22

Die Linien der Nachtelfen verliefen so fließend, dass sich die Positionen aller Einheiten ständig änderten. Trotzdem versuchte Lord Ravencrest, so viel Ordnung wie irgend möglich aufrecht zu erhalten. Rhonin hatte sich zwar oft mit dem Adligen gestritten, doch jetzt war er froh, dass der Herr von Black Rook seine Soldaten so gut unter Kontrolle hatte. Jemandem wie Desdel Stareye wäre das nicht gelungen.

Ravencrest entdeckte den Menschen und ritt auf ihn zu. „Zauberer, ich brauche dich da vorne, nicht hier hinten.“

„Einer von uns sollte in Eurer Nähe bleiben, Mylord.“ Hauptsächlich ging es Rhonin zwar darum, die Berichte der Kundschafter und Läufer zu hören, aber der Schutz des Kommandanten war ebenfalls wichtig.

„Mir wäre es lieber, wenn du die Mondgarde und Illidan unterstützen würdest.“ Zum ersten Mal gab Ravencrest ein Geheimnis preis. „Du solltest die Leitung übernehmen. Der Junge ist gut, aber wir brauchen Ordnung, nicht noch mehr Chaos. Würdest du das übernehmen?“

Rhonin konnte seinen Argumenten nicht widersprechen. Er spürte, dass Illidan immer unkontrollierter auf die Zauberer und den Brunnen Zugriff. Rhonin hatte den Wahnsinn des schwarzen Drachen erlebt. Jetzt fragte er sich, ob Illidan den gleichen Weg beschreiten würde, wenn er sich vollständig in seiner Magie verlor.

„Wie Ihr es wünscht, Mylord.“ Der Zauberer bewegte sein Reittier und begann nach Illidan zu suchen. Das war nicht sonderlich schwer. Er stach aus den Reihen heraus wie ein Leuchtturm. Seine silberne Aura war so blendend hell, dass sie die Kämpfer in seiner Umgebung blendete. Aber Illidan war so auf seinen eigenen Ruhm fixiert, dass er sich nicht um andere kümmerte.

Rhonin sah, wie der schwarz gekleidete Zauberer der heranstürmenden Horde einige Explosivgeschosse entgegenschleuderte. Dämonen flogen durch die Luft, abgetrennte Körperteile regneten rund um den Zauberer nieder. Allerdings gerieten auch ein paar Soldaten in den Zauber geraten und starben auf die gleiche Weise.

Ein Mitglied der Mondgarde brach zusammen, und Illidan beschimpfte die anderen. Die weitaus erfahreneren Zauberer bauten ihre Verbindung zueinander neu auf.

Was tut er da?, dachte Rhonin. Wenn er so weitermacht, bringt er sie um.

Illidan begann einen neuen Zauber, dann fiel ihm der Magier ins Auge. Er grinste und war so zufrieden mit der eigenen Leistung, dass er gar nicht bemerkte, wie schlecht es dem Rest der Armee ging.

„Meister Rhonin, habt Ihr gesehen – “

„Ich habe alles gesehen, Illidan! Ravencrest will, dass ich die Führung übernehme. Wir müssen unsere Angriffe koordinieren und so etwas wie Ordnung in unsere Reihen bringen.“

„Ihr sollt übernehmen?“ Ein gefährlicher Ausdruck prägte sich in das Gesicht des Elfen. „Für mich?“

„Ja.“ Rhonin erklärte ihm die Gründe nicht. Das Schicksal eines ganzen Volkes – einer ganzen Welt – lag in ihren Händen.

Illidan nickte bitter, dann fragte er: „Was werden wir tun?“

Der Magier hatte bereits darüber nachgedacht. Zunächst musste Illidan seine Verbindung zur Mondgarde aufgeben. Die Zauberer mussten sich ein wenig erholen, und das konnten sie am besten, während Rhonin sie anleitete.

