14

Westlich von Suramar endete die Verfolgung der Brennenden Legion. Die Nachtelfen konnten sie nicht mehr weiter zurückdrängen, aber ihre Feinde vermochten auch keinen Boden gutzumachen.

Die Krieger der Brennenden Legion kämpften ohne Unterlass, aber die Nachtelfen hatten einen großen Vorteil: Sie kannten die Gegend weit besser als die Dämonen. Die Landschaft rund um Suramar bestand aus sanften Hügeln und breiten Flüssen. Bis vor kurzem hatte es dort auch Wälder gegeben, doch sie waren von der Brennenden Legion niedergebrannt worden. Jetzt sah man nur noch geschwärzte Stämme und zerfallene Hütten. Sie dienten nicht nur als Orientierungspunkte, sondern boten auch Schutz.

Späher wurden ausgesandt, um die genaue Aufstellung der Dämonen zu erkunden. In einer dieser Gruppen befanden sich Brox, Rhonin, Captain Shadowsong und einige seiner Soldaten. Der Orc und der Mensch hatten sich freiwillig für diese Mission gemeldet, da sie besser mit der Vorgehensweise der Brennenden Legion vertraut waren als die Nachtelfen. Ravencrest hatte jedoch darauf bestanden, dass sie und der Rest der kleinen Truppe zu einer festgesetzten Zeit ins Lager zurückkehren mussten. Nur so konnte er ihre Sicherheit garantieren, und abhängig von den Informationen, die ihm seine Kundschafter überbrachten, würde er vielleicht schon kurz darauf angreifen lassen.

Es war Nacht geworden, doch daran lag es nicht, dass die Gruppe so langsam vorankam. Die Dunkelheit hätte ihnen nicht geschadet, im Gegenteil, sie hätte bei der Suche geholfen. Der dichte grüne Nebel, der alles bedeckte, behinderte sie hingegen. Er schien sich überall dort auszubreiten, wo sich die Dämonen aufhielten. In seinem Schutz konnten sie den ahnungslosen Spähern auflauern.

Langsam bewegte sich der zwölfköpfige Spähtrupp über das zerstörte Land. Schwarze, verdorrte Stämme warfen unheimliche Schatten in den Nebel. Der grüne Schleier hüllte alles ein.

Das hatte jedoch auch Vorteile. Der Spähtrupp war nicht weit von Suramar entfernt und bewegte sich gerade durch eine Gegend, in der eine Siedlung gestanden hatte. Hier und da konnte man noch die Ruinen eines umgefallenen oder zertrümmerten Baumhauses erkennen, mehr jedoch nicht. Die Reiter wussten, dass die Einwohner vermutlich irgendwo zwischen ihren zerstörten Behausungen lagen.

„Barbarisch…“, murmelte Jarod.

Brox grunzte. Die Nachtelfen hatten schnell gelernt, wie man sich innerlich gegen Grausamkeiten wappnete, aber sie konnten sie nicht so hinnehmen wie ein Orc. Brox war mit Gewalt aufgewachsen. Zuerst das Ende des Krieges gegen die Allianz, dann der opferreiche Marsch ins Reservat… und schließlich der Kampf gegen die Brennende Legion und die Untoten-Geißel. Er trauerte zwar um die Toten, aber es gab nur wenig, was ihm noch hätte den Magen umdrehen können. Letzten Endes war jeder Tod gleich.

Rechts neben dem Orc fluchte Rhonin leise. Der Zauberer steckte den Sichtstein, den er hatte benutzen wollen, wieder in seine Gürteltasche. Auch diese Magie konnte den Nebel offenbar nicht durchdringen.

Brox vertraute bei der Suche nach dem Feind auf seine eigenen Methoden. Alle paar Schritte hob er die Nase in die Luft und schnüffelte. Die meisten Gerüche, die er wahrnahm, rührten von Tod und Verwesung. Die einzigen Dämonen, die er bemerkt hatte, waren längst tot. Ihre Körper lagen am Boden und verrotteten.

