17

Archimonde beobachtete, wie sich seine Legionen vor den Zauberattacken und den anstürmenden Nachtelfen zurückzogen. Er beobachtete, wie sich die Landschaft vor ihm mit den waldgrünen Uniformen des Feindes füllte. Der Dämonenkommandant spürte ihren Triumph und hörte ihre Siegesrufe.

Wie leicht sich diese Kreaturen täuschen lassen, dachte er. Sie glauben wirklich, dass sie den Sieg errungen haben.

Der riesige Dämon wandte sich ab und folgte seinen fliehenden Dienern langsam und voller Selbstbewusstsein.


„Ahhh…“

Malfurion zuckte zusammen, als er diesen Laut aus Krasus’ Mund vernahm. Einen Moment später spürte er, dass es dem Magier schwerfiel, ihn festzuhalten. Der Druide sah nach unten. Sie flogen in so großer Höhe, dass er trotz des Beistands der magischen Feder schwer gestürzt wäre.

Er hielt sich so gut es ging an Krasus’ Armen fest und rief: „Was ist los?“

„Es… es fühlt sich an, als habe mir jemand mein schlagendes Herz aus der Brust gerissen! Ich… muss sofort landen.“

Der Nachtelf warf einen Blick auf die Landschaft. Er sah Bäume und anderes Grün. Ein Gebiet fiel ihm besonders auf, es wirkte ebenerdiger als der Rest. „Schafft Ihr es bis zu diesem Punkt?“, fragte er und zeigte in die entsprechende Richtung.

„Ich… werde es versuchen.“

Aber Krasus flog taumelnd und unsicher, und das Gebiet, das Malfurion ausgesucht hatte, verschwand schon bald zu seiner Rechten. Stattdessen flogen sie jetzt auf ein Waldstück zu, dessen Bäume vermutlich ihren Fall bremsen würden, ihnen aber auch die Knochen brechen konnten.

Krasus grunzte schmerzerfüllt und stieg ein wenig höher. Die Bäume glitten unter ihnen hinweg. Eine Ebene lag vor ihnen. Sie sanken ihr entgegen, zuerst langsam, dann viel zu schnell.

„Du… du musst dich selbst retten, Malf…“

Plötzlich ließ der Magier ihn los.

Wertvolle Sekunden verstrichen, bevor Malfurion erkannte, was er versuchen konnte. Er streckte seine Gedanken nach dem Gras aus.

Das Grün unter ihm wurde rasch größer und dichter. Die Grashalme pressten sich so eng aneinander, das sie wie eine Matratze wirkten. Als der Nachtelf darauf stürzte, fingen sie ihn auf und nahmen dann wieder ihre natürliche Form an. Jeder Knochen in Malfurions Körper knirschte, aber er überstand den Sturz unverletzt.

Er tastete nach seiner Schulter. Avianas Geschenk war verschwunden. Er atmete tief durch und dankte seiner Reaktionsschnelligkeit, die eine Katastrophe verhindert hatte.

Wie ein Falke, den der Pfeil eines Jägers getroffen hat, flog Krasus strauchelnd weiter. Malfurion konnte ihn nicht mehr unterstützen, sondern musste hilflos mit ansehen, wie der Drachenmagier abstürzte und hart im hohen Gras niederging.

Im Moment des Aufschlags zerfielen Krasus’ Flügel zu Staub. Haltlos stürzte er ins Gras und verschwand aus dem Blickfeld des Druiden.

„Meister Krasus! Krasus!“ Der Nachtelf kam auf die Beine und lief zu dem Punkt, an dem er seinen Gefährten vermutete.

Doch als er dort eintraf, fand er niemanden. Malfurion blieb ratlos stehen. Er war sich sicher, dass er am richtigen Ort suchte.

Dann hörte er ein kurzes Stöhnen aus südlicher Richtung. Malfurion lief durch das hohe Gras und bog es auseinander, um nach dem Ursprung des Geräuschs zu fahnden.

Wenig später erblickte er Krasus’ reglose Gestalt.

Er kniete neben dem Magier nieder und begann, nach äußeren Verletzungen zu suchen. Als er nichts fand, drehte er ihn auf die Seite. Etwas rutschte unter der Kleidung des Gefährten hervor.

