7

Pero’tharn trat gebückt in sein Privatquartier. Endlich fand er ein wenig Zeit, um sich von seiner Arbeit am Portal zu erholen. Bevor Archimonde das Kommando über die Dämonenarmee übernahm, hatte er einen genauen Plan aufgestellt, nach dem das Portal schrittweise geöffnet werden sollte. Mannoroth hatte die hochwohlgeborenen Zauberer förmlich zur Arbeit geprügelt, aber Archimonde hatte erkannt, dass die Nachtelfen nicht lange genug überleben würden, wenn er ihnen keine Zeit zum Essen und Schlafen ließ. Sie arbeiteten zwar auch jetzt noch sehr hart, aber durch die Pausen zeigten sich Erfolge, die es selbst unter Lord Xavius nicht gegeben hatte.

Als Pero’tharn an seinen ehemaligen Herrn dachte, blickte er instinktiv über die Schulter. Das Zimmer – eine kleine Kammer, in der nur ein Holzbett, ein Tisch und eine Öllampe standen – war voller Schatten, die den Zauberer an das Ding erinnerten, das hinter dem ruhmreichen Archimonde aus dem Portal getreten war. Dass diese zweibeinige Bestie einmal Xavius gewesen war, verstörte den Hochwohlgeborenen. Schon früher, als der Berater der Königin noch ein Nachtelf gewesen war, hatten sie alle in ständiger Furcht gelebt, aber jetzt verfolgte sein Anblick Pero’tharn sogar bis in die Träume.

Der Nachtelf schüttelte den Gedanken ab und betrachtete angewidert das Bett. Er war eine weit bessere Schlafstatt gewöhnt. Er sehnte sich nach seiner Villa und seiner Gefährtin, die er seit Tagen nicht gesehen hatte. Mannoroth hatte es niemandem erlaubt, den Palast zu verlassen, und Archimonde hatte diese Anweisung nicht aufgehoben. Deshalb mussten die Zauberer dort schlafen, wo ein Bett frei war – in den meisten Fällen waren das Kammern, die früher von Wachoffizieren benutzt worden waren. Captain Varo’then hatte den Zauberern diese Quartiere zur Verfügung gestellt, aber Pero’tharn hätte schwören können, das er dabei schadenfroh gelächelt hatte. Varo’then und seine Untergebenen waren an spartanische Unterkünfte gewöhnt, und Pero’tharn glaubte, dass es ihnen gefiel, die Hochwohlgeborenen in der gleichen Situation zu sehen.

Doch all die Entbehrungen würden belohnt werden, wenn der Herrscher der Legion eintraf. Die Welt würde von den Unreinen gesäubert werden. Nur die Hochwohlgeborenen, die perfektesten Diener Azsharas würden übrig bleiben. Pero’tharn und die anderen würden ein frisches, neues Land bewohnen und ein Paradies erschaffen, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte.

Natürlich lag bis dahin ein weiter Weg vor ihnen. Die Königin hatte ihnen erklärt, dass die Brennende Legion zuerst alles vernichten musste. Die Welt musste neu erschaffen werden. Es wurde noch einiges von den Hochwohlgeborenen erwartet, aber ihre Belohnung würde all das wett machen.

Mit dem Seufzen eines Märtyrers setzte sich Pero’tharn auf das harte Bett. Wenn sie das Paradies erschaffen hatten, würde er als erstes um eine bessere Schlafgelegenheit bitten.

Er hatte seinen Kopf noch nicht ganz auf das graue, kleine Kissen gelegt, als eine Stimme in sein Ohr flüsterte.

„So viele Opfer…so viele unverdiente Entbehrungen…“

Pero’tharn setzte sich erschrocken auf. Er sah sich in der Kammer um, fand aber nichts außer den schrecklich leeren Wänden und den spärlichen Möbeln.

Man zwingt dich, wie ein Bauer zu leben… man sollte dich bewundern, Pero‘tharn.“

Ein Schatten löste sich aus der Wand, und der Hochwohlgeborene zog scharf den Atem ein. Künstliche Augen starrten den überraschten Zauberer an.