Natürlich gab es viele andere Leichen. Überall lagen verstümmelte Nachtelfen. Einige waren Soldaten, die beim Rückzug ums Leben gekommen waren, andere hilflose Zivilisten, die zu langsam gewesen waren. Kein Opfer war unversehrt: Arme, Beine, sogar Köpfe hatte man abgetrennt. Einige Leichen schienen nach ihrem Tod verstümmelt worden zu sein. Wenn die Soldaten solche Toten sahen, verhärteten sich ihre Gesichter noch mehr.

„Verteilt euch, aber bleibt in Sichtweite“, befahl Jarod, der die Zügel seines Nachtsäblers kurz hielt. „Und achtet auf eure Tiere.“

Den letzten Befehl sprach er zum wiederholten Mal aus. Die großen Panther waren angespannt, so als bemerkten sie etwas, das ihre Reiter nicht wahrnehmen konnten. Das erhöhte die Nervosität des Spähtrupps.

Schatten wie aus einem Alptraum erhoben sich vor ihnen… die äußeren Bezirke Suramars. Die Brennende Legion hatte nicht genug Zeit gehabt, um die ganze Stadt zu schleifen, deshalb ragte ein Teil von ihr noch immer wie ein Skelett in die Höhe. Es war ein Mahnmal für all das, was die Brennende Legion angerichtet hatte… und vielleicht noch anrichten würde.

„Mutter Mond…“, flüsterte ein Soldat.

Brox sah Jarod an. Der Captain starrte ohne zu blinzeln auf seine Heimat. Seine Hände krampften sich um die Zügel. Eine Ader in seinem Hals pochte.

„Es ist schwer, kein Zuhause mehr zu haben“, sagte der Orc, der an sein eigenes Leben dachte.

„Ich habe ein Zuhause“, widersprach Jarod. „Suramar ist immer noch meine Heimat.“

Der Orc schwieg. Er verstand den Schmerz des Nachtelfen.

Durch zertrümmerte Tore rückten sie in die Stadt vor. Es war vollkommen still. Ihr eigener Atem erschien ihnen zu laut an diesem Ort der Ruhe.

Nach einer Weile zügelten sie ihre Reittiere. Jarod sah den Magier Rat suchend an. Vor ihnen teilte sich die Straße in drei Wege.

Aus Sicherheitsgründen hätte die Gruppe eigentlich zusammenbleiben sollen, aber dann blieb ihnen nicht genügend Zeit, um die ganze Stadt zu durchkämmen.

Rhonin runzelte die Stirn und sagte: „Niemand zieht hier allein los. Dieser Nebel ist magisch. Dann können wir eben nicht alles absuchen, Captain.“

„Ich bin deiner Meinung“, stimmte der Captain erleichtert zu. „Ich hätte nie gedacht, dass ich den Ort, an dem ich aufgewachsen bin, einmal mit solchem Misstrauen betreten würde.“

„Das ist nicht mehr dein Suramar, Shadowsong. Das darfst du nie vergessen. Die Brennende Legion beschmutzt alles, was sie berührt. Die Stadt kann auch ohne Dämonen sehr gefährlich sein.“

Brox nickte. Er erinnerte sich noch gut an die Dinge, die aus dem Nebel gekrochen waren, als sein Volk gegen die Höllischen kämpfte. Dagegen verblasste alles, was die Nachtelfen bisher gesehen hatten.

Es waren genügend Ruinen übrig geblieben, um sich in der Stadt orientieren zu können. Hier und da tauchte ein unbeschädigtes Gebäude aus dem Nebel auf. Jarods Soldaten untersuchten diese Häuser in der Hoffnung, auf Überlebende zu stoßen.

Sie fanden jedoch keine.