„Ich habe vergeblich versucht, Krasus zu erreichen. Die ganze Magie, die hier in der Luft schwingt, verhindert es wahrscheinlich. Deine Verbindung zu deinem Zwilling sollte wegen der engen Verwandtschaft stärker sein. Finde die beiden. Wir brauchen ihre Hilfe.“

Die Augen des Zauberers verengten sich. Er wusste, weshalb Rhonin ihn wegschickte. Trotzdem nickte er. „Ich werde meinen Bruder finden. Was würden wir nur ohne seine Kräfte machen?“

Illidan wandte sich ab, bevor Rhonin darauf antworten konnte. Der Magier runzelte die Stirn, wusste jedoch, dass er von dem aufbrausenden jungen Nachtelf nichts anderes zu erwarten hatte.

Einige Mondgardisten wirkten erleichtert, als Rhonin ihre Koordination übernahm. Es interessierte sie längst nicht mehr, dass er ein Fremder war; sie wussten, dass er sie gut anleiten würde.

„Wir müssen ihre vorderen Reihen zerstören, so ähnlich wie beim letzten Mal“, sagte er. „Verbindet euch mit mir, dann können wir beginnen.“

Rhonin bereitete sich auf den Zauber vor und warf einen letzten Blick auf Illidan. Der Magier wirkte immer noch verärgert, befolgte jedoch die erhaltenen Anweisungen. Irgendwann, dachte Rhonin, würde Malfurions Bruder die Gründe verstehen, warum es so und nicht anders geschehen musste.

Zumindest hoffte er das.


Illidan verstand die Gründe für Rhonins Zurückweisung nicht einmal ansatzweise. Sein ganzes Leben lang hatte man ihm eine große Zukunft prophezeit. Er hatte geglaubt, seine Zeit wäre gekommen. Sein Volk lebte in Angst und Schrecken, war dem Untergang nahe. War dies nicht der Moment, um den Platz in der Geschichte einzunehmen, der einem gebührte?

Vielleicht hätte er es getan, wenn sich nicht zwei Personen, denen er eigentlich vertraute, gegen ihn gestellt hätten. Lord Ravencrest hatte Illidan aus dem Nichts heraus zu seinem Leibzauberer ernannt. Er hatte ihm das Kommando über die Mondgarde übergeben, und der Zauberer war überzeugt, dass er diese Aufgabe ohne Fehl und Tadel bewältigt hatte.

Doch jetzt hatte Ravencrest ihn aus dieser ehrenvollen Position entfernen lassen und ihn durch jemanden ersetzt, der noch nicht einmal ein Nachtelf war. Illidan respektierte Rhonin zwar, aber das war einfach zuviel. Der Magier hätte dies ebenfalls begreifen müssen. Rhonin vertraute ihm wohl doch nicht, sonst hätte er diesen Führungswechsel von sich aus abgelehnt.

Man hatte Illidan seinen Ruhm gestohlen… und ihn zu einem Botenjungen degradiert, der nach dem so hoch gelobten Malfurion suchen sollte.

Die dunklen Gedanken, die in seinem Verstand auf ihre Gelegenheit gewartet hatten, kehrten mit aller Macht zurück. Illidan versuchte zwar, geistigen Kontakt zu seinem Bruder herzustellen, ein Teil von ihm hoffte jedoch, dass Malfurion ein Opfer der Brennenden Legion geworden und deshalb nicht zurückgekehrt war. Der Zauberer wünschte ihm natürlich einen möglichst heldenhaften Tod, aber abgesehen davon störte ihn die Vorstellung, den Rest seines Lebens ohne seinen Bruder verbringen zu müssen, nicht sonderlich. Natürlich würde Tyrande um ihn trauern, aber er würde sie trösten…

Der Gedanke an Tyrande vertrieb die Düsternis. Illidan bekam Schuldgefühle, als ihm klar wurde, wie schrecklich die Priesterin leiden würde. Tyrande sollte dies nicht durchstehen müssen. Sie hatte Malfurion gewählt. Damit musste er sich abfinden.

Illidan konzentrierte sich auf seinen Zwillingsbruder. Erst wenn er seine Aufgaben erledigt hatte, konnte er über die Zukunft nachdenken. Bis vor kurzem hatte er geglaubt, Ravencrest und Tyrande würden eine große Rolle darin spielen – doch in beiden Personen hatte er sich geirrt.