„Xavius…“

Die Hufe des Satyrs klapperten leise auf dem Steinboden. „Unter diesem Namen habe ich einst gelebt“, murmelte er, nun lauter und zugleich etwas weltlicher klingend. „Das hat heute kaum noch Bedeutung für mich.“

„Was macht Ihr hier?“

Xavius kicherte. Es klang, als würde er wiehern. „Ich kenne deinen Ehrgeiz, Pero’tharn. Ich kenne deine Träume und weiß, wie hart du für sie kämpfst.“

Obwohl der Nachtelf dem Pferdefußigen misstraute, fühlte er sich geschmeichelt. Niemand sonst schien zu verstehen, wie viel er beitrug. Sogar Archimonde und die Königin unterschätzten seine Leistung.

„Ich habe dich hart angetrieben, mein Freund, weil ich Großes von dir erwarte.“

Pero’tharn hatte das nicht gewusst, aber die späte Erkenntnis ließ Stolz in seiner Brust aufwallen. Lord Xavius war stets die Messlatte gewesen, an der die Hochwohlgeborenen ihre Fähigkeiten beurteilten. Er war der unerreichte Meister seiner Kunst gewesen. Wer sonst würde seine eigenen Augen opfern, nur um die Mächte, die er beschwor, besser verstehen zu können. Der Berater hatte von anderen nie ein Opfer erwartet, zu dem er nicht selbst bereit gewesen wäre.

„Ich… ich fühle mich geehrt.“

Der gehörnte Satyr neigte den Kopf und grinste. Aus irgendeinem Grund ängstigte dieses Grinsen Pero’tharn nicht so sehr wie vor diesem Gespräch.

„Nein… ich sollte mich geehrt fühlen, mein guter Pero’tharn… und ich bin in der Hoffnung zu dir gekommen, eine noch größere Ehre zu erfahren.“

„Ich verstehe nicht, was Ihr meint.“

„Ein wenig Wein?“ Der Pferdefußige zauberte eine Flasche aus dem Nichts herbei und bot sie dem Nachtelf an. Pero’tharn öffnete sie und roch vorsichtig daran. Das schwere Bouquet kitzelte seine Sinne. Es war Regenbogenblumenwein, sein Lieblingsgetränk.

Xavius beugte sich vor. „Aus ihrem eigenen Keller…“, sagte er verschwörerisch. „Aber dieses Geheimnis bleibt unter uns, nicht wahr?“

Im ersten Moment war der Magier schockiert, dass jemand es gewagt hatte, Azshara zu bestehlen, dann aber begeisterte ihn diese Dreistigkeit. Xavius hatte seine Königin hintergangen, um ihm, Pero’tharn, einen Gefallen zu erweisen. Azshara hatte Diener schon für geringere Vergehen hinrichten lassen.

„Captain Varo’then wäre entsetzt, wenn er davon wüsste“, sagte Pero’tharn.

„Er gehört nicht zu uns und hat deshalb keine Bedeutung.“

„Das stimmt.“ Die Hochwohlgeborenen betrachteten den Captain und seine Soldaten als notwendiges Übel. Natürlich waren sie Diener der Königin, aber ihnen fehlte das adlige Blut und das extravagante Auftreten der anderen. Für die meisten Hochwohlgeborenen waren sie nicht besser als die Nachtelfen, die einst außerhalb der Palastmauern gelebt hatten. Doch diese Meinung verbargen sie stets, denn Captain Varo’then wusste, wie man Hochwohlgeborene unauffällig verschwinden ließ.

„Trink“, drängte Xavius und hielt die Flasche hoch.

Der Flaschenhals berührte schon fast Pero’tharns Lippen, und er sah keinen Grund, noch länger zu zögern. Er spürte, wie sich die sanfte Flüssigkeit auf seiner Zunge verteilte und in seine Kehle floss. Sein ganzer Körper erschauderte, als er das seltene Getränk herunterschluckte.

„Eine längst fällige Belohnung“, sagte Xavius. „Eine von vielen.“

„Wundervoll.“

Der Pferdefüßige nickte. Je länger sich Pero’tharn mit Xavius unterhielt, desto weniger fürchtete er ihn. Der ehemalige Berater erwies ihm den Respekt, den er schon so lange verdient hatte. Das war eine große Ehre für den Nachtelf, denn Xavius war schließlich ein geschätzter Diener des großen Sargeras. Bedeutete er somit also dem Herrscher der Legion nicht mehr als alle Hochwohlgeborenen zusammen?

„Er beobachtet dich auch“, sagte der Satyr leise und verschwörerisch.

