenn Cenarius auf meinen Ruf reagieren sollte, wird er kommen. Es spielt keine Rolle, ob Ihr dabei seid oder nicht, Meister Krasus.“
Malfurion setzte sich in das weiche wilde Gras. Krasus trat respektvoll zur Seite, um den Druiden nicht zu stören.
Mit geschlossenen Augen konzentrierte sich Malfurion. Zuerst tastete er nach den Bäumen und den anderen Lebensformen und suchte unter ihnen nach einem Hinweis auf den Halbgott. Wenn Cenarius hier gewesen war, würde er es bald erfahren.
Doch der Wald wusste nichts über den Halbgott. Frustriert dachte der Druide seine anderen Möglichkeiten durch. Er erkannte, dass er seinen shan’do nur durch den smaragdgrünen Traum mit Sicherheit kontaktieren konnte.
Das hatte er befürchtet. Malfurion atmete tief durch und konzentrierte sich auf die fremde Welt. Er musste den Traum nicht wirklich betreten, nur seine Enden berühren. Das reichte, um seine Gedanken an Cenarius zu übertragen. Schon diese kleine Berührung beunruhigte Malfurion, doch er wusste, dass es sein musste.
Er spürte, wie er sich von seiner sterblichen Hülle zu lösen begann. Der Druide wagte es jedoch nicht, die Trennung zu vollenden, sondern verharrte auf halbem Weg. Das war schwieriger, als er gedacht hatte, doch diesen Zustand würde er ja nicht lange halten müssen. Er stellte sich Cenarius vor und benutzte dieses Bild, um eine Verbindung zu ihm aufzubauen.
Plötzlich wurde er von einer Stimme aus seiner Konzentration gerissen.
„Malfurion! Wir sind nicht allein.“
Der Rücksturz in seinen Körper erschütterte den Druiden. Benommen öffnete er die Augen… und sah eine Teufelsbestie auf sich zuschießen.
Jemand murmelte Worte der Macht, und der schreckliche Hund begann auszutrocknen. Die Bestie zog sich zusammen und wand sich, bis nur ein Haufen aus Knochen und Sehnen übrig blieb.
Krasus ergriff Malfurion und zog ihn mit überraschender Stärke hoch.
„Kannst du dich wehren?“, fragte der ältere Magier.
Dem Druiden blieb keine Zeit für eine Antwort, denn der Wald war plötzlich voller Dämonenhunde und gehörnter Teufelswächter. Die beiden Magier waren mindestens zehn zu eins unterlegen. Ihre Reittiere, die sie an einen Baum gebunden hatten, fauchten und zerrten an ihren Zügeln, aber sie konnten sich nicht befreien. Die Dämonen ignorierten die Panther. Ihr Ziel waren der Magier und der Druide.
Krasus malte einen unsichtbaren Kreis um sich und seinen Begleiter, dann murmelte er einen weiteren kurzen Zauber. Kristallspeere schossen aus dem Boden und wurden so groß wie ein Nachtelf.
Drei Teufelswächter wurden von den Speeren aufgespießt. Eine Bestie jaulte, als eine Spitze ihr die Schnauze abriss.
Durch Krasus’ schnelle Reaktion hatte Malfurion Bedenkzeit. Er betrachtete die Bäume, die den heranstürmenden Dämonen am nächsten standen, und bat sie um Hilfe.
Kräftige Äste beugten sich nach unten und schleuderten dann vier monströse Krieger empor. Die Dämonen verschwanden aus Malfurions Sicht und tauchten nicht wieder auf.
Andere Bäume streckten einfach nur ihre Äste aus, als die Legion heranstürmte. Eine Teufelsbestie fiel über einen Ast, eine andere brach sich mit lautem Knacken das Genick, als sie gegen das unerwartete Hindernis prallte.
Doch die Dämonen kamen immer noch näher, vor allem die Hunde. Die zwei gefangenen Magier schienen ihren Appetit anzuregen.