Die Gruppe hatte sich zwar nicht trennen wollen, aber die Zerstörungen zwangen sie schließlich dazu. Der Weg, den sie gewählt hatten, war so verschlungen und voller Trümmer, dass es zu viel Zeit gekostet hätte, weiter zusammenzubleiben. Also entschied sich Jarod schweren Herzens, jeweils drei Soldaten in Seitenstraßen zu entsenden.

„Macht einen Bogen um die Trümmer und kehrt zu uns zurück, sobald es möglich ist“, befahl er den sechs Nachtelfen. Die beiden Gruppen wendeten ihre Nachtsäbler. „Und bleibt zusammen!“, rief Jarod ihnen nach.

Shadowsong und seine übrig gebliebenen drei Soldaten bildeten die Eskorte für Rhonin – und damit auch für Brox. Langsam zogen sie weiter. Die Nachtsäbler bewegten sich vorsichtig durch die Ruinen. Drei große Baumhäuser waren hier zerstört worden und hatten sich über die Straße verteilt. Eines lag quer über den anderen beiden und über dem Weg.

Brox’ Nachtsäbler trat auf etwas und fauchte erschrocken. Rhonin warf einen Blick nach unten und sagte: „Der Besitzer ist noch hier.“

Auf dem Hügelkamm fanden sie weitere Leichen. Es waren Stadtbewohner, die offenbar versucht hatten zu fliehen, aber von der Brennenden Legion eingeholt worden waren. Abgesehen von ihren schrecklichen Wunden waren die Opfer merkwürdigerweise unversehrt. Die Verwesung hatte nicht eingesetzt, und auch Aasfresser waren nicht über sie hergefallen.

„Sie sind beim ersten Angriff umgekommen“, bemerkte der Magier. „Seltsam, dass sie noch so gut aussehen.“

„Ihr Anblick reicht mir völlig“, sagte Jarod Shadowsong.

Die Panther bewegten sich vorsichtig auf den ursprünglichen Weg zu, der nicht immer leicht erkennbar war. Brox hob seine Nase in die Luft und atmete tief ein.

Einen Moment lang glaubte er etwas wahrzunehmen, doch der Geruch war alt und schwach. Er sah sich um und entdeckte den Kadaver einer Teufelsbestie, die irgendein Soldat aufgespießt hatte. Brox grunzte zufrieden.

Schließlich erreichten sie ebenen Boden. Jarod zeigte nach vorne und sagte: „Da hinten ist eine größere Straße, Meister Rhonin. Dort werden wir die anderen treffen.“

„Das würde mich freuen.“

Kurze Zeit später tauchte die Straße aus dem Nebel auf. Die Gruppe hielt auf einer Kreuzung an und sah sich um.

„Wir sind vermutlich vor ihnen da“, sagte Jarod.

Brox streckte sich. Rhonin setzte sich nervös in seinem Sattel auf. Seine Finger krümmten sich. Der Orc wusste, dass so die Vorbereitungen auf einen Zauber aussahen.

„Ah.“ Jarod wirkte erleichtert. „Da kommen die ersten.“

Von links ritten drei Soldaten heran. Sie wirkten erfreut, als sie ihre Kameraden entdeckten. Sogar die Panther liefen ihnen freudig entgegen.

„Was habt ihr gesehen?“, fragte Shadowsong die Ankömmlinge.

„Nichts, Captain“, antwortete der Ranghöchste. „Nur Ruinen und Leichen. Ungefähr gleich viele von unseren Leuten wie von diesen Ungeheuern.“

„Verdammt…“

„Gibt es Vermisste, die du kennst, die sich aber nicht bei unserer Streitmacht befinden?“, fragte Rhonin.

„Leider sehr viele. Und je mehr Leichen wir hier finden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie in der Menge einfach übersehen habe.“

Brox hatte solche Geschichten schon oft gehört. Viele, mit denen er aufgewachsen war, hatten in den unzähligen Schlachten den Tod gefunden. Kein Wunder, dass er sein Überleben bedauert hatte, schließlich hatte der Orc die meisten seiner Blutsbrüder überlebt. Er begriff, dass seine Sehnsucht nach dem Tod auch aus seiner Einsamkeit entsprungen war.

