Die dunklen Gedanken überwältigten Illidan. Er hatte Rhonins Befehl befolgt und seinen Bruder gefunden, doch dieser hatte ihn nur an seine Fehlschläge und Schwächen erinnert. Was machte es da schon, dass sein Bruder und die Frau, die er liebte, in irgendeiner schrecklichen Gefahr schwebten? Wichtig war nur, dass Malfurion Tyrande für sich gewonnen hatte, ohne überhaupt zu verstehen, dass er Teil eines Wettbewerbs gewesen war. Sein naiver Bruder war über den größten aller Preise gestolpert, während Illidan, der so hart dafür gekämpft hatte, nur ein gebrochenes Herz bekommen hatte.
Ein kleiner Teil von ihm bettelte darum, den beiden trotzdem helfen zu dürfen. Zumindest Tyrande musste gerettet werden. Immerhin war sie in die Fänge der Brennenden Legion geraten.
Die Brennende Legion… Manchmal fragte sich Illidan, ob er nicht besser bei Königin Azshara und den Hochwohlgeborenen aufgehoben gewesen wäre. So wie es im Moment aussah, würden sie die Früchte aus ihrer Allianz mit den Dämonen ernten. Krasus und Rhonin behaupteten zwar, die Dämonen würden alles Leben einschließlich der Königin und ihrer Anhänger vernichten, aber er glaubte nicht daran. Wenn das stimmte, weshalb stand Azshara dann auf ihrer Seite? Die Hochwohlgeborenen mussten doch nur das Portal schließen, um die Gefahr zu bannen. Aber das taten sie nicht, also wussten sie wohl etwas, das Illidan verborgen blieb.
Er knurrte. In seinem Kopf prallten unterschiedliche Gedanken und Ideen, die er vor wenigen Tagen noch als unmöglich abgetan hätte, aufeinander. Er blickte zu Rhonin, der die Mondgarde anführte. Der Zauberer würde diese Position sicher nicht freiwillig wieder aufgeben. Illidan fluchte. Nicht nur sein Bruder hatte ihn verraten, sondern auch Rhonin und Lord Ravencrest waren ihm in den Rücken gefallen.
Illidan!, rief Malfurion in seinen Gedanken.
Der Zauberer verschloss seinen Geist vor ihm.
Tyrande rutschte aus dem Griff des Satyrs und fiel zu Boden. Sie regte sich kaum, was Malfurion in seinem Verdacht bestätigte, dass Xavius sie mit einem Zauber belegt hatte.
Der ehemalige Berater hielt seine Schulter umklammert, die von einem Pfeil getroffen worden war. Blut floss aus der Verletzung, aber Xavius wirkte eher wütend als davon ernstlich beeinträchtigt. Er zog an dem Pfeil, und als dieser sich nicht sofort aus der Wunde lösen wollte, brach er ihn einfach ab.
Die anderen Satyrn sahen sich nach dem Angreifer um. Einer von denen, die Malfurion festhielten, zuckte plötzlich und brach zusammen. Ein Pfeil ragte zwischen seinen Schulterblättern hervor.
Ein Arm des Druiden war jetzt frei. Er griff in eine seiner Gürteltaschen und warf seiner zweiten Wache den Inhalt entgegen. Der Satyr schrie auf und rieb sich die Augen. Die Kräuter, die Malfurion mit Cenarius’ Hilfe gesammelt hatte, brannten sich in das Fleisch. Der Satyr taumelte zur Seite, beachtete seinen Gefangenen nicht mehr. Malfurion zog seinen Dolch und schlitzte der blinden Kreatur die Kehle auf. Der Satyr sackte zusammen. Der Druide rief den Wind zu Hilfe und bat ihn, seine Klinge zu führen, als er sie Xavius entgegen schleuderte.
Der ehemalige Hochwohlgeborene war zwar verwundet, wich dem Dolch aber dennoch geschmeidig aus. Er warf einen kurzen Blick auf das Portal, das die drei Satyrn immer noch kontrollierten, dann griff er erneut nach Tyrande.
Ein Pfeil bohrte sich unmittelbar vor seinem Huf in den Boden. Xavius’ Augen blitzten. Mit einer Geste erteilte er den Satyrn, die nicht durch den Portalzauber gebunden waren, seine Befehle.