Malfurions Angriff war zwar erfolgreich gewesen, trotzdem schienen die Dämonen Krasus mehr zu fürchten – und das aus gutem Grund. Der Magier beherrschte seine Kunst weit besser als es der Nachtelf bisher gelernt hatte. Deshalb waren seine Zauber schnell und gnadenlos. Er wirkte bei weitem nicht mehr so krank wie bei ihrer ersten Begegnung. Man sah ihm zwar die Anstrengung an, aber er brach nicht darunter zusammen.
Ein Knall wie von einem Peitschenhieb hallte durch den Wald. Krasus griff nach seiner Kehle. Ein dünner, brennender Tentakel hatte sich darum gewickelt und zog sich wie eine Schlinge zusammen. Der Magier wurde von den Beinen gerissen und auf die Speere zugezogen, die er selbst erschaffen hatte.
Der Nachtelf wagte einen Blick über seine Schulter und sah ein Wesen, das beinahe so furchtbar wie Archimonde war – einen riesigen Skelettkrieger, in dessen gehörntem Schädel Flammenaugen steckten. Mit seiner brennenden Peitsche zog er Krasus ins Verderben. Er war größer als die anderen Dämonen. Sie wichen respektvoll vor ihm zurück, deshalb nahm Malfurion an, dass er ihr Anführer war.
Der Druide riss einige Grashalme aus und warf sie auf die Peitsche. Die Halme begannen sich rasch zu drehen. Wie Messerklingen schnitten sie tief in den Strang, bis er zerriss.
Krasus krächzte, als der Druck auf seinen Hals schwand, und fiel auf die Knie. Der Dämon stolperte einige Schritte zurück, wahrte jedoch sein Gleichgewicht. Er holte mit der immer noch sehr langen Peitsche aus. Sein Ziel war der Druide.
Malfurion sah keine großen Überlebenschancen. Sein Begleiter war verletzt, und sie waren von Dämonen umzingelt. Er und Krasus hatten den Fehler begangen, nicht sorgfältig genug auf die Meuchelmörder zu achten, die sie verfolgten. Der Anführer der Bestien war selbst erschienen, um diesen Fehler auszunutzen. Jarod konnte ihnen nicht helfen. Nur Rhonin und Brox wussten, wo sie waren, und beide ahnten nichts von der Gefahr, in der sie sich befanden. Wieso waren sie nur so leichtsinnig gewesen?
Zu seiner Überraschung schlug der Dämon aber nicht sofort zu. Stattdessen zischte er: „Ergib dich, Kreatur, und ich werde dich verschonen. Dasss verspreche ich im Namen meinesss Herrn Sssargerasss. Nur sssso kannsssst du überleben…“
Krasus räusperte sich. „Das Schicksal, das uns als Gefangene der Brennenden Legion erwartet, ist weitaus schlimmer als der Tod. Wir müssen kämpfen, auch wenn wir verlieren, Malfurion.“
Der Nachtelf dachte an seine Begegnung mit Archimonde und stimmte Krasus innerlich zu. Er konnte sich vorstellen, was die Dämonen mit Gefangenen anstellten, vor allem mit solchen, die ihre Pläne durchkreuzt hatten.
„Wir werden uns niemals ergeben!“
Die Feueraugen des Dämons flackerten wütend, dann ließ er die Peitsche vier Mal knallen. Blitze zuckten, als der Riemen den Boden berührte. Unförmige Gestalten erschienen plötzlich vor dem Dämon. Mit jedem Peitschenknall kam eine neue Teufelsbestie hinzu.
„Dann werden meine Tiere ihren Appetit an euch sssstillen, Zauberer!“
Krasus richtete sich auf und sah den Dämonenführer an. Seine Augen verengten sich.
Der Skelettkrieger erahnte den bevorstehenden Angriff. Er schwang die Peitsche herum und erschuf einen Nebel, der Funken sprühte.