Jarod blickte in die entgegengesetzte Richtung. „Die anderen sollten jeden Moment hier sein.“

Doch dieser Moment und einige hundert weitere kamen und gingen, ohne dass die erwarteten Soldaten auftauchten. Die Reiter wurden nervös. Ihre schlechte Laune übertrug sich auf die Nachtsäbler, die mit jeder verstreichenden Minute lauter fauchten und knurrten.

Schließlich hielt es Brox nicht mehr aus. Captain Shadowsong, der ebenfalls nach den verschwundenen Soldaten suchen wollte, hatte den Befehl noch nicht ausgesprochen, da ritt Brox bereits los.

Er lenkte sein Reittier die Straße entlang und forschte angespannt nach irgendwelchen Hinweisen. Rhonin und die Nachtelfen folgten ihm.

Trümmer bedeckten die Straße. Zerrissene Kleidung und alte Blutflecke bildeten die einzigen Farbkleckse im düsteren Nebel. Der Orc nahm seine Axt heraus und zwang sein Reittier weiter.

Brox entdeckte etwas Merkwürdiges. Er richtete sich im Sattel auf und sah sich aufmerksam um. Sein Verdacht bestätigte sich.

Es lagen keine Leichen am Boden, keine Nachtelfen, keine Dämonen. Auch die zu befürchtenden Leichen der Soldaten oder ihrer Reittiere waren nicht zu sehen.

Was war mit ihnen geschehen?, fragte sich Brox. Wieso war diese Straße nicht mit Opfern der Invasion bedeckt?

Ein Geräusch ließ den grünhäutigen Krieger zusammenzucken. Er drehte den Kopf nach rechts und sah eine Gestalt, die sich langsam aus dem Nebel schälte. Es war ein Soldat, aber er ging zu Fuß und hatte seine Waffe gezogen.

„Wo ist dein Reittier?“, fragte der Orc.

Der Soldat trottete steif auf ihn zu. Seine Rüstung war blutverschmiert, und sein Mund stand offen.

Als er näher kam, bemerkte Brox, dass sein Kiefer fehlte, ebenso ein Auge. Die Wunde zog sich bis zu seiner Kehle… oder was davon noch übrig war.

Die unheimliche Gestalt hob ihre Waffe, als sie Brox’ Stimme hörte. Hinter ihr schoben sich weitere Schatten aus dem Nebel.

Der grünhäutige Krieger war kein Feigling, doch jetzt riss er sein Reittier hart herum. Die große Katze schlug mit einer Tatze nach dem Soldaten und schleuderte ihn zur Seite wie ein Spielzeug.

Die anderen erreichten ihn im gleichen Moment. Jarod sah an ihm vorbei zu dem am Boden liegenden Soldaten. „Warum hast du das getan? Dein Panther hat ihn umgebracht!“

„Er war schon vorher tot. Wir müssen uns beeilen. Da hinten sind noch mehr!“

Der Nachtelf wollte widersprechen, aber Rhonin hielt ihn mit einer Hand zurück. „Sieh in den Nebel, Shadowsong! Sieh hin!“

Jarod folgte der Aufforderung. Sein Gesicht verzerrte sich entsetzt. Der tödlich verletzte Soldat kam taumelnd auf die Beine, bot einen noch groteskeren Anblick als zuvor. Er hob sein Schwert und stolperte auf die kleine Gruppe zu. Hinter ihm konnte man jetzt die anderen Gestalten deutlicher erkennen. Es waren Nachtelfen, die weitaus monströser wirkten als der tote Soldat. Ihre Wunden waren schrecklich. Einigen fehlten Gliedmaßen. Sie alle hatten den gleichen leeren Gesichtsaudruck und bewegten sich mit der gleichen tödlichen Entschlossenheit.