Zwei liefen auf Malfurion zu, der dritte suchte nach dem unbekannten Schützen. Der Druide nahm ein kleines rundes Samenkorn aus seiner Gürteltasche und warf es auf die heranstürmenden Dämonen.
Der erste Satyr wich zurück, und das Samenkorn landete vor ihm im Dreck. Das triumphierende Grinsen gefror jedoch auf seinem Gesicht, als sich das Korn öffnete und ihn mit weißem Staub besprühte. Der Satyr begann heftig zu niesen und zu husten. Schließlich fiel er atemlos auf die Knie, aber auch jetzt ließ der quälende Reiz nicht nach.
Malfurion warf ein zweites Samenkorn, doch es verfehlte den anderen Satyr. Der Dämon sprang ihm entgegen. Klauen griffen nach der Kehle des Druiden. Malfurion sah, wie Xavius weiter hinten Tyrande hochheben wollte, doch die Wunde machte sich langsam bemerkbar. Einhändig zog er sie auf das Portal zu.
Der Nachtelf befürchtete, dass Xavius mit seiner Gefangenen entkommen würde und suchte rasch nach einem Zauber, um mit seinem Gegner fertig zu werden. Der Satyr lachte schadenfroh. Seine Nägel rissen die Haut unter Malfurions Kinn auf. Er stieß einige Worte hervor, und der Druide spürte, wie eine schreckliche Hitze um seine Kehle herum aufstieg. Er drohte zu ersticken.
Im gleichen Moment erreichte die Schlacht den Hügel.
Nachtelfen und Dämonen stolperten kämpfend heran. Soldaten, die vor ihren Gegnern zurückwichen, prallten mit Xavius und seiner Gefangenen zusammen. Der Satyr knurrte und enthauptete einen Krieger mit seinen Klauen.
Doch selbst Xavius konnte sich gegen die Massen nicht durchsetzen. Es herrschte Chaos. Die Satyrn, die das Portal geöffnet hatten, kämpften um ihre Konzentration.
Malfurion rang um Atem. Der grinsende Satyr, der auf ihm hockte, hob eine Klauenhand, um ihm die Brust zu zerfetzen. Malfurion griff nach dem erstbesten Korn, das er in seiner Gürteltasche fand und warf es seinem Gegner in das aufgerissene Maul.
Die Augen des Gehörnten weiteten sich. Er wich zurück. Der Druide bekam endlich wieder ausreichend Luft. Die Augen des Satyrs schwollen immer weiter an. Eine große Hitze ging plötzlich von ihm aus, dann schlugen Flammen aus seinem Körper. Er kreischte, während sich sein Körper schwarz zu färben begann und das Feuer ihn verzehrte.
Der Druide musste würgen und bedeckte Mund und Nase. Cenarius hatte ihm bei ihrer letzten Begegnung gezeigt, wie man die Hitze, die in manchen Samen und Pflanzen steckte, um ein Tausendfaches verstärkte. Malfurion hatte zufällig eines dieser Samenkörner in das Maul des Dämons geworfen.
Nur wenige Sekunden später brach der Satyr zusammen. Nur einige verkohlte Knochen blieben von ihm übrig. Malfurion hatte einige Lehren seines shan’do nicht ernst genommen, aber jetzt begriff er, welche Macht ihnen innewohnte. Es gab wirklich keine größere Kraft als die Natur.
Sein Blick fiel wieder auf Xavius. Einer der anderen Satyrn half ihm jetzt. Gemeinsam schleppten sie Tyrande zu dem Portal. Doch dann sah Xavius, dass der Druide ihm entgegen lief und ließ seine Gefangene los.
Der Satyr stampfte mit einem Fuß auf. Die Erde erzitterte und brachte Malfurion und einige Krieger zu Fall. Ein Spalt entstand und raste auf Malfurion zu, der sich mit einem Sprung in Sicherheit brachte.
Xavius ging auf ihn zu. Sein lautes monströses Gelächter erschütterte den Druiden bis ins Mark.
„Als Held solltest du ab und zu Gutes tun“, sagte der Satyr ironisch, „nicht nur im Dreck herumkriechen und auf den Tod warten.“
Malfurion griff nach seiner Gürteltasche, aber Xavius kam ihm zuvor. Er holte mit seinen Klauen aus, und der Gürtel des Druiden flog davon.