Der Nachtelf schluckte einen Fluch herunter. Ihr Gegner hatte einen starken Zauber mit Leichtigkeit abgewehrt.
„Das hatte ich befürchtet“, murmelte Krasus. „Sein Name ist Hakkar. Er ist der Hundemeister.“
Malfurion hätte ihn gern gefragt, was er über den Dämon wusste, aber in diesem Moment griffen die anderen Ungeheuer wieder an. Die Speere halfen zwar bei der Verteidigung, aber die Dämonen versuchten sie jetzt mit Klauen und Zähnen zu zerstören. Hinter ihnen lachte ihr Anführer. Es klang wie das Zischen von tausend wütenden Schlangen.
Die ersten Teufelsbestien hatten die Barriere gerade überwunden, als von allen Seiten Krieger auf Nachtsäblern auftauchten. Ihre Panther töteten die ersten Dämonen, bevor sie überhaupt realisiert hatten, dass sie angegriffen wurden. Die Reiter sangen, während sie zustachen.
Malfurion erkannte erst jetzt, dass dies nicht Jarod Shadowsongs Soldaten waren. Die Rüstung der Reiter war silberner und für einen weiblichen Körper gedacht. Der Gesang, den er hörte, richtete sich an die Nachtkriegerin, die kämpferische Inkarnation von Mutter Mond.
Sie wurden von den Schwestern der Elune gerettet.
Zum ersten Mal sah Malfurion die ruhigen, sanften Priesterinnen in ihrer Kriegerinnenrolle. Die meisten trugen lange, gebogene Schwerter, während andere kurze Speere schwangen, die an beiden Enden zugespitzt waren. Ein paar benutzten Kurzbögen, die nicht länger als ihr Unterarm waren, aber mit denen man Pfeile in hoher Geschwindigkeit abschießen konnte.
Die Dämonen fielen unter dem Ansturm. Eine Priesterin schwang ihre Klinge mit der Leichtigkeit eines ausgebildeten Soldaten und enthauptete einen gehörnten Krieger. Zwei Nachtsäbler nahmen sich einen anderen Hund vor und schlugen so lange nach ihm, bis nur noch ein blutiger Kadaver übrig war.
Zwischen den beeindruckenden Kriegerinnen entdeckte Malfurion Tyrande.
Er wollte sie rufen, doch in diesem Augenblick sprang ihm ein Dämon entgegen. Der riesige Teufelswächter schlitzte ihn beinahe auf, doch dank seiner guten Reflexe konnte sich der Druide gerade noch zur Seite werfen. Er schlug auf und murmelte einen Zauber.
Das Erdreich unter den Füßen seines Gegners nahm eine feuchte, sandartige Konsistenz an. Der Teufelswächter sank bis zur Hüfte ein, konnte sich dann jedoch oben halten. Mit seiner freien Hand krallte er sich in den Boden und versuchte, sich aus dem Treibsand zu stemmen.
Malfurion ließ ihm diese Chance nicht. Er trat nach der Klinge in der Hand des Dämons. Der monströse Krieger wand sich und versuchte, nach seinen Beinen zu greifen. Malfurion stolperte, als sein Gegner seinen Fuß zu packen bekam. Er spürte, wie er in Richtung des Treibsandlochs gezogen wurde und legte seine Hand um den Griff des Schwertes.
Er holte aus und spaltete mit einem Schlag den Schädel des Teufelswächters.
Der Dämon versank. Malfurion richtete sich auf und sah, dass die Schlacht nicht gut für ihn und die seinen verlief. Die Schwestern hatten zwar die Oberhand gewonnen, aber einige befanden sich in akuter Gefahr.