„Weg hier!“, rief der Captain. „Zurück durch das Stadttor! Folgt mir!“

Jarod und der Zauberer übernahmen die Führung. Gemeinsam floh die Gruppe vor den herantaumelnden Untoten. Sie ritten den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, doch als sie die Kreuzung erreichten, lenkte Jarod sein Reittier in die entgegen gesetzte Richtung.

„Warum hier lang?“, rief Rhonin.

„Dieser Weg wird uns schneller an unser Ziel bringen… hoffe ich.“

Doch als sie weiterritten, schälten sich noch mehr Gestalten aus dem Nebel. Brox knurrte, als eine ältere Frau in blutverschmiertem, ehemals silbernem Gewand beinahe hungrig nach seinem Bein griff. Er trat nach ihr und schlug ihr zur Sicherheit mit einem gewaltigen Axtstreich den Kopf ab. Ihr Körper taumelte, doch ihre Arme griffen und schlugen weiter nach dem Orc… der aber längst weg war.

Rhonin zügelte plötzlich seine Katze. „Vorsicht!“

Seine Warnung kam zu spät für den Soldaten neben ihm. Unzählige Klauen, die einst Hände gewesen waren, rissen ihn von seinem Reittier. Er stach mit seinem Schwert nach ihnen, konnte aber nichts ausrichten.

Jarod wollte ihm zu Hilfe eilen, aber im gleichen Moment verschwand sein Kamerad bereits zwischen den lebenden Leichen. Seine Schreie endeten abrupt.

„Du kannst ihm nicht mehr helfen!“, rief der Zauberer, als er sah, dass Jarod zögerte. „Reitet alle weiter. Ich weiß, was ich tun muss.“

„Wir werden dich nicht zurücklassen“, widersprach der Captain.

Brox zügelte seine Katze neben Rhonin. „Ich bleibe bei ihm.“

„Wir bleiben direkt hinter dir, Shadowsong. Da hinten sieht der Weg frei aus. Ihr solltet die Stadt problemlos verlassen können.“

Der Nachtelf wollte seine Freunde nicht zurücklassen, wollte aber auch keine weiteren Leben riskieren. Er wusste, dass Rhonin die besten Überlebenschancen der Gruppe hatte.

„Hier lang!“, rief der Captain dem Rest seines Trupps zu.

Der reiterlose Nachtsäbler folgte den Soldaten. Rhonin wandte sich zu den herantaumelnden Leichen um. „Brox, ich brauche ein paar Sekunden.“

Der Orc nickte und preschte vor. Er stieß einen Schlachtruf aus und begann mit seiner Axt um sich zu schlagen. Er durchtrennte Hände, die nach ihm griffen, riss Brustkörbe auf und schlug Köpfe mit tödlicher Präzision und enormer Wucht ab.

Als Brox’ Kraft nachzulassen begann, rief Rhonin ihn zurück. „Das reicht! Komm zu mir!“

Der Zauberer wartete, bis der Orc seine Katze neben ihm zügelte, dann warf er der herantaumelnden Horde eine kleine Phiole entgegen. Sie flog über die erste Reihe der wandelnden Leichen hinweg und bespritzte sie mit einer Flüssigkeit, die bei Berührung in Flammen aufging.

Das Feuer weitete sich rasch zum Inferno aus. Die Leichen, die hinter der ersten Reihe gingen, stolperten in die Flammen hinein und fingen ebenfalls Feuer. Diejenigen, die bereits brannten, kollidierten mit anderen und setzten sie in Brand.

„Das Gleiche habe ich mal gegen die Untoten-Geißel eingesetzt“, sagte der Mensch grimmig, aber zufrieden. „Komm, wir müssen – “

Eine der brennenden Gestalten prallte gegen Brox’ Reittier. Der Nachtsäbler fing sofort Feuer. Der Orc versuchte sich auf dessen Rücken zu halten, als das Tier in Panik flüchtete – tiefer in die Stadt hinein.