Jetzt musste Illidan herausfinden, wohin er gehörte…

Brox schwang seine Axt und köpfte die Teufelsbestie, die ihm entgegengestürmt war. Neben ihm kämpften Jarod und die wenigen überlebenden Soldaten seiner Truppe gegen den nicht enden wollenden Strom der Dämonen. Die meisten hatten längst ihre Reittiere an den Feind verloren und fochten jetzt gemeinsam mit den Fußsoldaten.

Ein Reiter mit einem halb zerrissenen Banner tauchte in der Nähe des Orcs auf. Brox grunzte überrascht. Diese Einheit hielt sich normalerweise in Lord Ravencrests Nähe auf. Waren die Streitkräfte bereits so weit zurückgedrängt worden, dass die Linien völlig zusammengebrochen waren?

Er drehte den Kopf nach links. Sein Verdacht bestätigte sich. Der schwarze Rabenbanner der Festung flatterte unweit entfernt. Brox hatte nicht gemerkt, dass er sich so stark rückwärts bewegt hatte, doch das war der Beweis.

Ravencrest tauchte neben dem Banner auf. Er schonte sich nicht, sondern warf sich in den Kampf. Zuerst schlitzte er eine Teufelsbestie mit seinem Schwert auf, dann trat er ihr gegen den Kopf. Inmitten seiner persönlichen Leibwache wirkte der Herr über Black Rook selbst auf einen erfahrenen Kämpfer beeindruckend. Anfangs hatte Brox keinen Respekt vor den Nachtelfen gehabt, doch Ravencrest hatte sich als ein Krieger erwiesen, der es verdient gehabt hätte, ein Orc genannt zu werden.

Nachtelfen umschwärmten den Adligen, als könnte seine Stärke auf sie abfärben. Ravencrest hatte eine Fähigkeit, die kein Zauberer beherrschte – seine Soldaten wurden nur durch seine Anwesenheit stärker und entschlossener. Die Gesichter, in die Brox jetzt blickte, zeigten Härte und Stolz. Sie blickten dem Tod entgegen, aber sie würden alles geben, um den Sieg der Dämonen zu verhindern.

So viele Nachtelfen hatten sich rund um ihren Kommandanten versammelt, dass es beinahe schon gefährlich für ihn wurde. Mehr als einmal kam ihm eine Klinge seiner eigenen Soldaten bedrohlich nahe, aber er ignorierte sie, konzentrierte sich nur auf die Waffen der Feinde.

Ein berittener Soldat tauchte plötzlich dicht neben Ravencrest auf, dichter, als es nötig gewesen wäre. Der Nachtelf wirkte voller Grimm, aber nicht auf die gleiche Weise wie die anderen Soldaten. Sein Blick war auf Ravencrest gerichtet, nicht auf die Dämonen.

Der Orc begann auf den Kommandanten zuzulaufen.

„Brox?“, rief Jarod. „Wohin willst du?“

„Eile“, knurrte der grünhäutige Krieger. „Muss warnen.“

Der Captain blickte in die gleiche Richtung wie der Orc, sah aber offensichtlich nicht das, was ihm aufgefallen war. Trotzdem folgte er ihm.

„Weg!“, brüllte Brox die Nachtelfen an, die ihm im Weg standen. Er sah, wie der Reiter bereits in Position ging. In einer Hand hielt der Soldat sein Schwert und die Zügel seines Reittiers. Die andere schwebte über seinem Gürtel, in dem ein Dolch steckte. Im Kampf gegen die Legion war eine solche Waffe nutzlos. Er zog den Dolch und beugte sich zum Kommandanten vor.

„Achtung!“, schrie Brox, aber Ravencrest konnte ihn nicht hören. Der Lärm der Schlacht übertönte alle anderen Geräusche.

Das Reittier des Attentäters scheute und zwang ihn einige Schritte zur Seite. Brox stieß Soldaten aus seinem Weg und winkte mit seiner riesigen Axt in der Hoffnung, Ravencrests Aufmerksamkeit zu erregen.

Die des Adligen erregte er nicht… aber die des verräterischen Soldaten.

Dessen Augen wurden schmal. Verzweiflung verzerrte sein Gesicht, dann warf er sich dem Kommandanten entgegen.

„Vorsicht!“, schrie Brox.

Ravencrest begann sich zu dem Orc zu drehen. Er runzelte die Stirn, als wolle er nicht – von niemandem! – in seinem Tun unterbrochen werden.