„Lass das bitte.“ Xavius schien mit jedem Schritt größer und animalischer zu werden. „Der große Sargeras will dich zwar lebend haben, aber dieses eine Mal werde ich seinen Befehl wohl missachten. Dein Bruder und das Mädchen müssen reichen…“
Cenarius hatte Malfurion gelehrt, allen Lebensformen mit Respekt zu begegnen, doch in diesem Moment empfand der Druide nur Hass und Ekel. Er warf sich auf Xavius und versuchte, ihn zu Boden zu werfen.
Xavius packte ihn mit seiner unverletzten Hand an der Kehle. Malfurion hing nach Luft schnappend in seinem Griff. Der Satyr genoss die Situation sichtlich. „Vielleicht lasse ich doch ein wenig Leben in dir, Malfurion Stormrage“, sagte er grinsend. „Wenn ich mich bei meiner Rache zurückhalten kann…“
Vor seinem geistigen Auge sah Malfurion Tyrande und Illidan in den Fängen der Brennenden Legion. Der Anblick verlieh ihm neue Kraft. Er holte aus und trat so kräftig er konnte zu.
Mit der Ferse erwischte er Xavius’ verletzte Schulter und trieb den abgebrochenen Pfeil tiefer ins Fleisch.
Der Satyr heulte auf. Seine Hand öffnete sich, und der Druide fiel zu Boden. Malfurion rollte sich ab und kam auf die Beine.
„Du hast zu viele verraten“, sagte er zu Xavius. „Du hast zu viele verletzt, Lordberater. Ich werde nicht zulassen, dass du noch einmal jemandem Leid zufügst.“
Er wusste, was er zu tun hatte. „Du wirst ab jetzt nur noch Leben hervorbringen, nicht mehr den Tod.“
Xavius’ rote Augen glitzerten. In seinem Lächeln lag absolute Bösartigkeit. Dunkle Kräfte bildeten sich um ihn herum.
Aber der Druide schlug zuerst zu. Der hölzerne Pfeil hatte ihn auf eine Idee gebracht.
An dem Pfeil bildeten sich auf einmal Wurzeln. Der Satyr bemerkte die Gefahr, brach seinen eigenen Zauber ab und versuchte, den Pfeil aus seiner Schulter zu ziehen. Doch das war unmöglich, denn die Wurzeln bildeten sich auch im Inneren der Wunde. Das Holz ernährte sich von der Lebenskraft des Satyrs.
Xavius’ Körper blähte sich auf wie der eines toten Fischs. Er schrie wutentbrannt auf. Flammen bildeten sich an seiner Hand. Er berührte den Pfeil damit und wollte ihn so in Brand setzen. Erneut schrie er auf, dieses Mal schmerzerfüllt, denn die Wurzeln waren bereits so sehr mit seinem Körper verschmolzen, dass er auch ihren Schmerz spürte.
Seine Klauen verkrampften sich und wurden zu kleinen Zweigen, aus denen grüne Blätter sprossen. Die Hörner des Satyrs begannen zu wachsen und verwandelten sich in große Laub besetzte Äste. Xavius wurde nicht zu einem Baum. Sein Körper versorgte das Holz nur mit Lebenskraft und den notwendigen Vitalstoffen.
„Das ist nicht das Ende, Malfurion Stormrage!“, schrie Xavius. „Das ist nicht das Ende!“
Der Druide ließ sich nicht davon beeindrucken. Er musste sich konzentrieren, um den Zauber trotz der starken Gegenwehr des Satyrs und dem ablenkenden Schlachtenlärm zu vollenden.
„Doch, das ist das Ende“, flüsterte er mehr zu sich selbst als zu Xavius. „Es muss das Ende sein.“
Der Satyr brüllte ihm ein letztes Mal seinen Hass entgegen, dann verschwand sein Körper in dem aufblühenden Baum. Aus Xavius’ Haut wurde Rinde. Sein schreiender Mund verwandelte sich in ein Astloch. Krieger sprangen zur Seite, um den Wurzeln auszuweichen, die sich tief ins Erdreich gruben.
Zwischen all dem Tod und der Zerstörung erblühte jetzt ein Baum, ein Symbol für den Sieg des Lebens über die Verdammnis.