Es war Krasus’ Feder. Sie wirkte braun und verdorrt. Der Druide berührte sie vorsichtig mit dem Zeigefinger und zuckte überrascht zurück, als sie zerfiel. Ihre Überreste verschwanden zwischen den Grashalmen.

Krasus stöhnte erneut. Malfurion legte ihn vorsichtig auf den Rücken und untersuchte ihn auf eventuelle Brüche. Doch trotz seines schweren Sturzes, schien er unverletzt zu sein. Seine einzige Wunde war wohl die, die ihn bereits während des Fluges gequält hatte.

Der blasse Magier öffnete die Augen. „Ich bin es Leid… in einem solchen Zustand aufzuwachen…“

„Vorsichtig, Krasus. Ihr solltet Euch noch nicht bewegen.“

„Bald schon werde ich mich gar nicht mehr bewegen… Malfurion, ich glaube, ich sterbe.“

„Was meint Ihr damit? Wieso? Was ist mit Euch geschehen?“

„Nicht mit mir… mit einem anderen. Ich bin mit Korialstrasz verbunden… und er mit mir. Ich glaube, dass er angegriffen wurde. Er ist dem Tode nahe… und wenn er stirbt, gibt es auch für mich keine Hoffnung mehr.“

Malfurion sah Krasus an und dachte verzweifelt darüber nach, wie er ihn retten konnte. „Kann ich irgendetwas tun?“

„Vielleicht… wenn du ihn… wenn du ihn heilen könntest… Aber er ist weit weg von hier… und er ist ein Drache. Das wäre sehr schwierig. Ich – “

Er brach ab. Malfurion fand keine Lösung. All die Fähigkeiten, die Cenarius ihn gelehrt hatte, halfen nichts, wenn sich das Ziel meilenweit entfernt befand.

Doch dann entdeckte er, halb verborgen unter den zerrissenen Gewändern des Zauberers, die Drachenschuppe. „Krasus… was ist damit?“

„Sie hat… uns eine Weile geholfen. Ein wenig von ihm… und ein wenig von mir. Das hat gereicht.“

„Das ist also seine Schuppe“, sagte Malfurion zu sich selbst. „Seine Schuppe.“

Es war ein waghalsiges, beinahe unmögliches Vorhaben, aber es war auch das einzige, was ihm einfiel. Er berührte die Schuppe und ließ seine Finger darüber gleiten. Er spürte die Macht, die darin lag. In Gedanken setzte er die verschiedenen Elemente der Druidenlehre zusammen und verband Dinge miteinander, die Cenarius nie verbunden hatte. Aber bestimmte Grundsätze galten überall… hoffte er.

„Ich glaube, ich habe eine Idee, Krasus.“

Doch der Magier antwortete nicht. Seine Augen waren geschlossen. Im ersten Moment befürchtete der Nachtelf, er sei bereits gestorben. Er beugte sich vor und lauschte nervös auf Krasus’ Atem, der flach, aber regelmäßig ging. Malfurion entspannte sich ein wenig.

Er durfte nicht länger warten. Krasus hatte vielleicht nur noch Minuten zu leben.

Der Druide legte beide Hände auf die Schuppe und öffnete seinen Geist. Das Gras kannte ihn bereits und reagierte auf seinen Ruf. Der Wind fuhr durch seine Haare, und die Erde erwachte und erwartete neugierig sein Ansinnen.

Bevor er sie jedoch um etwas bat, musste er zuerst feststellen, ob er sich überhaupt mit dem Drachen Korialstrasz verbinden konnte. Mit geschlossenen Augen versetzte sich der Druide in die Schuppe und suchte nach einer Verbindung zu ihrem ursprünglichen Besitzer.

Was er fand, verwirrte ihn. Krasus und Korialstrasz waren so eng miteinander verwoben, dass er sie für einen Augenblick verwechselte. Doch dann erkannte er seinen Fehler und lenkte seine Gedanken auf den roten Drachen. Er hoffte, dass noch immer eine Verbindung zwischen Korialstrasz und der Schuppe existierte.