„Er? Meint Ihr etwa – “

„Er beobachtet alle, auch aus großer Ferne.“ Ein Zeigefinger richtete sich auf den Magier. „Aber einige beobachtet er intensiver als andere… in der Hoffnung, dass aus ihnen einmal Großes werden kann.“

Pero’tharn war sprachlos. Sargeras erwartete Großes von ihm? Er trank einen Schluck Wein, während seine Gedanken sich jagten. Wie die anderen ihn beneiden würden…

„Sargeras kennt keine Gnade gegenüber seinen Feinden, doch zu seinen besten Dienern ist er großzügig und mild.“ Xavius führte die Flasche wieder an Pero’tharns Lippen heran. „Er hat mich aus dem Jenseits zurückgeholt. Er holte mich zurück und schenkte mir nicht nur ein neues Leben, sondern auch einen ganz besonderen Platz an seiner Seite.“

Der Satyr richtete sich zu voller Größe auf und zeigte Pero’tharn seinen Körper. Der Nachtelf verstand erst jetzt, dass diese Gestalt ein großzügiges Geschenk des Gottes war und betrachtete sie bewundernd. Xavius war wahrhaft in diesem neuen Leben zu etwas Großem aufgestiegen. Sein Körper war breiter und beeindruckender. Xavius wirkte trotz der Hufe stärker und agiler. Auch sein Verständnis der magischen Künste war gewachsen. Pero’tharn spürte die Macht, die von ihm ausging und empfand Eifersucht. Eine solche Macht hatte er auch verdient!

Der Wein hatte Pero’tharn wohl unvorsichtig werden lassen, denn Xavius wich plötzlich zurück, als habe man ihn geschlagen. Der Satyr verschmolz fast mit den Schatten. Pero’tharn umklammerte die Flasche, befürchtete, den gesegneten Diener des Gottes beleidigt zu haben.

Doch Xavius kehrte so schnell wieder zurück, wie er verschwunden war. Der Satyr stand über ihm und starrte Pero’tharn an. Der Magier konnte seinen Blick nicht abwenden.

„Nein…“, flüsterte Xavius halb zu sich selbst. „Es ist noch zu früh… aber er hat gesagt, ich solle diejenigen finden, die würdig sind… vielleicht könnte ich… ja… aber um so viel Verantwortung zu tragen, braucht man Stärke und Entschlossenheit… Wäre es möglich, dass du über diese Entschlossenheit verfügst, Pero’tharn?“

Der Nachtelf sprang von seinem Bett auf und holte tief Luft. „Ich habe genau die Stärke und Entschlossenheit, die Ihr braucht! Ich würde alles tun, um von größerem Nutzen für Sargeras und meine Königin zu sein. Gebt mir die Chance zu beweisen, dass ich würdig bin. Ich flehe Euch an!“

„Du würdest einen gefährlichen Weg einschlagen, mein lieber Pero’tharn… aber du würdest dich über die anderen Hochwohlgeborenen erheben. Du würdest mir direkt unterstellt sein. Alle, die dich sehen, würden erkennen, dass du ein von Sargeras Gesegneter bist. Deine Macht würde um das Zehnfache wachsen. Alle würden dich beneiden, denn du wärst der Erste!“

„Ja!“, schrie der Nachtelf. „Ich würde alles dafür tun, Lord Xavius! Bitte wendet Euch nicht ab. Ich bin dieser Ehre würdig! Macht mir dieses Geschenk!“

Der Gehörnte grinste, ein Anblick, der Pero’tharn keine Angst mehr einflößte, sondern seine Hoffnung beflügelte. „Ja, mein lieber Pero’tharn… ich glaube dir. Ich glaube, dass du genügend Entschlossenheit besitzt, um zu einem seiner Vertrauten zu werden, so wie ich es geworden bin.“

„Das stimmt.“

„Deine Welt wird sich verändern… sie wird besser werden.“

Pero’tharn stellte die Flasche auf das Bett und kniete nieder. „Wenn ich hier und jetzt angenommen werden kann, dann bitte ich darum, dass dies geschieht. Bitte sagt mir, dass das möglich ist.“

Das Grinsen wurde breiter. „O ja, es kann jetzt geschehen.“

„Dann bitte ich Euch, Xavius… mache mich zu Deinesgleichen. Segne mich im Namen des Gottes, damit ich ihm noch besser dienen kann. Ich bin dessen würdig!“

„Wie du wünschst.“ Xavius trat einen Schritt zurück. Er schien größer zu werden, bis er Pero’tharns Sichtfeld völlig ausfüllte. Die rubinroten Schlieren in den Augen des Satyrs leuchteten auf.