Er hatte den Gedanken noch nicht vollendet, da wurde eine Priesterin auch schon von einer Teufelsbestie aus dem Sattel gerissen. Die Bestie durchbiss ihren Nacken, als bestünden die Knochen nur aus Stoff. Eine andere Schwester stürzte zu Boden, als ein Dämon seine Waffe durch die geöffneten Kiefer ihres Nachtsäblers stieß. Die Spitze der Klinge trat zwischen den Schulterblättern heraus. Ein zweiter Dämonenhund tötete die Priesterin nur wenige Sekunden später.
Malfurion war entsetzt, als sein Blick zu Tyrande zurückschweifte. Sie konzentrierte sich auf den Kampf gegen einen Teufelswächter und bemerkte nicht, dass der Hundemeister mit seiner Peitsche ausholte.
Er hatte wohl auf ihre Kehle gezielt, doch eine zufällige Bewegung ihres Reittiers verhinderte das. Stattdessen wickelte sich der Riemen um ihre Arme und presste sie an ihren Körper. Der Skelettkrieger zog Tyrande von ihrem Panther. Trotz ihrer Rüstung schien sie für ihn nicht schwerer als eine Puppe zu sein.
„Nein!“, schrie Malfurion und sprang vor.
Krasus, der gerade einen Zauber begonnen hatte, versuchte ihn zurückzuhalten. „Druide, du bist hier sicherer – “
Doch der Nachtelf interessierte sich nur für Tyrande. Er dachte nicht mehr an seine Fähigkeiten, sondern lief ihr durch den tobenden Kampf entgegen. Als er nahe genug herangekommen war, warf er sich nach vorne – allerdings nicht in die Richtung, in der sich Tyrande befand.
Er prallte gegen den gewichtigen Hundemeister, konnte ihn zwar nicht umwerfen, aber doch seine Konzentration stören. Die Peitsche löste sich von der Priesterin, die sanft im Gras landete.
„Narr!“, bellte der Hundemeister und ergriff den Druiden bei den Schultern. „Ich bin Hakkar… und du bist niemand!“
Er sah die Waffe nicht, die Malfurion aus dem Gürtel zog. Die schmale Klinge bohrte sich in den Ellenbogen des Dämons.
Hakkar heulte auf und ließ seine Beute los. Er zog den Dolch aus seinem Arm. Dickflüssiges Dämonenblut troff von der Klinge. Der Hundemeister setzte sie jedoch nicht gegen Malfurion ein, sondern warf sie achtlos zur Seite und griff nach seiner Peitsche. Mit erhobenem Arm ging er auf den Druiden zu.
„Sssseine Befehle lauten, dich wenn möglich lebend gefangen zu nehmen… ich glaube aber, dasss wird nicht möglich ssssein.“
Hakkar schlug zu. Malfurion krümmte sich zusammen, als Blitze über seinen Körper zuckten. Es fühlte sich an, als würde er bei lebendigem Leib verbrannt.
Doch ein Teil von ihm blieb trotz der Schmerzen ruhig. Dieser Teil konzentrierte sich auf Cenarius’ Lehren und hielt sich von der Pein fern. Das Feuer der Peitsche verging. Der Hundemeister traf ihn ein zweites und ein drittes Mal, aber er spürte nichts davon.
Malfurion wusste, dass die Angriffe früher oder später seinen Körper zerstören würden, auch wenn er den Schmerz nicht spürte. Die Lehren seines shan’do verhinderten das nicht, sie gaben ihm nur die Möglichkeit, sich zu verteidigen – falls er sich überhaupt verteidigen konnte.
„Vielleicht lassse ich dich doch ein wenig leben“, zischte Hakkar und schlug ein weiteres Mal zu. „Ein bissschen Leben genügt für die Folter… nur ein bissschen.“
Der riesige Dämon hob erneut die Peitsche.