Zu seiner Überraschung gelang es ihm mit Leichtigkeit, dieses Band zu finden. Sein Geist wurde über Meilen hinweggerissen, bis er eine karge Berglandschaft erreichte. Die Landschaft und die Art der Fortbewegung erinnerten Malfurion an seinen Versuch, die Drachen jenseits der Barriere zu erreichen. Dieses Mal musste er jedoch nicht so weit reisen und zum Glück auch nicht den smaragdfarbenen Traum beschreiten.

Plötzlich wurde Malfurion von einem entsetzlichen Gefühl der Verlustangst getroffen. Beinahe hätte er das Bewusstsein verloren. Er fürchtete, mitten in Krasus’ und Korialstrasz’ Todeskampf zu geraten und wappnete seinen Geist. Dann tastete sich der Nachtelf erneut vor und berührte die ersterbenden Gefühle des Drachen.

Es hatte einen Kampf gegeben, einen furchtbaren Kampf. Im ersten Moment dachte Malfurion, die Brennende Legion habe angegriffen. Doch dann erkannte er aus den fragmentarischen Gedanken des Roten, dass andere – schwarze – Drachen seine Gegner gewesen waren.

Malfurion erinnerte sich an die bösartigen Leviathane, die ihn und Krasus verfolgt hatten und ahnte, welchen Bestien sich der Rote gestellt hatte. Er nahm an, dass Korialstrasz es tatsächlich geschafft hatte, sie zu töten. In diesem Fall grenzte es an ein Wunder, dass er so lange überlebt hatte. Was für ein mächtiger und mutiger Drache musste er gewesen sein…

Nein! Er durfte nicht an Korialstrasz denken, als wäre er bereits tot! Damit verriet er nicht nur den Drachen, sondern auch Krasus. Malfurion musste damit aufhören, sonst waren sie verloren.

Eine der ersten Lektionen, die der Druide von Cenarius erhalten hatte, war gewesen, wie man Waldtiere heilte. Dank dieser Fähigkeit hatte er Füchse, Kaninchen, Vögel und anderes Getier gerettet. Dieses Wissen konnte er jetzt einsetzen. Er musste den Effekt nur verstärken.

Zumindest hoffte der Druide dies.

Malfurion wandte sich an seine Umgebung. Er brauchte ihr Opfer. Nur Leben konnte Leben hervorbringen. Die Erde und die Pflanzen konnten sich in einer Weise regenerieren, die den Tieren fremd war. Trotzdem war es eine große Bitte, die der Nachtelf an sie richtete, schließlich ging es um einen Drachen. Er würde es ihnen nicht verübeln, wenn sie seinen Wunsch ablehnten.

Malfurion versuchte seiner Umgebung zu vermitteln, wie wichtig es war, Korialstrasz und Krasus zu retten. Dann wandte er sich an die Bäume und das Gras, an alles, was ihm etwas geben konnte. In seinem Geist spürte er, wie die Lebenskraft des Drachen nachließ. Die Zeit lief ihm davon.

Da endlich spürte er zu seiner Erleichterung, wie das Land etwas von sich aufgab. Seine Lebensenergie floss in den Körper des Nachtelfen und durchströmte ihn mit solcher Kraft, dass er beinahe vergessen hatte, wofür er sie benötigte. Er riss sich zusammen, legte seine Fingerspitzen auf die Schuppe und ließ die Kraft hineinströmen.

Krasus’ Körper zuckte einmal kurz, dann lag er wieder still. Durch die Verbindung spürte Malfurion, wie die Lebenskraft in den Drachen floss. Das Herz des Nachtelfen raste. Schweiß lief über seine Stirn. Es fiel ihm schwer, die Verbindung aufrecht zu erhalten.

Trotz des beständigen Stroms aus Lebensenergie spürte Malfurion keine Veränderung bei Korialstrasz. Das Leben des Drachen hing weiter am seidenen Faden. Der Druide biss die Zähne zusammen und leitete mehr und mehr Energie in den sterbenden Riesen.

Dann endlich bemerkte er eine leichte Veränderung. Korialstrasz’ Seele zog sich vom Abgrund zurück. Seine Verbindung zum Leben erstarkte.