Xavius hob seine Klauenhände.

Als der Zauber ihn traf, begann Pero’tharn zu schreien. Sein Körper schien bis auf die Knochen aufgerissen zu werden. Die Schmerzen waren jenseits seiner Vorstellungskraft. Tränen schossen in seine Augen. Er konnte nicht mehr sprechen, deshalb bettelte er mit Stöhnen um ein Ende der Qual. Das hatte er nicht gewollt.

„Nein“, antwortete der Satyr auf sein Flehen. „Wir müssen es beenden.“

Die Schreie wurden nach lauter, gellender. Die anderen Hochwohlgeborenen hätten das, was sich dort auf dem Boden krümmte, kaum noch erkannt. Der Körper mutierte ununterbrochen, wurde von Xavius’ Magie langsam zu dem umgeformt, was Pero’tharn sich wünschte. Aus Schreien wurde Schluchzen, doch der Satyr ließ sich nicht ablenken.

„Ja…“, sagte Xavius. Seine unheiligen Augen leuchteten. „Entfessle den Schmerz. Entfessle die Wut. Niemand wird dich außerhalb dieser Kammer hören. Du kannst so laut schreien, wie du willst… das habe ich auch getan.“ Sein Grinsen wurde wild und bestialisch. „Und es ist doch nur ein winzig kleines Opfer zum Ruhme Sargeras’.“

Die Nachtelfen hatten geglaubt, die Dämonen würden irgendwann rasten. Sie waren davon ausgegangen, dass sie sich in Suramar erst einmal sammeln und den Feind aufhalten würden. Und sie hatten sich auf eine sichere Unterkunft in der Festung Black Rook gefreut.

Alle drei Hoffnungen wurden enttäuscht. Rhonin und Krasus erkannten das lange vor Ravencrest und den anderen Nachtelfen. Sie wussten, dass Archimonde, der furchtbare Riese, für die Taktik der Legion verantwortlich war. Sargeras hatte ihm das Kommando nicht grundlos überlassen.

„Er wird uns keine Ruhe gönnen“, sprach der Drachenmagier aus, was beide dachten. Geistesabwesend berührte er die Drachenschuppe auf seiner Brust. Seine Gedanken kreisten um Archimondes gnadenlose Aufholjagd.

„Er wird die Dämonen eher in den Tod treiben, als uns entkommen lassen“, stimmte Rhonin zu. „Aber wir werden lange vor ihnen zusammenbrechen.“

Die Nachtelfen hatten vergeblich versucht, den Feind in Suramar aufzuhalten. Den Verteidigern in der Festung war nicht genügend Zeit geblieben, um sich auf den Einzug des Heers vorzubereiten. Black Rook Hold war gerade groß genug, um die Bevölkerung aus der Gegend aufzunehmen. Ravencrests riesige Streitmacht hätte dort keinen Platz mehr gefunden. Auch die Hoffnung des Adligen, die Festung wenigstens sichern zu können, zerschlug sich. Sie hatten noch nicht einmal genug Zeit, um in die Festung einzuziehen. Die Soldaten hielten den Feind so lange auf, bis alle Zivilisten in die Festung geflohen waren. Mehr erreichten sie nicht. Sie konnten Black Rook nicht sichern, und Ravencrest war ehrenhaft genug, sich dort nicht zu verstecken, während die Brennende Legion alles um ihn her zerstörte.

„Ich hätte nicht gedacht, dass die Festung einmal so nutzlos sein würde“, knurrte er an Illidan gewandt. „Aber trotz aller Verluste ist unsere Streitmacht zu groß. Außerdem würden die Dämonen alles um die Festung herum vernichten und uns dann aushungern.“

„Können wir eine Belagerung nicht aussitzen?“

„Ja, gegen einen anderen Feind, der irgendwann müde wird und sich zurückzieht, aber nicht gegen die Dämonen. Sie würden einfach alles zerstören und auf das Unvermeidliche warten.“

Der bärtige Nachtelf schüttelte den Kopf. „Unser Ende soll nicht so würdelos sein!“

Nach nur einem Tag überließen sie Suramar dem Feind. Sie wussten, dass es bei ihrer Rückkehr dort nichts mehr geben würde – sollte es ihnen doch noch gelingen, die Brennende Legion zu schlagen. Wo die Dämonen auftauchten, hinterließen sie Ruinen. Als die letzten Gebäude der Stadt am Horizont verschwanden, sahen die Verteidiger bereits die ersten Bäume fallen und die Mauern unter dem Ansturm der Dämonen bröckeln.