Malfurions Blick richtete sich auf den Himmel. Die Wolkendecke unterstützte seine Bemühungen. Zuerst benötigte er jedoch die Hilfe des Windes, der die Wolken in Bewegung setzte. Ihnen gefiel die Störung nicht, und aus lauter Wut färbten sie sich rasch schwarz. Obwohl es Malfurion widerstrebte, schürte er ihren Zorn. Insgeheim zählte er auf ihre Eitelkeit. Schließlich gab es hier jemanden, der es wagte, seine eigenen Blitze zu schleudern.
Hakkar hielt seine Ruhe für das Eingeständnis seiner Niederlage. Seine Augen flackerten, als er weit ausholte. „Ein Schlag noch. Nur ein Schlag…“
Die Wolken grollten und erbebten.
Zwei gewaltige Blitze schossen aus dem Himmel und trafen den Dämon.
Hakkars Aufschrei erschütterte Malfurion bis ins Mark. Der Hundemeister wurde in helles Licht getaucht. Er riss die Arme empor, als wolle er umarmen, was ihn zerstörte. Seine schwarz verbrannte Peitsche entfiel seinen zitternden Fingern.
Die Teufelsbestien auf dem Schlachtfeld sahen auf und begannen zu jaulen.
Schließlich verging das himmlische Licht… und die aschgraue Leiche des Dämonenlords sackte haltlos zu Boden.
Die monströsen Hunde heulten noch ein letztes Mal, dann leuchteten ihre Körper auf, so wie sie es getan hatten, als Hakkar sie beschwor. Schließlich verschwanden sie. Nur ihr Klagen hallte noch für einen Moment über die Lichtung.
Ohne Hakkar und seine Teufelsbestien verloren auch die anderen Dämonen ihren Kampfeswillen. Als der letzte erschlagen worden war, eilte Krasus zu Tyrande.
Sie saß halb benommen im Gras. Als sie Malfurion sah, begann sie jedoch zu lächeln. Der Anblick ließ ihn seine eigenen Schmerzen vergessen.
„Tyrande, es ist ein Wunder, dass du hier bist…“
„Kein Wunder. Ich habe jemanden geheilt, der mir von einer Teufelsbestie hinter den Linien erzählte. Er beschrieb auch den Dämon, der sie anführte.“ Sie blickte kurz zu Hakkars Überresten. „Ich wollte dich und die anderen warnen, doch ihr wart bereits auf dem Weg hierher. Vielleicht hat Elune mein Denken gelenkt, denn ich ahnte, dass ihr in Gefahr wart.“
„Also hast du dich an die Schwestern gewandt. Nur wenige Soldaten könnten es mit ihnen aufnehmen.“
Sie lächelte müde, aber zufrieden. „Viele Aspekte des Tempels bleiben Außenstehenden verborgen.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde ernster. „Ist dir etwas passiert?“
„Mir geht es gut, allerdings befürchte ich, dass Krasus und ich umsonst hierher gekommen sind. Ich habe vergeblich versucht, Cenarius zu kontaktieren. Mit seiner Hilfe wollte ich ein Flugtier finden, das den Magier ins Land der Drachen bringt.“
„Rhonin und Brox haben so etwas angedeutet. Glaubt er wirklich, er könne sich mit Drachen treffen?“
Der Druide sah zu Krasus, dem zwei Schwestern dabei halfen, sich aufzurichten. Sie behandelten ihn mit dem gleichen Respekt, den ihm viele andere entgegenbrachten, ohne so genau zu wissen, warum sie es taten. Der Magier ging zu den Überresten des Hundemeisters. Seine Miene spiegelte Überraschung wider.
„Du siehst ihn doch selbst und spürst das Besondere in ihm, Tyrande. Ich glaube, er könnte es schaffen, sollte er in ihr Reich gelangen.“
„Aber wenn ihn kein Drache dorthin bringt, wird ihm die Reise wohl kaum rechtzeitig gelingen.“
„Ich weiß nicht. Ich – “ Ein Schatten glitt über ihn hinweg. Malfurion sah auf. Seine Hoffnungslosigkeit verflog.