Rhonin rief hinter ihm her, aber Brox konnte den Nachtsäbler nicht beruhigen. Die Schmerzen des glimmenden Feuers trieben den Panther in den Wahnsinn. Unkontrolliert stürmte er durch die Straßen.

Der Orc versuchte das Feuer auszuschlagen, doch das half nicht. Der Nachtsäbler stoppte abrupt und warf sich auf seine schmerzende Seite. Brox konnte gerade noch abspringen, sonst wäre sein Bein unter dem Tier zerquetscht worden.

Der Panther rollte sich über den Boden, geriet wieder in Panik und stürmte davor. Brox konnte ihn nicht aufhalten. Der Orc warf sich herum und begann, mit seiner Axt um sich zu schlagen, erkannte jedoch nach einem Moment, dass er sich in keiner unmittelbaren Gefahr befand.

Allerdings war er auch allein und ohne Reittier.

Vorsichtig machte sich Brox auf den Rückweg – zumindest hoffte er, dass es der Rückweg war. Der verletzte Panther schien ihn weiter mit sich geschleppt zu haben, als der Orc anfangs gedacht hatte.

Er blähte die Nüstern, roch jedoch weder den Menschen, noch die Nachtelfen. Auch sein sonst unfehlbarer Orientierungssinn ließ ihn im Stich. Der Nebel narrte seine Sinne.

Unsicher bog der Orc in eine Straße ein, die ihm vertraut erschien. Geschwärzte Bäume und zerstörte Gebäude schälten sich aus dem Nebel, aber er erkannte nichts davon wieder.

Plötzlich roch er etwas. Brox zögerte und blähte erneut die Nüstern. Er biss die gelben Zähne zusammen.

Mit neuer Entschlossenheit wandte er sich nach rechts. Bei jedem Schritt hob er die Nase in die Luft. Er kletterte über eine entwurzelte Eiche und über die Ruinen eines zertrümmerten Hauses. Brox ließ sich von diesen Hindernissen nicht beirren. Er bewegte sich vorsichtig und möglichst lautlos – eine schwierige Aufgabe, da er nur eine Hand benutzen konnte, um sich abzustützen. In der anderen hielt er weiterhin seine Axt fest umklammert.

Als er das Dach der ehemaligen Nachtelfen-Behausung erreichte, nahm Brox einen neuen Geruch wahr. Seine Nüstern kräuselten sich angewidert, doch auch davon ließ er sich nicht zurückhalten. Und dann blickte er über den Dachfirst und sah die Dämonen bei ihrem schauerlichen Werk.

Vier Teufelswächter und eine Verdammniswache befanden sich unter ihm. Brox hielt sie allerdings für eine geringere Bedrohung als die beiden Gestalten, die vor ihnen standen. Der Orc knurrte, als er die geflügelten Monstrositäten in ihrer mitternachtsblauen Rüstung wieder erkannte – aus seiner eigenen Zeit. Sie gestikulierten mit Fingern, die in klingenartigen Nägeln endeten. Eine grüne Aura umgab ihre Hände.

Nathrezim. Man nannte sie auch Schreckenslords.

Sie waren größer als die anderen Dämonen und wirkten gefährlicher. Aus ihren Köpfen ragten geschwungene dunkle Hörner empor. Ihre Haut war grau wie die einer Leiche und vollkommen haarlos. Zwei Fangzähne ragten aus ihrem Maul. Brox musste unwillkürlich an die Vampirgeschichten denken, die man sich über die Schreckenslords erzählte. Die Nathrezim waren tatsächlich Vampire, allerdings saugten sie den Verstand der geistig Schwachen aus und versklavten ihre Opfer manchmal sogar.

Die beiden bewegten sich auf kräftigen behuften Ziegenbeinen. Sie galten als listige und äußerst talentierte Magier – noch talentierter als die Eredar –, waren aber außerdem fähige Kämpfer. In dieser speziellen Situation musste der Orc jedoch hauptsächlich ihr magisches Können fürchten, denn er hatte die Totenbeschwörer gefunden.