Für die Vernichtung Suramars musste Archimonde einen erheblichen Teil der Legion abgezogen haben, doch die Streitmacht, von der die Nachtelfen verfolgt wurden, schien nicht kleiner geworden zu sein. Der lange Rückzug hatte Ravencrest bisher nur einen einzigen Vorteil verschafft: Die Luftangriffe hatten abgenommen. Die Eredar warfen zwar noch immer ihre Zauber auf die Nachtelfen, aber die ständigen Angriffe hatten sie ausgezehrt. Die Luftangriffe der Teufelskreaturen waren ebenfalls zurückgegangen. Allerdings liefen sie immer noch vor den anderen Dämonen her und griffen die Verteidiger bei jeder sich bietenden Gelegenheit an.

Aus Tag wurde Nacht und aus Nacht wurde Tag, aber Ravencrests Streitmacht kam nicht zur Ruhe. Einige Nachtsäbler-Reiter lagen bereits schlafend auf ihren Tieren und zogen sich den Neid der Infanteristen zu. Die Stärkeren halfen den Schwachen. Doch schlimmer als die Erschöpfung waren die stündlich länger werdenden Flüchtlingskarawanen, die sich vor der Streitmacht bildeten. Den Zivilisten fehlte die Disziplin und die Kondition der Soldaten. Seit Generationen lebten sie friedlich auf ihrem Land. Auf eine Katastrophe waren sie nicht vorbereitet. Bereits nach kurzer Zeit prallten Soldaten und erschöpfte Zivilisten aufeinander.

„Bewegt euch!“, rief Jarod Shadowsong einigen Bauern zu, die langsam vor ihm hertrotteten. „Ihr könnt hier nicht einfach stehen bleiben. Geht weiter!“

Krasus runzelte die Stirn. „Das wird noch schlimmer werden. Ravencrest wird die Disziplin seiner Soldaten nicht aufrecht erhalten können, wenn sie sich noch weiter unter die Flüchtlinge mischen. Genau das beabsichtigt Archimonde.“

„Aber was können wir dagegen tun?“ Dunkle Ringe hatten sich um Rhonins Augen gebildet. Er und die anderen hatten seit Beginn der Schlacht nicht mehr gerastet. Nur Brox wirkte immer noch erholt. Der Orc war in Kriegszeiten aufgewachsen und daran gewöhnt, tagelang ohne Schlaf auszukommen. Aber auch er sehnte sich nach ein paar Stunden der Ruhe.

Es war dann auch Brox, der Rhonins Frage beantwortete, allerdings nicht mit Worten. Dem Orc war aufgefallen, dass der Teil der Streitmacht, in dem er und seine Begleiter marschierten, von den Flüchtlingen blockiert wurde. Also unternahm er etwas dagegen. Er drängte sich an Jarod und der Leibwache vorbei, schrie die Flüchtlinge an und begann, seine Axt über dem Kopf zu schwingen. Er bot einen so furchteinflößenden Anblick, dass die Nachtelfen ihm sofort Platz machten.

„Nein“, knurrte er, „weiter nach vorne! Nicht zurück. Nur nach vorne. Helft anderen.“

Der Orc begann, die Flüchtlinge vor sich herzutreiben wie Kühe oder Schafe. Die Nachtelfen hatten solche Angst vor ihm, dass sie all seine Anordnungen befolgten.

Jarod folgte seinem Beispiel, verteilte seine Wachen und benutzte sie, um die Zivilisten anzuspornen. Nach kurzer Zeit hatten sie Ordnung hergestellt. Einige andere Offiziere bemerkten, was in diesem Teil der Streitmacht geschah und begannen, ebenfalls Befehle zu erteilen, bis eine lange Reihe entstand. Die Geschwindigkeit der Nachtelfen nahm zu.