„Bitte…“, stieß der erschöpfte Nachtelf hervor. „Mehr…“

Und es kam mehr. Das Land schenkte ihm, was er benötigte. Es verstand, dass es nicht nur um die Heilung zweier Verletzter ging, sondern um sehr viel mehr.

Langsam neigte sich die Waagschale zugunsten des Lebens. Korialstrasz wurde stärker. Der Druide spürte, wie das Bewusstsein des Drachen zurückkehrte und wusste, dass der sich über diese Wandlung wunderte.

Krasus’ Körper zuckte erneut. Der ältere Magier stöhnte. Seine Augen öffneten sich.

Jetzt endlich wusste Malfurion, dass er genug getan hatte. Er löste seine Finger von der Schuppe, lehnte sich zurück und atmete tief durch.

Erst jetzt bemerkte er, dass sich das Gras sich meterweit um ihn herum schwarz geerbt hatte.

Alles Leben war aus der Erde verschwunden. So weit das Auge reichte, war die Ebene schwarz und verdorrt. Am Horizont sah er zwei blattlose Bäume.

Im ersten Moment erschütterte das Entsetzen über seine Tat den Druiden, doch dann spürte er, wie sich das Leben unter ihm zu regen begann. Die Wurzeln der Gräser hatten überlebt, und mit Hilfe der Erde würden sie schon bald neue Triebe hervorbringen. Auch die Bäume lebten noch und würden frische Blätter austreiben.

Der Nachtelf atmete erleichtert auf. Einen schrecklichen Augenblick lang hatte er befürchtet, nicht besser als die Brennende Legion zu sein.

„Was… was hast du getan?“, stieß Krasus hervor.

„Ich musste Euch retten. Etwas anderes ist mir nicht eingefallen.“

Der Magier schüttelte den Kopf und setzte sich auf. „Das habe ich nicht gemeint, Malfurion… Weißt du überhaupt, was du hier gerade geleistet hast? Verstehst du das Ausmaß deiner Tat?“

„Ich habe getan, was getan werden musste“, erklärte Malfurion.

„Es tut mir Leid, dass ich dem Land so viel abverlangt habe, aber es hat alles freiwillig gegeben.“

Krasus bemerkte erst jetzt das geschwärzte Gras. Er kniff die Augen zusammen, während er den Beweis dessen betrachtete, was sich hier abgespielt hatte. „Malfurion, das ist unmöglich.“

„Das alles fußte auf den Lehren meines shan’do. Ich habe den Zauber nur der Situation angepasst.“

„Dabei ist dir etwas gelungen, das weit jenseits deiner Fähigkeiten hätte sein sollen – weit jenseits der Fähigkeiten fast aller Zauberer.“ Schwerfällig erhob sich der Drachenmagier. Er runzelte die Stirn, als er das wahre Ausmaß der Schäden erkannte. „Unglaublich.“

Malfurion verstand immer noch nicht, weshalb Krasus so verstört auf seine Tat reagierte, deshalb fragte er: „Könnt Ihr Korialstrasz spüren? Geht es ihm gut?“

Krasus konzentrierte sich. „Die Verbindung wird langsam wieder so schwach wie sie vor deinem Zauber war… aber ja, ich spüre ihn noch. Er ist… gesund… wenngleich verwirrt. Er erinnert sich an einen Teil des Kampfes und weiß, dass er mich finden soll, aber er hat Erinnerungslücken.“

Aus irgendeinem Grund rief das Erheiterung bei Krasus hervor. „Jetzt sind er und ich uns noch ähnlicher. Das Schicksal verhöhnt mich wahrlich.“

„Warten wir auf ihn?“

„Ja, aber nicht aus dem Grund, aus dem er mich wahrscheinlich sucht. Ich kenne ihn ja, deshalb gehe ich davon aus, dass er mich zu Alexstrasza zurückbringen will. Dazu aber reicht die Zeit nicht mehr. Ich glaube, dass wir so schnell wie möglich zur Streitmacht zurückkehren sollten. Vielleicht ist es pure Ahnung, vielleicht auch das Ergebnis meiner reichen Erfahrung. Wie dem auch sei, wir werden aufbrechen, sobald Korialstrasz hier eintrifft.“

Malfurion dachte sofort an Tyrande… und dann etwas verspätet auch an seinen Bruder. „Wie lange wird er brauchen?“

„Er ist ein Drache… und zwar ein sehr gesunder“, sagte Krasus zufrieden lächelnd. „Also wohl nicht sehr lange…“


Tyrande war einzigartig unter den Schwestern, denn sie war die einzige, die zwei Schatten besaß. Der zweite hatte sogar einen Namen.