Der Attentäter stieß ihm die Klinge in den Nacken.

Der Adlige versteifte sich im Sattel. Er ließ sein Schwert fallen und tastete nach der kleinen Klinge, aber der Soldat hatte sie bereits aus der Wunde gezogen. Blut lief über Ravencrests dünnen Umhang.

Niemand in seiner Nähe bemerkte, was geschehen war. Der Attentäter warf den Dolch weg und wollte davonreiten, doch die vielen Soldaten behinderten ihn.

Unter lautem Gebrüll bahnte sich Brox seinen Weg. Nachtelfen wichen ihm erschrocken aus, befürchteten wohl, er habe den Verstand verloren. Der Orc erklärte ihnen nicht, worum es ging. Ihn interessierte nur noch der Verräter.

Zitternd sackte Lord Ravencrest zusammen. Seine Soldaten drehten sich zu ihm um. Einige stützten ihn, um zu verhindern, dass er von seinem Reittier kippte.

Brox erreichte Ravencrest. „Da! Da!“

Einige Nachtelfen sahen ihn verwirrt an. Zwei schlossen sich dem Orc an.

Dem Attentäter fiel es schwer, sich mit seinem Tier einen Weg durch die Menge zu bahnen. Er schaute über seine Schulter und entdeckte die Verfolger. Fatalistisch nickte er, dann rief er seinem Nachtsäbler einen Befehl zu. Die Katze reagierte sofort und schlug einen Soldaten zur Seite, der den Weg verstellt hatte. Gleichzeitig biss sie einen zweiten. Andere Soldaten sprangen hastig zur Seite. Sie mussten denken, das Tier sei durchgegangen.

Brox schätzte die Entfernung ab und sprang. Er landete unmittelbar hinter dem Nachtsäbler, holte mit seiner Axt aus und schlug nach der Flanke der Katze.

Der Schlag streifte sie nur, dennoch fuhr sie, fauchend vor Wut, herum. Sie ignorierte die hastigen Befehle ihres Reiters und stürzte sich auf ihren Angreifer.

Brox parierte die Schläge der mächtigen Tatzen mühsam. Der Nachtsäbler knurrte und sprang.

Der Orc hob die Axt und grub die Klinge tief ins Fleisch der Katze, direkt unter ihrem Kiefer. Blut spritzte Brox entgegen. Er wich der Bestie aus, die, von ihrem eigenen Schwung getrieben, vorwärts stolperte.

Ein heißer Schmerz strich plötzlich über den linken Arm des Orcs. Er blickte darauf und sah eine klaffende blutende Wunde.

Der Attentäter riss das Schwert zurück und holte ein zweites Mal aus, aber eine andere Schwertklinge kreuzte die seine.

Jarod grunzte. Der Schwung des gegnerischen Schwerts zwang ihn beinahe in die Knie. Der verräterische Soldat trat nach dem Captain, aber Jarod wich ihm aus.

Der Captain achtete zu wenig auf den sterbenden Nachtsäbler. Die Katze rang mit dem Tod und schlug nach allem, was in ihre Nähe kam. Sie erwischte Jarod mit einer Tatze und schleuderte ihn zu Boden.

Brox zog seine Axt aus der Wunde. Mit einem gurgelnden Geräusch brach die Bestie endgültig zusammen und blieb reglos liegen.

Der Nachtelf sprang von seinem toten Reittier und stürmte Brox mit gezogenem Schwert entgegen. Er prallte gegen den erfahrenen Krieger und trieb ihn zurück. Der Orc kämpfte um sein Gleichgewicht.

„Stinkendes Monster!“, fauchte der Nachtelf. Er stieß mit der Schwertklinge nach Brox und trennte ihm fast das Ohr ab. Der Orc trat nach den Beinen seines Gegners, aber der Soldat sprang geschmeidig hoch…

… wo ihn Brox’ Axt traf, noch bevor seine Füße wieder den Boden berührten.

Ein Ausdruck völliger Überraschung trat auf das Gesicht des Verräters, als die Klinge zuerst durch seine Rüstung und dann in seine Brust schnitt. Seine Hand umklammerte immer noch sein Schwert, als er zurücktaumelte. Brox ging auf ihn zu.