Den beiden Nathrezim war es tatsächlich gelungen, die Toten zu erwecken, die von ihren Dämonenkriegern so brutal ermordet worden waren. Der Orc dachte an die Untoten-Geißel und deren dunkle Zauber. Was diese Kreaturen hier taten, war schlimmer als alles, was die Teufelswächter und Verdammniswachen anrichten konnten.

Brox stellte sich vor, wie er sich gefühlt hätte, wären seine ermordeten Kameraden plötzlich in den Reihen der Feinde aufgetaucht. Das war ein Sakrileg, eine Beleidigung der Geister. Eine unbezähmbare Wut stieg in ihm auf. Brox dachte an Rhonin und die Nachtelfen. Möglicherweise waren sie entkommen, doch es trieben sich so viele wandelnde Tote in der Stadt herum, dass sie vielleicht gerade um ihr Leben kämpften… oder es bereits verloren hatten. Und wenn sie es verloren hatten, würden sie sich wahrscheinlich bald den Reihen der Untoten anschließen. Brox konnte sich nicht länger zurückhalten. Er erhob sich aus seinem Versteck, stieß seinen Schlachtruf aus und stürmte seinen Feinden entgegen.

Sein Schrei hallte durch die Stille. Es bereitete ihm Freude, als er sah, dass die Dämonen erschrocken zusammenzuckten. Ihre Verblüffung verlangsamte ihre Reflexe. Darauf hatte der Orc gezählt.

Die Axt, die Malfurion und der Halbgott für ihn erschaffen hatten, schnitt widerstandslos in die gepanzerte Brust des ersten Teufelswächters. Dessen Eingeweide quollen hervor. Noch während er zusammenbrach, trennte Brox bereits den Unterarm seines zweiten Feindes ab.

Die Schreckenslords unterbrachen ihre Zauber nicht. Sie verließen sich auf die anderen Dämonen. Allerdings hatten sie noch nie gegen Orcs gekämpft – zumindest nicht in dieser Zeit –, und ihr fehlendes Wissen war ein Vorteil für Brox. Er prallte gegen eine Verdammniswache und warf sie mit seinem beträchtlichen Gewicht um. Elegant wich er deren Schwertstoß aus.

Brox schlug nach seinem geflügelten Gegner und parierte den Hieb eines zweiten Feindes. Er halbierte den Dämon. Mit dem nächsten Schlag zertrümmerte er den Schädel des ersten Gegners.

Jetzt endlich schaute einer der beiden Zauberer auf. Er unterbrach sein Tun und zeigte mit einer Hand auf Brox.

Verzweifelt warf sich der Orc zur Seite. So sorgte er dafür, dass der Zauber die hinter ihm befindliche Verdammniswache traf. Die geflügelte Gestalt schrie und krümmte sich zusammen. Ihre Brust blähte sich auf und zerplatzte.

Ein Hieb traf den Orc von hinten. Brox schüttelte sich benommen. Der letzte noch lebende Teufelswächter stand über ihm. Der Nathrezim lief auf ihn zu. Schadenfreude leuchtete in seinem dämonischen Gesicht.

„Du wirst gut für uns kämpfen“, zischte er. „Viele deiner Freunde töten…“

Der Gedanke, dass er als Toter Tyrande und den anderen entgegenstolpern würde, entsetzte Brox. Er war bereit, den Tod zu akzeptieren – aber nicht diese Parodie des Sterbens.

„Nein!“ Brox richtete sich auf, wohl wissend, dass er keine Chance gegen die Waffen des Teufelswächters oder die Zauber des Nathrezim hatte.

Im gleichen Moment heulte der zweite Totenbeschwörer plötzlich auf. Seine Laute brachen jedoch ebenso plötzlich wieder ab, als er in blauen Flammen aufging.