Doch die Brennende Legion folgte ihnen immer noch. Krasus betrachtete einen Berg in einiger Entfernung, der ihm bekannt vorkam. Er sah Jarod an und fragte: „Captain Shadowsong, trägt dieser düstere Berg einen Namen?“

„Ja, Meister Krasus. Das ist Mount Hyjal.“

„Mount Hyjal…“ Der Magier spitzte die Lippen. „Hat man uns so weit zurückgetrieben?“

Rhonin bemerkte seinen Gesichtsausdruck. Leise, sodass nur Krasus ihn hören konnte, fragte er: „Erinnerst du dich an diesen Namen?“

„Ja… und was ich damit verbinde, bedeutet nichts Gutes für die Nachtelfen.“

Der Mensch schnaufte abfällig. „Kann es noch schlimmer werden?“

Krasus’ Miene verfinsterte sich. „Dieser Rückzug darf nicht weitergehen. Die Streitmacht muss sich dem Feind stellen. Wenn wir uns hinter Mount Hyjal zurückziehen, ist alles verloren.“

„Erinnerst du dich an etwas?“

„Vielleicht denke ich auch nur logisch. Wie dem auch sei, ich bleibe dabei. Wir dürfen nicht weiter als bis zu diesem Berg ziehen. Wenn wir uns dem Gegner nicht stellen, weiß ich nicht, wie die Nachtelfen einen Sieg erringen sollen – auch wenn die Geschichte behauptet, das sei geschehen.“

„Aber Lord Ravencrest tut bereits, was er kann, und die Soldaten sind am Rand der Erschöpfung.“

„Trotzdem müssen wir mehr tun.“ Der Drachenmagier streckte sich auf seinem Nachtsäbler. „Ich frage mich, wo Malfurion ist. Seine Fähigkeiten könnten wir jetzt gebrauchen.“

„Ich habe ihn zuletzt bei der Priesterin Tyrande gesehen. Für einen Nachtelfen war er sehr blass. Er hat da draußen gegen etwas gekämpft, das ihn beinahe vernichtet hätte.“

„Ja, ich glaube, es war Archimonde.“

„Dann wäre Malfurion jetzt tot.“

Krasus schüttelte den Kopf. „Nein… und deshalb wünschte ich, er wäre hier. Aber mit oder ohne ihn müssen wir den Angriff wagen.“

„Den was wagen?!“

Rhonins ehemaliger Lehrer blickte in die Richtung der Dämonen. „Du hast richtig verstanden, wir müssen in die Offensive gehen.“


Die Mächtigsten aller Drachen hatten sich in der Kammer der Aspekte versammelt. Alexstrasza und Neltharion hatten sie dort zusammengerufen. Die vier anwesenden Aspekte leiteten die Versammlung. Außer ihnen hielten sich nur ihre Gefährten und die des abwesenden Nozdormu in der Kammer auf. Alle anderen Drachen hatten bereits etwas von sich gegeben, aber bei so mächtigen Wesen, wie sie sich hier versammelt hatten, benötigte man ein etwas schwierigeres Ritual.

Die drei Gefährtinnen des Erdwächters waren kaum hinter seiner massigen Gestalt zu sehen. Sie waren größer als Korialstrasz, wirkten neben dem schwarzen Drachen jedoch wie Zwerge. Alexstraszas jüngster Gefährte betrachtete sie und bemerkte, dass sie Schatten des Erdwächters zu sein schienen. Ihre Bewegungen hingen von Neltharions Worten und Taten ab. Den roten Drachen verstörte das, aber außer ihm schien niemand darauf zu achten.

Die Smaragddrachen, die Ysera halfen, waren hager und wirkten neben den anderen geflügelten Riesen wie Geister. Noch irritierender war, dass sie sich ebenso wie ihre Herrin nur mit geschlossenen Augen bewegten. Doch unter den Lidern sah man, dass sich ihre Augen ständig bewegten. Die Grünen existierten gleichzeitig auf der weltlichen Ebene und der des smaragdgrünen Traums. Sie waren stumm und reglos, aber Korialstrasz spürte, dass sie die Situation mit ihren magischen Sinnen sehr konzentriert überwachten.

Malygos und seine Gefährten boten einen interessanten Kontrast zu den Grünen. Sie bewegten sich ununterbrochen, stießen einander an und sahen sich überall um. Auf ihren blauweißen Schuppen sah man fröhliche magische Muster und winzige Details, die sie je nach Laune änderten. Korialstrasz fand sie erfrischender als die Schwarzen und Grünen.

Die vier Gefährtinnen von Nozdormu wirkten beinahe so ernsthaft wie Ysera. Sie hatten die gleiche sandbraune Farbe wie der Monarch der Zeit, wirkten aber fester als ihr beinahe flüssiger Herr. Korialstrasz fragte sich, wo sich Nozdormu aufhielt, dass er dieses Ereignis versäumte. Seine Königin hatte angedeutet, dass selbst die Gefährtinnen des Aspekts nicht genau wussten, was geschehen war.