Er lautete Shandris Feathermoon.

Egal, wohin die Priesterin auch ging, das Waisenkind folgte ihr. Shandris beobachtete alles, was ihre Retterin tat, mit Blicken, die ihren verzweifelten Wunsch nach Wissen widerspiegelten. Wenn Tyrande über einem verletzten Nachtelf betete, wiederholte das Mädchen ihre Worte und ahmte ihre Gesten nach.

Tyrande betrachtete Shandris mit gemischten Gefühlen. Das Mädchen hatte keine Eltern mehr und niemanden, der sich um es kümmerte. Natürlich gab es viele, die in einer ähnlichen Notlage waren, aber die Priesterin nahm etwas Besonderes in Shandris wahr. Sie beobachtete Tyrandes Arbeit so hingebungsvoll, dass sie sich vielleicht als Novizin eignen würde. Der Tempel hieß neue Schwestern stets willkommen. Wie hätte sie das Mädchen also zurück zu den Flüchtlingen schicken und es vergessen sollen? Die Priesterin vermochte dies nicht und hatte stattdessen beschlossen, Shandris in ihrer Nähe zu behalten.

Leider gab es Situationen, in denen ein Kind nicht sicher war. Die Schwestern wechselten sich im Kampf an der Front ab. Die Hohepriesterin bestimmte den Rhythmus. Tyrande hatte Sorge, dass Shandris in die Nähe der Dämonen gelangen könnte. Diese Bestien hätten sie ohne Skrupel getötet. Das Mädchen hatte Tyrande schon einmal fast zu Tode erschreckt, denn als die Schwestern zu Malfurions und Krasus’ Rettung ausgezogen waren, hatte es sich ihnen heimlich angeschlossen. Die Priesterin hatte davon erst später erfahren, als die Waise eine unvorsichtige Bemerkung gemacht hatte.

„Mach das nicht noch einmal!“, befahl Tyrande ihr. „Du musst zurückbleiben, wenn wir in den Kampf ziehen. Ich kann nicht gleichzeitig kämpfen und mich um dich kümmern.“

Shandris wirkte niedergeschlagen und nickte, aber Tyrande bezweifelte, dass dies das Ende der Diskussion war. Sie betete zu Elune, dass das junge Mädchen weise handeln würde.

Während Tyrande über ihre schwierige Situation nachdachte, bemerkte sie, dass sich eine Schwester aus einer anderen Gruppe löste und ihr entgegenkam. Die Priesterin war groß und einige Jahre älter als Tyrande. Ihr Gesichtsausdruck wirkte sehr ernst.

„Meinen Gruß, Schwester Marinda. Was führt dich zu dieser Unwürdigen?“

„Meinen Gruß, Schwester Tyrande“, antwortete Marinda ernst. „Ich komme von der Hohepriesterin.“

„Ja? Hat sie neue Anweisungen für uns?“

„Sie… ist tot, Schwester.“

Tyrande fühlte sich, als habe jemand ihre Welt auf den Kopf gestellt. Die ehrwürdige Mutter des Tempels sollte tot sein? Sie war ebenso wie die anderen Gläubigen mit den Worten und Taten dieser Frau aufgewachsen. Wegen ihr hatte sich Tyrande entschlossen, das Novizengewand anzulegen.

„W-wie kann das sein?“

Tränen liefen über Marindas Gesicht. „Sie hat ihre Wunden vor uns geheim gehalten, nur ihre Dienerinnen wussten davon. Während des Marsches zurück nach Suramar wurde sie von einem Dämon am Bauch verletzt. Das hätte sie dank ihrer großen Heilkunst wahrscheinlich überlebt, doch dann stürzte sich eine Teufelsbestie auf sie. Offenbar lag sie bereits im Sterben, bis andere die Bestie töteten. Sie haben sie zurück in ihr Zelt getragen, wo sie sich aufgehalten hat, bis sie vor einer Stunde von uns ging.“

„Wie schrecklich!“ Tyrande fiel auf die Knie und begann zu Mutter Mond zu beten. Marinda kniete sich neben sie, ebenso wie Shandris, die sie ohne Aufforderung nachahmte.