Die beiden Dämonen fuhren herum und verschafften so Brox seine Chance. Er stürzte sich auf den zweiten Totenbeschwörer und riss die Axt hoch. Die scharfe Klinge trennte dessen Haupt vom Körper.

Eine Klinge stach in seine Seite. Brox grunzte schmerzerfüllt und wandte sich dem Angreifer zu. Seine Axt zertrümmerte dessen Schwert. Der Teufelswächter wollte sich zurückziehen, doch der Orc tötete ihn mit einem Schlag.

Schwer atmend sah er sich um. Aus den Trümmern eines umgestürzten Baumes trabte Rhonin auf seinem Nachtsäbler vor.

„Ich dachte, du könntest ein wenig Ablenkung gut gebrauchen.“ Der Zauberer betrachtete die Leichen. „Wenn ich mich unerwünscht eingemischt haben sollte, kannst du mir das ruhig sagen.“

Brox schnaufte. „Ein guter Krieger schätzt jeden Verbündeten, Mensch. Dieser Krieger dankt dir.“

„Ich sollte dir danken. Schließlich hast du die Totenbeschwörer gefunden. Der Anblick der lebenden Leichen hat mich zu sehr an die Schrecken der Untoten-Geißel erinnert.“

Brox suchte mit Blicken nach den Untoten, fand jedoch keinen.

„Keine Sorge, Brox“, beruhigte ihn Rhonin. „Als die Nathrezim fielen, verging auch ihr Zauber. Die Toten haben ihre Ruhe wieder gefunden.“

„Gut.“

„Du bist verwundet.“

Der Orc grunzte nur. „Ich war schon oft verwundet.“

Rhonin grinste. „Na ja, dann wirst du reiten. Jarod und die anderen warten bestimmt hinter dem Tor auf uns. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der ehrenwerte Captain sich weit von uns entfernen würde. Er hat schon Krasus und Malfurion verloren. Er wird Ravencrest nicht noch einmal mit leeren Händen gegenübertreten.“

Unter anderen Umständen hätte Brox das Angebot nicht angenommen. Bei seinem Volk galt es als beschämend, Anzeichen von Schwäche zu zeigen.

Doch er spürte, dass er mit seiner Stärke am Ende war. Ein guter Krieger brachte nicht diejenigen in Gefahr, die ihm geholfen hatten. Der Orc stieg auf den Nachtsäbler und überließ Rhonin die Zügel.

„Es beginnt…“, murmelte der Zauberer. „Sie experimentieren mit einer Armee aus Untoten. Wahrscheinlich arbeiten sie auch an anderen Orten damit.“

Im dichten Nebel war der Weg beschwerlich. Brox bemerkte einen toten Nachtelf. Seine Kleidung ließ darauf schließen, dass er in der Stadt gelebt hatte. Er regte sich nicht. Der Anblick erleichterte und bedrückte den Orc gleichermaßen.

„Du verstehst, was ich damit sagen will, nicht wahr, Brox?“

Der Orc verstand es. Jeder, der den letzten Krieg gegen die Brennende Legion und das schreckliche Nachspiel überlebt hatte, hätte es verstanden. In ihrer Zeit hatten alle die Horrorgeschichten über die Pestländer und die untoten Horden, die sie durchstreiften, gehört. Viele hatten miterleben müssen, wie Freunde und Familienangehörige von den Toten auferstanden und von ihnen angegriffen worden waren.

Die Untoten-Geißel hielt die Welt in ihren Klauen, wollte sie in ein riesiges Pestland verwandeln. Quel’Thalas war beinahe verloren, viele Gegenden Lordaerons ebenfalls. Die Untoten durchstreiften fast alle Länder.

Hier, in tiefster Vergangenheit, waren Rhonin und Brox gerade den ersten Anzeichen der Geburt dieser Geißel begegnet… und trotz ihres kleinen Sieges wussten sie, dass sie diesen Teil der Zukunft nicht mehr würden ändern können.

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