Doch der Zeitlose war in seiner Essenz anwesend, und etwas anderes zählte nicht. Die älteste Gefährtin hielt ein Stundenglas in den Tatzen, das aus goldenem Sonnenlicht zu bestehen schien. Der bronzefarbene Sand darin floss nicht etwa nach unten, sondern nach oben. Wenn sich die obere Hälfte gefüllt hatte, schwebten die Körner nach unten und begannen erneut ihren Weg hinauf.

Der Sand war ein Teil Nozdormus, wurde aber getrennt aufbewahrt, für den Fall, dass sein Clan ihn dringend benötigte. Angeblich hatten alle Aspekte einen Teil ihrer Essenz abgespalten, schließlich waren sie mehr als gewaltige Reptilien. Sie repräsentierten die größten Mächte der Welt, das Fundament allen Lebens. Sie waren erschaffen worden von denen, die einst die Welt geformt hatten. Zwar waren sie an die Gesetze dieser Welt gebunden, aber sie standen so weit über den anderen Drachen, wie die Drachen über den niederen Völkern standen.

Die meisten Clans hatten ihren Beitrag bereits geleistet. Nur noch zwei waren übrig. Korialstrasz war der Letzte.

Aus irgendeinem Grund fühlte er sich nicht sonderlich geehrt.

Vor Korialstrasz musste jedoch die Essenz des Zeitlosen nach vorne gebracht werden. Saridormi, die erste Gefährtin des Aspekts, trug das Stundenglas vorsichtig zur Drachenseele.

Neltharions magische Scheibe schwebte mitten in der Kammer. Ihre einfache Form leuchtete Furcht einflößend und zugleich majestätisch. Die Drachen wurden in den Farben des Regenbogens angestrahlt, und es war wohl kein Zufall, dass der Farbton zu den einzelnen Clans passte.

„Ich trete vor euch für den, der ohne Ende ist, ihn, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sieht“, verkündete Saridormi. Sie hob das glitzernde Stundenglas über die leuchtende Scheibe. „In seinem Namen gebe ich dieser Waffe seine Stärke, seine Macht, sein Ich, auf dass wir uns den Feinden stellen können, die unser Reich bedrohen.“

Mit einem leichten Druck ihrer kräftigen Tatzen zerbrach sie das Stundenglas.

Der Sand, der die Essenz Nozdormus bildete, rieselte nicht zu Boden, wie Korialstrasz vermutet hätte. Stattdessen schwebte er hinaus – wie ein lebendiges Wesen – und begann, sich über der Drachenseele zu drehen. Einzelne Bronzesprenkel fielen der Scheibe entgegen. Jedes Partikel schlug mit einem gleißend hellen Blitz auf, bevor es verschwand.

Als das letzte Sandkorn aufschlug, leuchtete die Kammer so hell auf, dass sich Korialstrasz geblendet abwenden musste. Als das Lieht nachließ und er die Augen wieder öffnete, bemerkte der rote Drache, dass sich alle anderen, sogar die Grünen, abgewandt hatten. Einzig Neltharion schien den ganzen Vorgang beobachtet, ja, sogar gierig aufgesogen zu haben.

„Mein Geliebter“, flüsterte Alexstrasza.

Korialstrasz wusste nicht, woher das schlechte Gefühl rührte, mit dem er vortrat. Am liebsten hätte er der Drachenseele seine Essenz verweigert, doch seine Königin hatte jeden ihrer Gefährten darum gebeten. Er konnte nicht als Einziger ablehnen. Trotzdem betrachtete er den Talisman misstrauisch, so als trüge er nicht die Rettung der Welt in sich, sondern deren Vernichtung.

Das ist dumm von mir, dachte er. Aus welchem Grund sollte der Erdwächter etwas so Schreckliches planen?

Die Drachenseele schwebte jetzt direkt vor ihm. Aus dieser Nähe konnte Korialstrasz nichts Bemerkenswertes daran erkennen. Dabei enthielt sie eine Macht, nach der sich viele in der Vergangenheit bereits gesehnt hatten und nach der sich viele in der Zukunft noch sehen würden. In ihr befand sie die Essenz aller Drachen, der mächtigsten Wesen dieser Welt.

„Sie wartet auf dich.“

Der rote Drache sah den Schwarzen an. Neltharion blinzelte nicht. Sein Atem kam stoßweise, wurde hektischer. Er schien mit jeder Sekunde, die Korialstrasz zögerte, nervöser zu werden.