Sein Gegner blieb schwer atmend stehen. Er hob sein Schwert und sah den Orc herausfordernd an.

Brox holte aus.

Doch zu seiner Überraschung ließ der Attentäter die Waffe fallen und rief: „Für Azshara!“

Die Axt durchschlug seine Rüstung mit aller Macht und grub sich tief in seine Brust. Der Nachtelf brach zusammen. Er war tot, bevor sein Körper auf dem blutgetränkten Erdreich aufschlug.

Brox trat neben die Leiche. Er stieß sie mit dem Fuß an, aber sie bewegte sich nicht.

Jarod tauchte neben ihm auf. Er rieb sich seinen linken Arm, schien ansonsten jedoch unverletzt zu sein. „Du hast ihn erwischt!“, sagte er. „Gut gemacht!“

Der Orc kümmerte sich nicht um das Lob. Sein Blick glitt zurück zu Lord Ravencrest. Einige Soldaten hatten ihn hoch gehoben und trugen ihn weg von der Front. Ravencrests Augen waren geschlossen. Es sah beinahe so aus, als würde er schlafen, aber Brox wusste, dass der Eindruck täuschte. Der Mund des Nachtelfen war leicht geöffnet, und ein Arm baumelte herab. Der Krieger wusste, was das bedeutete.

Brox hatte versagt. Der Herr von Black Rook war tot.

Die Streitmacht hatte ihren Anführer verloren.


Die behufte Gestalt legte amüsiert den Kopf schief. „Magst du etwa keine Überraschungen, Malfurion Stormrage? Oder habe ich mich so zu meinem Vorteil verändert, dass dein beschränkter Geist mich nicht mehr erkennt?“ Er verbeugte sich übertrieben. „Dann erlaube mir, mich erneut vorzustellen: Lord Xavius aus Zin-Azshari, wieder im Dienste der Königin… und wieder höchst lebendig.“

„Du bist… gestorben!“, stieß der Druide hervor. „Wurdest zerrissen…“

„Du hast mich ja schließlich umgebracht, nicht wahr?“ Der Sarkasmus war aus Xavius’ Stimme verschwunden. „Mich zerfetzt.“

Er machte einen weiteren Schritt auf den Druiden zu, genau wie Malfurion gehofft hatte. Je weiter dieses Ungeheuer sich von Tyrande entfernte, desto besser. Malfurion erinnerte sich an Legenden, in denen Wesen aufgetaucht waren, die wie Xavius aussahen. Man hatte diese listigen Dämonen als Satyrn bezeichnet.

„Du hast mich getötet“, fuhr der ehemalige Berater der Königin fort. Sein Grinsen war boshaft. „Und du hast mich zu einem noch schlimmeren Schicksal verdammt. Ich hatte den großen und ruhmreichen Sargeras enttäuscht… und wie es einem Gott zusteht, bestrafte er mich dafür mit aller Härte.“

Malfurion hatte die Gräuel gesehen, zu denen die Brennende Legion fähig war und konnte sich vorstellen, was Xavius mit „Härte“ meinte. Gnade war etwas, das den Dämonen völlig fremd sein musste.

Die monströsen künstlichen Augen leuchteten auf, als Xavius fortfuhr. „Ich hatte keinen Mund, und doch schrie ich. Ich hatte keinen Körper, und doch spürte ich Schmerzen jenseits deiner Vorstellungskraft. Aber meinem Herrn und Meister gab ich daran nicht die Schuld. Er tat nur, was getan werden musste.“

Trotz dieser Worte erschauderte der Satyr einen Moment lang. „Während meiner Strafe beschäftigte sich mein Verstand nur mit dem Gedanken an den, der mich in diese Lage gebracht hatte.“

„Wegen dir sind Hunderte gestorben“, entgegnete der Druide und bemühte sich, den Satyr weiter in seine Richtung zu locken. Er wollte einen Zauber versuchen, doch das ging nur, wenn sich Tyrande in sicherer Entfernung befand. „Du hast Unschuldige abgeschlachtet!“

„Nicht die Unschuldigen, sondern die Unvollkommenen. Die Welt muss für Sargeras und seine Anhänger gereinigt werden.“