Malfurion brach erschöpft in die Knie. Er wollte sich aufrichten, aber seine Beine gaben unter ihm nach. Er hatte seine ganze Kraft für den Zauber gegen Xavius geopfert. Zwar tobte die Schlacht noch immer um ihn herum, aber er wollte sich nur noch unter den Baum legen und schlafen.
Dann dachte er an Tyrande.
„Tyrande!“ Es erschien dem Nachtelf, als müsse er sich gegen Eisenketten stemmen, um auf die Beine zu kommen. Im ersten Moment sah er nur Soldaten und Dämonen, doch dann entdeckte er die drei Satyrn, die immer noch das Portal geöffnet hielten. Und nur wenige Meter entfernt trug ein vierter Satyr Tyrande darauf zu.
„Nein!“ Er bat den Wind um Hilfe, der aufheulte und sich gegen den Dämon warf. Malfurion stolperte ihm erschöpft entgegen.
Ein Pfeil traf den Satyr in die Brust. Er blieb einen Moment reglos stehen, dann brach er zusammen. Tyrande rutschte aus seinen Armen. Aber der Wind, der wusste, was der Druide wünschte, sorgte dafür, dass sie auf einer Brise sanft zu Boden glitt.
Malfurion bedankte sich bei dem Wind und seinem unbekannten Retter. Dann ging er schwerfällig auf Tyrande zu. Er musste um jeden Schritt ringen, aber die Belohnung, die am Ende des Weges auf ihn wartete, hielt ihn aufrecht.
Im gleichen Moment löste sich ein Satyr aus der Dreiergruppe. Das Portal schimmerte und wurde instabil.
Die gehörnte Gestalt hob Tyrande auf.
Der Nachtelf schrie und warf sich dem Satyr entgegen. Doch sein Sprung war zu kurz, er schlug auf den Boden. Ein Pfeil schoss an ihm vorbei und riss das Ohr des Dämons auf. Blut tropfte auf seine Schulter, aber der Satyr ließ seine Beute nicht los, sondern sprang durch das Portal.
Er und Tyrande verschwanden.
Die beiden letzten Satyrn folgten ihm durch das Tor, das sich bereits aufzulösen begann. Als der letzte Dämon es passiert hatte, löste es sich auf. Nur die karge Landschaft blieb zurück.
Mit dem Portal endete auch Malfurions Hoffnung.
Das war zu viel für ihn. Der Nachtelf brach zusammen. Er ignorierte die Kämpfe, die um ihn herum tobten. Er hatte Xavius ein zweites Mal besiegt und dafür gesorgt, dass der Hochwohlgeborene, der die Brennende Legion nach Kalimdor geholt hatte, nie wieder Böses tun würde… doch all das hatte keine Bedeutung mehr. Tyrande war eine Gefangene der Dämonen.
Tränen liefen über sein Gesicht. Der Himmel verfinsterte sich, aber der Druide bemerkte es nicht. Er hatte versagt. Etwas anderes interessierte ihn nicht mehr.
Versagt.
Die Tropfen, die auf ihn herabfielen, vermischten sich mit seinen Tränen. Ein Sturm brach los, wütete um den Druiden herum und verschonte nur ihn. Die zuckenden Blitze und der laute Donner spiegelten Malfurions düstere Gedanken wider. Ohne Tyrande war nichts mehr von Bedeutung. Das wusste er jetzt.
Der Wind trauerte heulend um die Priesterin. Der neue Baum, der auf dem Hügel entstanden war, bog sich unter den Sturmböen, die über das Land fegten.
Schließlich drang trotz seiner Verzweiflung eine Stimme bis zu ihm durch. Zuerst nahm er sie als störendes Flüstern wahr, dann als Laute, das in seinen Ohren widerhallten. Malfurion presste die Hände auf die Ohren, um das Geräusch auszublenden und in die Schwärze seiner Gedanken zurückzukehren. Aber die Stimme begann seinen Namen zu sagen und wurde mit jedem Mal lauter.
„Malfurion! Malfurion! Du musst dich aus diesem Zustand befreien, bevor du alles und jeden ertränkst!“
Er erkannte die Stimme. Ein Teil von ihm wollte sie ignorieren, aber ein anderer wehrte sich dagegen. Er tauchte aus der Dunkelheit empor, richtete den Blick nach außen, nicht mehr nach innen – und sah die Naturkatastrophe, die sich um ihn herum abspielte.