Etwas stimmt hier nicht… dachte Alexstraszas Gefährte. Doch dann erinnerte er sich daran, dass sie, Malygos und Ysera freiwillig einen Teil ihrer selbst gegeben hatten. Malygos hatte sogar darauf bestanden, als Erster dieses Opfer zu bringen. Damit hatte er seinen Freund unterstützen wollen. Wenn der Meister der Magie Neltharion traute, hatte Korialstrasz dann überhaupt das Recht zu zweifeln?

Der Gedanke lastete noch über ihm, als sich der Rote der Drachenseele öffnete.

Die Scheibe leuchtete auf und tauchte ihn in helles Licht. Korialstrasz reckte seine Brust vor und zwang sich, all die magischen Schutzwälle aufzulösen, mit denen Drachen sich umgaben. Er spürte, wie die Drachenseele nach ihm griff, so wie sie auch nach den anderen gegriffen hatte. Seine gepanzerte Haut schien nur Illusion zu sein.

Sekunden später kehrte die mächtige Drachenseele aus seiner Brust zurück. Sie zog etwas mit sich, ein sich windendes kleines Ding, das halb aus Licht und halb aus Materie zu bestehen schien. Es war von einer rötlichen Aura umgeben. Als es sich von Korialstrasz trennte, spürte er einen Verlust, der ihn traurig stimmte.

Der Rote sah beunruhigt zu, wie die Drachenseele ihr Opfer an sich heranzog. Langsam kehrte das Licht in die Scheibe zurück.

Als die Substanz, die sie mitgenommen hatte, dem Licht folgte, stieß Korialstrasz die Luft aus. Er wollte die Hand ausstrecken und zurückholen, was ihm gehörte, aber das ging nicht. Er hätte alles zerstört und, schlimmer noch, seine geliebte Alexstrasza entehrt.

Und so sah Korialstrasz hilflos zu, wie die Drachenseele seine Essenz absorbierte und mit den anderen verband. Er sah hilflos zu, als Neltharion die Scheibe beinahe gierig aus der Luft riss und vor den Drachen emporhielt.

„Es ist vollbracht“, verkündete der Erdwächter. „Alle haben gegeben, was zu geben war. Ich werde jetzt die Drachenseele versiegeln, damit ihr Inneres niemals verloren geht.“

Neltharion schloss die Augen. Eine düstere schwarze Aura umgab seinen Körper, löste sich und floss zu dem mächtigen Talisman in seiner Tatze.

Die anderen Drachen sahen überrascht auf. Einen kurzen Moment lang leuchtete die Drachenseele im tiefschwarzem Licht ihres Erschaffers.

„Soll dies so sein?“, fragte Ysera leise.

„Ja, damit sie so ist, wie sie sein soll“, antwortete Neltharion beinahe schnippisch.

„Es ist eine Waffe wie keine andere. Sie muss sein wie keine andere“, fügte der weise Malygos hinzu.

Der Erdwächter stimmte dem blauen Drachen nickend zu. Dann sah sich Neltharion in der Kammer um und wartete auf Fragen. Korialstrasz fielen einige ein, aber da seine Königin mit dem Verlauf der Ereignisse zufrieden zu sein schien, wagte er es nicht, sie zu stellen.

„Der letzte Zauber wird Zeit benötigen“, sagte der schwarze Drache. „Die Scheibe wird an einen Ort der Stille und der Zurückgezogenheit gebracht, wo der schwierige Zauber gewoben werden kann.“

„Wann?“, fragte Alexstrasza. „Es darf nicht zu lange dauern.“

„Sie wird fertig sein, wenn sie fertig sein muss.“ Mit diesen Worten breitete Neltharion seine Flügel aus und stieg in die Lüfte. Seine Gefährtinnen folgten ihm ungefragt, wie Marionetten, die mit dem Erdwächter verbunden waren.

Die anderen Drachen sahen ihm nach, als er durch die scheinbar steinerne Wand der Kammer verschwand, und hoben ebenfalls ab. Alexstrasza blieb zurück, also tat Korialstrasz das Gleiche.

Sein Blick folgte den abfliegenden Drachen, während seine Gedanken um das kreisten, was sie heute vollbracht hatten. Eine furchtbare Macht steckte in der kleinen goldenen Scheibe. Neltharion hatte tatsächlich eine Waffe erschaffen, gegen die selbst endlose Dämonenhorden nicht bestehen konnten.

Oder Drachen…

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