„Sargeras wird Kalimdor zerstören! Die Brennende Legion wird alles zerstören!“

Xavius grinste. „Ja, das wird sie.“

Seine Antwort überraschte Malfurion. „Aber du hast doch gerade gesagt – “

„Was die Narren hören wollen – was der gute Captain Varo’then oder die Hochwohlgeborenen glauben… was ich selbst einst glaubte. Sargeras wird die Welt für seine Anhänger reinigen… und dann wird er sie vernichten, weil er das Leben in jeglicher Form hasst. So einfach ist das.“

„Meinst du nicht eher, so blutrünstig und irrsinnig ist das?“

Der Satyr hob die Schultern. „Alles eine Sache der Perspektive…“

Malfurion hatte genug gehört. Seine Hand tastete nach einer Gürteltasche.

Plötzlich griffen kräftige Arme nach ihm und hielten ihn fest. Der Druide versuchte sich zu wehren, aber seine Angreifer waren zu stark.

Es waren Satyrn, die ihn jetzt zu Xavius brachten, der breit grinste. Seine schrecklichen Augen schienen den Nachtelfen zu verhöhnen.

„Als mich der ruhmreiche Lord Sargeras auf diese Welt zurückschickte, verlangte er von mir vor allem anderen, ihm den zu bringen, der das erste Portal zerstört und damit seine Ankunft verhindert hat.“

Malfurion antwortete nicht, rang nur stumm mit seinen Gegnern.

Xavius beugte sich vor. Sein fauliger Atem strich über das Gesicht des Nachtelfen. „Aber er hat nicht gesagt, in welchem Zustand ich dich zu ihm bringen soll. Also fragte ich mich, ob ich dich ihm einfach so überlassen soll?“ Er kicherte. „Nein, sagte ich mir. Mein Herr wünscht, dass Malfurion Stormrage so sehr leidet, wie es nur möglich ist, und meine Pflicht ist es, diesen Wunsch zu erfüllen.“

Zu Malfurions Entsetzen ging der Gehörnte zurück zu Tyrande, deren Schlaf seltsam tief zu sein schien. Er beugte sich zu ihr hinab, bis sein Mund fast den ihren berührte.

„Lass sie in Ruhe!“, schrie der Druide.

Xavius drehte den Kopf und sah Malfurion an. „Ja, dachte ich, er muss leiden… aber wie? Er ist ein entschlossener junger Mann, der sich selbst opfern würde… aber was ist mit anderen? Was ist mit denen, die er liebt?“

Seine Klauenhand streichelte das Haar der Priesterin. Malfurion wand sich im Griff der Satyrn. Am liebsten hätte er seine Hände um Xavius’ Hals gelegt. Er hatte noch nie ein anderes Wesen gehasst – abgesehen von den Dämonen –, doch in diesem Moment hätte er dem ehemaligen Berater ohne Reue die Kehle zerquetscht.

Seine Wut amüsierte Xavius. Er sagte: „Ich habe schon bald bemerkt, dass es zwei Personen gibt, die Malfurion besonders mag. Die eine ist wie ein Bruder für ihn… um genau zu sein, es ist sein Bruder, sogar sein Zwilling. Als Kinder waren sie unzertrennlich, mittlerweile haben ihre Interessen und Sehnsüchte sie in verschiedene Richtungen getrieben, aber natürlich liebt Malfurion seinen Bruder noch – auch wenn Illidan Neid für den empfindet, dem sie den Vorzug gegeben hat…“

„Du hast mich. Lass die beiden in Ruhe.“

„Was wäre das denn für eine Strafe?“, fragte Xavius und erhob sich. Sein Gesicht nahm einen grausamen Zug an. „Was wäre das denn für eine Rache? Wie groß wird dein Schmerz sein, wenn du nicht nur einen von beiden verlierst, sondern beide.“ Er lachte. „Dein Bruder ist bereits verloren, auch wenn er das selbst noch nicht erkannt hat. Diese Person hier hätte ich beinahe übersehen… deshalb danke, dass du unsere Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hast.“

Die anderen Satyrn stimmten in das Lachen ihres Anführers ein. Malfurion verfluchte sich, weil er Tyrande gebeten hatte, ihm und Krasus zu helfen. Er trug Schuld, dass sie in die Gewalt dieser Ungeheuer geraten war.