Der Regen fiel mit solcher Macht, dass ihm nichts widerstehen konnte. Außer dem Druiden blieb nur der neue Baum davon verschont.
„Was – “, stieß Malfurion hervor. Er hatte das Wort noch nicht vollendet, da brach der Sturm auch über ihn herein. Er fiel zu Boden. Regentropfen prasselten gegen seinen Körper.
Eine gewaltige Gestalt schälte sich plötzlich aus dem Regen und dem heulenden Wind hervor. Der Nachtelf sah auf und erblickte einen geflügelten Riesen, der auf ihn zu flog. Er dachte an die Halbgöttin Aviana und fragte sich, ob das die Gestalt war, die sie als Todesbotin annahm. Doch er gehörte nicht zu den Wesen der Lüfte, und der Druide bezweifelte, dass sie ihn holen würde.
Mit donnernder Stimme gab sich der Gigant zu erkennen. „Nachtelf! Bleib wo du bist. Ich kann mich in diesem Chaos nur schwer orientieren und will dich nicht versehentlich zerquetschen.“
Korialstrasz griff mit einer Klaue nach Malfurion und hob ihn empor. Der Drache hatte gewaltig mit dem Sturm zu ringen. Der Nachtelf spürte, dass er nicht völlig bei Kräften wahr. Es war fast schon ein Wunder, dass er den Kampf gegen Neltharion überlebt hatte.
Sie stiegen höher. Malfurion warf einen Blick auf die unter ihm befindliche Landschaft. Beide Armeen flohen. Die Dämonen liefen durch das Gebiet, das Neltharion verwüstet hatte, die Nachtelfen in die entgegen gesetzte Richtung. Beide Seiten kämpften jetzt gegen einen neuen Feind, gegen den Regen, der Erdrutsche auslöste und Wege unterspülte. Ein Teil eines Hügels löste sich vom Rest und begrub einige Teufelswachen. An anderer Stelle rutschte ein Nachtsäbler auf einer Hügelkuppe aus und stürzte mitsamt seinem Reiter in die Tiefe.
Inmitten des tosenden Sturms entdeckte Malfurion eine kleine Gestalt, die sich auf dem Hügel, von dem Korialstrasz ihn emporgetragen hatte, durch den Regen kämpfte. Sie war fast bis zur Hüfte im Schlamm eingesunken. Der Hügel über ihr sah aus, als würde er jeden Moment in Bewegung geraten und sie unter sich begraben.
Die Gestalt hielt einen Bogen in einer Hand.
„Warte!“, rief Malfurion an Korialstrasz gerichtet. „Hilf ihr!“
Der rote Drache ging sofort in den Sinkflug. Das junge Mädchen war so mit dem Kampf gegen die Elemente beschäftigt, dass sie den Drachen erst bemerkte, als dessen Klauen sich um ihren Körper legten. Sie schrie verängstigt auf. Korialstrasz zog sie aus dem Schlick und trug sie empor.
„Ich werde dir nichts tun!“, brüllte er. Das junge Mädchen glaubte ihm nicht, beruhigte sich jedoch etwas. Dann entdeckte sie Malfurion und fragte: „Wo ist die Herrin Tyrande?“
Der Druide schüttelte den Kopf. Sie sah ihn voller Verzweiflung an und begann zu schluchzen. Ihre Hände krampften sich um den Bogen.
Malfurion wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Sturm zu. Er war nicht natürlich entstanden, denn so abrupt manifestierte sich kein Unwetter. Doch er schien weder das Werk der Brennenden Legion noch seiner eigenen Leute zu sein. Selbst Illidan hätte nichts erschaffen, das sich seiner Kontrolle so umfassend entzog.
Er sah auf, befürchtete bereits, der schwarze Drache sei zurückgekehrt. Doch weder Neltharion noch seine verfluchte Scheibe war irgendwo auszumachen. Wer hatte aber dann diesen katastrophalen Sturm erschaffen?
Er stellte dem Drachen diese Frage, doch Korialstrasz antwortete nicht. Stattdessen sprach eine kleine Gestalt, die im Nacken des Drachen saß und von einer goldenen Aura vor den Elementen geschützt wurde. „Du bist es, Malfurion. Du bringst all das über uns!“
Er starrte Krasus an, den er zuletzt auf einem durchgehenden Nachtsäbler gesehen hatte. Der Magier wirkte mehr als mitgenommen. Seine Schläfe war rot und geschwollen. Trotzdem machte er den gewohnt entschlossenen Eindruck.