Die beiden Priesterinnen verabschiedeten sich in Gebeten von ihrer Lehrerin, dann erhoben sie sich.

Marinda sagte: „Da ist noch mehr, Schwester.“

„Mehr? Was denn?“

„Vor ihrem Tod hat sie ihre Nachfolge geregelt.“

Tyrande nickte. Das hatte sie erwartet. Die neue Hohepriesterin hatte sicherlich Boten wie Marinda ausgesandt, um die Nachricht von ihrem Aufstieg zu verbreiten.

„Wer ist es?“ Es gab mehrere würdige Kandidatinnen.

„Sie hat dich ernannt, Tyrande.“

Tyrande traute ihren Ohren nicht. „Sie – Mutter Mond! Du scherzt doch wohl!“

Shandris quietschte und applaudierte. Tyrande drehte sich um und sah sie tadelnd an. Die Waise wurde ruhig, aber ihre Augen leuchteten stolz.

Marinda schien nicht zu scherzen, und das ängstigte Tyrande. Wie sollte sie, die gerade mal eine Priesterin geworden war, die gesamte Schwesternschaft leiten – und das in Kriegszeiten?

„Vergib mir meine Worte, Schwester Marinda, aber könnte es sein, dass ihre Verletzungen ihren Geist getrübt hatten? Wieso sonst sollte sie gerade mich erwählen?“

„Sie war bei klarem Verstand, Schwester. Und sie hatte von dir schon häufiger gesprochen. Die leitenden Schwestern wussten, dass du ihre Nachfolge antreten solltest. Niemand hat sich gegen ihre Entscheidung ausgesprochen.“

„Aber… das ist unmöglich. Ich kann doch niemanden anführen! Wie könnte ich mit so wenig Erfahrung solche Verantwortung übernehmen? Es gibt so viele, die den Tempel besser kennen.“

„Aber keine, die enger mit Elune verbunden ist. Wir alle sehen und spüren das. Die Soldaten und die Flüchtlinge erzählen sich bereits Geschichten über dich. Du hast Wunder vollbracht, Kranke geheilt, bei denen andere aufgegeben hatten…“

Davon hatte Tyrande nichts gehört. „Was meinst du damit?“

Schwester Miranda erklärte es ihr. Alle Priesterinnen opferten einen Teil ihrer Ruheperiode, um zu versuchen anderen zu helfen. Doch Wunsch und Befähigung lagen oft weit auseinander. Trotzdem gelang es ihnen, viele zu heilen… aber bei unzähligen anderen versagte ihr Können.

Tyrande hatte nur Erfolge vorzuweisen. Jeder, den sie zu heilen versucht hatte, war gesund geworden. Ohne es zu ahnen, hatte Tyrande auch diejenigen geheilt, bei denen andere Schwestern aufgegeben hatten. Das allein hatte die Priesterinnen bereits überrascht, noch erstaunter waren sie jedoch darüber, dass Tyrande sich nie ausruhte.

„Eigentlich solltest du nicht mehr in der Lage sein zu stehen, aber du kämpfst ja sogar, Schwester Tyrande.“

Die junge Priesterin war noch nicht einmal auf die Idee gekommen, dass sie etwas Außergewöhnliches tat. Sie betete zu Elune, und Elune antwortete ihr. Tyrande war dafür dankbar, ging dann jedoch direkt weiter zum nächsten Bedürftigen.

Und nun glaubten die anderen, sie habe weit über das Normale hinaus gewirkt.

„Das… das kann nicht sein.“

„Doch, es ist so. Du musst es akzeptieren.“ Marinda holte tief Luft. „Du weißt, dass es normalerweise eine Zeremonie geben würde, um dich so vielen Gläubigen wie möglich vorzustellen.“

„Ja…“, antwortete Tyrande gedankenverloren.