„Nein, bei Elune! Das werde ich nicht zulassen!“

„Elune…“ Xavius sprach den Namen angewidert aus. „Es gibt nur einen Gott… und sein Name ist Sargeras.“

Er schnippte mit den Fingern, und die Satyrn zwangen den Druiden in die Knie. Xavius ging auf ihn zu. Seine Hufe schlugen laut gegen den Fels. Jeder Schritt hallte in Malfurions Kopf wider.

Doch plötzlich hörte er eine Stimme, die ihm so vertraut wie seine eigene war.

Bruder?

„Illidan?“, stieß er hervor.

„Ja“, antwortete Xavius, der glaubte, die Frage sei an ihn gerichtet. Er nahm wohl an, sein Gefangener wolle erfahren, was er dem Zauberer angetan hatte. „Er war erstaunlich zugänglich. Er liebt sie so sehr wie du, Malfurion… und er kommt nicht darüber hinweg, dass sie dich erwählt hat.“

Illidan liebt Tyrande? Der Druide wusste, dass sein Bruder sie mochte, aber nicht in diesem Ausmaß. Und sie liebt… mich?

Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass sein Bruder in seinen Gedanken war. Dessen Wut und Scham über die Enthüllung brandeten über Malfurion hinweg. Die Intensität der Gefühle erschreckte den Druiden.

Xavius missverstand seine Reaktion. „Ist das eine Überraschung? Ist es nicht wundervoll zu wissen, dass dich jemand liebt? Und ist es nicht furchtbar zu wissen, dass sie deshalb ebenso furchtbar gequält werden wird wie du?“

Illidan! Malfurion wandte sich an seinen Bruder. Illidan, Tyrande ist in Gefahr!

Nicht etwa Sorge, sondern Verachtung schlug ihm von seinem Bruder entgegen. Wieso wendet sie sich dann nicht an dich, den mächtigen ruhmreichen Herrscher über die Natur? Welche Hilfe kann sie schon von einem albernen Amateur erwarten, den seine Augenfarbe zu falschen Hoffnungen und Träumen verführte?

Illidan, man wird sie foltern! Sie wird zu Tode gefoltert werden!

Sein Zwilling antwortete nicht. Er schien sich zurückgezogen zu haben. Die Verbindung war noch vorhanden, aber sehr schwach.

Illidan!

Der Anblick des Satyrs riss Malfurion aus seinen Gedanken. Die Blicke aus den unnatürlichen Augen bohrten sich in seinen Geist, als wollten sie unbedingt herausfinden, was dort vor sich ging.

„Ich kann kaum glauben, dass du für mein Schicksal verantwortlich bist“, zischte Xavius. „Wenn du mein Todfeind bist, dann habe ich Sargeras’ Bestrafung mehr als verdient.“

Er schnippte abermals mit den Fingern. Ein halbes Dutzend Satyrn tauchte zwischen den Bäumen auf. Xavius zeigte auf Tyrandes leblosen Körper, während sein Blick in Richtung des Schlachtenlärms wanderte. „Sie werden bald hier sein. Lasst uns verschwinden, bevor es hier… unangenehm wird.“

Xavius kehrte zu Tyrande zurück. Drei Satyrn, die einmal Hochwohlgeborene gewesen waren, hoben ihre Hände und begannen einen Zauber. Malfurion erkannte sofort, dass sie ein Portal erschaffen wollten. Auf diese Weise konnten sie Zin-Azshari schnell und gefahrlos erreichen.

Dort würde es keine Hoffnung mehr für Malfurion und Tyrande geben.

Illidan! Ein letztes Mal schrie er den Namen seines Bruders, erhielt aber keine Antwort. Er war allein.

Die Schlacht kam näher. Ein schwarzer Riss entstand zwischen den drei Satyrn.

Xavius griff nach Tyrande. Sein Grinsen war breiter und boshafter als je zuvor. „Ihr wird es in der Gesellschaft des großen Sargeras gefallen“, sagte er sarkastisch. „Bevor sie stirbt…“

Das Portal erreichte seine volle Größe. Xavius hob die Priesterin mühelos hoch. Doch dann… bohrte sich warnungslos ein gefiederter Pfeil in seine Schulter!

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