Nur seine Worte ergaben für den Druiden keinen Sinn. „Was soll das heißen?“
„Der Sturm entstand aus deinem Leiden, Druide. Er ist Ausdruck deiner Verzweiflung. Du musst deine Hoffnungslosigkeit bezwingen und den Sturm beenden, sonst werden wir alle sterben!“
„Du bist wahnsinnig!“
Der Druide wehrte sich gegen Krasus’ Worte, aber in seinem tiefsten Kern spürte er, wie vertraut der Sturm ihm war. Er tastete mit seinem Geist danach, so wie Cenarius es ihn gelehrt hatte, doch was er entdeckte, erschreckte ihn. Es war nicht der Sturm, der dieses Gefühl auslöste, sondern der Teil von ihm, den er darin spürte. Er hatte diese Monstrosität mit seiner Verzweiflung und Trauer erschaffen. Und jetzt suchte sie nicht nur seine Feinde, sondern auch seine Freunde und Kameraden heim.
Ich bin nicht besser als die Dämonen und der schwarze Drache!, dachte er.
Krasus schien seine Gedanken zu erahnen, denn er sagte: „Malfurion, lasse dich nicht von deinen Gefühlen überwältigen. Dieser Sturm war ein Unfall. Du musst deine Gefühle einsetzen, um zu helfen, nicht um zu zerstören.“
Und warum?, fragte sich der Druide. Er dachte wieder an Tyrande, die ein Opfer der Brennenden Legion werden würde. Ohne sie hatte sein Leben keinen Sinn mehr.
Trotzdem war es Tyrande, die schließlich die Düsternis aus seinen Gedanken vertrieb. Sie hätte diese Zerstörung nicht gewollt. Schließlich hatte sie ihr Leben in den Dienst ihres Volkes gestellt. Malfurion beleidigte ihr Erbe, wenn er diesen Sturm gewähren ließ.
Er blickte zu dem jungen Mädchen, das sein Leben riskiert hatte, um der Priesterin zu helfen. Sie war zu jung, um eine Novizin zu sein. Dennoch hatte sie sich, nur mit einem Bogen bewaffnet, den Satyrn und Dämonen gestellt.
Als Malfurion daran dachte und ihre Tränen bemerkte, spürte er, wie seine Liebe zu Tyrande neu aufflammte. Ohne weiteres Zögern schaute er in den Sturm, zwang seinen Willen den Winden, den Wolken und allen Teilen der Natur auf, die an der Katastrophe beteiligt waren.
Der Wind drehte sich. Der Regen fiel zwar immer noch herab, schien jedoch an Heftigkeit auf der Seite der Nachtelfen nachzulassen und auf der Seite der Dämonen zuzunehmen. Malfurion unterwarf die Wildheit des Windes und zwang ihn mit aller Macht, die Brennende Legion anzugreifen.
Der Regen hörte auf. Der Sturm bewegte sich auf Zin-Azshari zu.
Malfurion atmete erleichtert aus. Er hatte es geschafft.
Der Nachtelf sackte erschöpft im Griff des Drachen zusammen. Über ihm rief Krasus: „Gut gemacht, sehr gut!“
Der Druide hätte über seine eigene Leistung erstaunt sein sollen. Selbst Cenarius wäre das gewesen. Doch Malfurion konnte nur an Tyrande und an sein Versagen denken.
Nichts anderes zählte.
Der Sturm dauerte drei Tage und drei Nächte. Er jagte die Dämonen über das Land und Zin-Azshari entgegen. Als er sich auflöste, befand sich die Brennende Legion noch zwei Tage von der Hauptstadt entfernt.
Die Nachtelfen waren zu erschöpft, um ihrem Feind zu folgen. Jenseits der Vulkanlandschaft, die Neltharion erschaffen hatte, ruhten sie sich aus und leckten ihre Wunden. Vielen erschienen die Zerstörungen des Sturms, die Dämonenseele und die Brennende Legion weniger katastrophal als Lord Ravencrests Tod.