„Wir werden natürlich unser Bestes tun. Mit deiner Erlaubnis werde ich die anderen Schwestern vom Kampf abziehen und – “

„Was?“ Wollten sich die Schwestern etwa nur wegen ihr eine neue Bürde aufladen? Tyrande riss sich zusammen und erklärte: „Nein, das erlaube ich nicht.“

„Schwester – “

Sie setzte ihre neue, wenn auch unerwünschte Autorität ein und sah Marinda scharf an. „Ich muss diese Position wohl annehmen, aber ich werde nicht zulassen, dass uns eine Zeremonie von den Gefahren um uns herum ablenkt. Ich werde das Amt der Hohepriesterin annehmen, zumindest bis dieser Krieg vorüber ist, aber ich werde meine Kleidung behalten.“

„Aber die Robe deines Amtes…“

„Ich werde meine Kleidung behalten, und es wird keine Zeremonie geben. Ein solches Risiko können wir nicht eingehen. Wir werden im Namen von Mutter Mond weiterhin heilen und kämpfen. Verstanden?“

„Ich…“ Marinda kniete nieder und senkte den Kopf. „Ich gehorche, Mylady.“

„Erhebe dich. Diesen Gehorsam wünsche ich nicht. Wir sind alle Schwestern und im Herzen gleich. Wir alle beten zu Elune. Niemand soll mich anbeten.“

„Wie du es wünschst.“ Aber die ältere Priesterin erhob sich nicht. Sie schien etwas von Tyrande zu erwarten. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung erkannte sie, worum es ging.

Tyrande hoffte, dass ihre Hand nicht zittern würde, als sie sie auf Marindas Kopf legte. „Im Namen von Mutter Mond, der großen Elune, die über uns alle wacht, segne ich dich.“

Sie hörte, wie die andere Priesterin erleichtert durchatmete. Marinda erhob sich. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte Tyrande an jenen, den sie selbst und die anderen Priesterinnen in Gegenwart ihrer ehrenwerten Lehrerin getragen hatten. „Wenn es dir recht ist, werde ich den anderen deinen Willen übermitteln.“

„Ja… danke.“

Als sich Marinda abwandte, brach Tyrande beinahe zusammen. Das war doch nicht möglich! In gewisser Weise war dies beinahe so schrecklich, wie der Brennenden Legion gegenüberzutreten. Sie als Leiterin des Ordens! Das war wahrlich das Ende von Kalimdor!

„Wie wundervoll!“, rief Shandris und klatschte in die Hände. Sie lief zu Tyrande und schien sie umarmen zu wollen, blieb dann jedoch stehen und versuchte, ernst zu wirken. Wie auch schon Marinda kniete die Waise vor ihr nieder und erwartete ihren Segen.

Resignierend segnete Tyrande sie. Shandris sah sie voller Ehrerbietung an. „Ich folge dir für den Rest meines Lebens, Mylady.“

„Nenn mich nicht so. Ich bin immer noch Tyrande.“

„Ja, Mylady.“

Die neue Leiterin des Tempels seufzte und dachte darüber nach, was als nächstes zu tun war. Wahrscheinlich gab es endlose Rituale, die sie als Hohepriesterin durchführen musste. Tyrande erinnerte sich daran, dass ihre Vorgängerin zahllose Gebete geleitet hatte. Der Tempel hielt auch jeden Abend Zeremonien ab, um den Mondaufgang zu gewährleisten und das Wohlwollen der Götter zu erbitten. Abgesehen davon gab es auch Zusammenkünfte und Feiern zu bestimmten weltlichen Anlässen.

Sie blickte missmutig in die Zukunft, fühlte sich mehr gefangen denn geehrt.

Ein plötzliches Stöhnen aus dem Flüchtlingslager unterbrach ihre Gedanken. Tyrande erkannte, was das Stöhnen bedeutete. Sie hatte ähnliche Laute schon zu oft gehört. Jemand litt unter furchtbaren Schmerzen.

Die Zeremonie musste warten. Die Rituale mussten warten. Tyrande war dem Orden vor allem aus einem Grund beigetreten – um anderen durch die Geschenke Elunes zu helfen.

Die neue Hohepriesterin ging auf die Quelle des Stöhnens zu, um ihrer eigentlichen Berufung zu folgen.

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