Sie kreisten drei Mal um die Gruppe, dann landeten sie in der Nähe eines Nachtsäblers. Die große Katze zischte, versuchte sie aber nicht anzugreifen, so als wäre sie selbst nicht sicher, was eigentlich vor ihr hockte.
Ihre Flügel waren groß und gefiedert, ihre Köpfe erinnerten an Raben. Mit ihren geschuppten und klauenbewehrten Vorderläufen sahen sie aus wie pechschwarze Gryphons. Der Rest ihres Körpers war jedoch nicht der eines Löwen, sondern wirkte amphibienhaft, inklusive eines kräftigen, haarlosen Schwanzes.
„Hippogriffs“, erklärte der scheinbar allwissende Krasus. Er wirkte zufrieden. „Sichere und schnelle Flieger. Cenarius hat eine hervorragende Wahl getroffen.“
Tyrande wirkte nicht so begeistert. „Wieso sind sie zu zweit?“
Der Magier und der Druide sahen einander an. Beiden war klar, weshalb Cenarius nicht nur ein Flugtier geschickt hatte.
„Anscheinend soll ich Krasus begleiten“, sagte Malfurion.
Tyrande nahm seinen Arm. „Nein, nicht dorthin!“
„Der Waldgott hat eine gute Entscheidung getroffen“, unterbrach Krasus sie. „Der Druide kann die Hippogriffs besser anleiten, und durch seine Verbindung zu Cenarius wird auch die Königin der Roten ihn willkommen heißen… Alexstrasza, sie, die das Leben ist…“
Die Priesterin sah Malfurion flehentlich an, doch er musste dem Magier beipflichten. „Er hat Recht. Ich muss ihn begleiten. Vergib mir, Tyrande.“ Impulsiv umarmte der Druide die Priesterin. Tyrande zögerte, dann erwiderte sie die Umarmung. Malfurion sah sie an und fügte hinzu: „Ich befürchte, dass du Rhonin und Brox helfen musst, unsere Abwesenheit zu erklären. Wirst du das für mich tun?“
Sie ergab sich in das Unvermeidliche. „Natürlich werde ich das. So gut solltest du mich kennen.“
Die Hippogriffs krächzten, als könnten sie kaum noch den Beginn ihrer Reise erwarten. Krasus ließ sich davon anspornen. Als Malfurion auf sein Flugtier gestiegen war, blickte er noch einmal zurück zu Tyrande.
Sie ergriff sein Handgelenk und flüsterte etwas. Erst nach einem Moment erkannten die beiden Reiter, dass die Priesterin Elunes Segen über Malfurion aussprach.
„Gute Reise“, sagte sie schließlich leise. „Und komm gesund zurück… für mich.“
Der Druide schluckte. Seine Stimme versagte. Krasus unterbrach die angespannte Situation, indem er sein Tier sanft nach vorne trieb. Das Hippogriff krächzte und setzte zum Start an. Malfurions Flugtier folgte ihm instinktiv.
„Leb wohl und danke, Tyrande“, sagte er. „Ich werde bald zurück sein.“
„Darauf verlasse ich mich, Mai!“
Er lächelte, als sie seinen alten Spitznamen benutzte. Dann musste er sich hastig an dem Hippogriff festhalten, denn es stieg steil in die Lüfte empor, um seinem Gefährten zu folgen.
„Das wird eine lange Reise“, rief Krasus. „Doch dank des Waldgottes nicht so lang, wie befürchtet.“
Malfurion nickte, ohne wirklich zuzuhören. Sein Blick kehrte zu der Gestalt zurück, die rasch kleiner wurde. Sie sah ebenfalls zu ihm hinauf, und so betrachteten sie einander, bis sie sich nicht mehr sehen konnten.
Und selbst dann wandte er seinen Blick nicht ab. In seinem Herzen wusste er, dass Tyrande nichts anderes tat.