Die Nachtelfen konnten ihm kein angemessenes Begräbnis geben, aber sie taten, was sie konnten. Lord Stareye besorgte einen Wagen, der von sechs Nachtsäblern gezogen wurde. Den toten Adligen ließ er dort aufbahren. Ravencrests Arme lagen gekreuzt auf seiner Brust, in den Händen hielt er das Banner von Black Rook. Nachtlilien bildeten einen Kreis um seinen Körper. Eine Einheit seiner Soldaten räumte den Weg vor dem Wagen frei, eine zweite sorgte dafür, dass niemand aus der weinenden und schluchzenden Menge versuchte, den Leichnam zu berühren. Der Wagen fuhr an der gesamten Streitmacht vorbei, begleitet von Hörnern, die einen Trauermarsch bliesen.
Am Ende des Weges legte man Ravencrests Leiche zu all den anderen, die im Kampf gefallen waren. Malfurion bat dann Korialstrasz, ihm und den Nachtelfen einen traurigen Gefallen zu erweisen. Der Drache stimmte zu.
Hunderte sahen zu, als Korialstrasz einen gewaltigen Feuerstoß ausspie. Die Leichen von Lord Ravencrest und den Soldaten fingen sofort Feuer. Malfurion wandte sich ab, um allein um all die Gefallenen zu trauern. Aber das junge Mädchen, das so hart für Tyrandes Rettung gekämpft hatte, blieb bei ihm. Shandris fragte ihn immer wieder, wann er losziehen würde, um die Priesterin zu retten. Malfurion konnte ihr keine Antwort darauf geben. Schließlich brachte er sie zu den Schwestern, die sich besser um sie kümmern würden.
Lord Stareye war von den anderen Adligen zum Kommandanten ernannt worden. Seine erste Aufgabe bestand darin, die Armee nach weiteren Verrätern zu durchleuchten. Die Suche verlief ergebnislos. Trotzdem wurden zwei Soldaten hingerichtet, die man mit dem Verräter in Verbindung gebracht hatte. Stareye schloss die Untersuchung damit ab und widmete sich der nächsten Herausforderung.
Krasus und Rhonin, die von Brox und Jarod begleitet wurden, versuchten den neuen Kommandanten davon zu überzeugen, endlich die anderen Völkern um Hilfe zu bitten. Doch ihre Vorschläge stießen nach wie vor auf taube Ohren.
„Kur’talos hat in dieser Angelegenheit entschieden, und ich werde seine Ansichten ehren“, sagte der schlanke Adlige und schnupfte etwas weißes Pulver.
Damit endete zwar die Diskussion, nicht aber die Sorge. Die Brennende Legion würde sich rasch erholen, und Archimonde würde sie dann wieder auf die Nachtelfen hetzen. Niemand zweifelte daran, dass die Armee vor einer härteren Schlacht stand als je zuvor.
Selbst wenn es den Nachtelfen gelingen sollte, die Invasoren bis zu den Toren Zin-Azsharis zurückzutreiben, war ihnen damit nicht geholfen. Solange das Portal geöffnet war, strömten immer neue Dämonen nach Kalimdor, und die Bedrohung durch Sargeras wuchs. Hunderttausende Dämonen konnten sterben, der Palast konnte fallen, doch all das würde bedeutungslos werden, sollte es Sargeras gelingen, die Welt zu betreten. Er würde die Streitmacht mit einem einzigen Blick hinwegfegen.
Diese Befürchtung festigte Krasus’ Entscheidung. Er rief die anderen zusammen und erklärte ihnen, was sie zu tun hatten, um das scheinbar Unvermeidliche doch noch abzuwenden.
„Ravencrest hatte Unrecht“, begann er, „und Stareye ist blind. Ohne eine Allianz aller Völker wird Kalimdor – und damit die ganze Welt – verloren sein.“
„Aber Lord Stareye wird sich nicht an sie wenden“, warf Jarod ein.
„Dann müssen wir das an seiner Stelle tun…“ Der Magier sah sie der Reihe nach an. „Auf die Drachen können wir uns nicht verlassen…vielleicht nie wieder. Korialstrasz versucht herauszufinden, was mit ihnen geschehen ist. Ich befürchte allerdings, dass wir nichts unternehmen können, solange Neltharion die Scheibe besitzt. Deshalb müssen wir uns an die Zwerge, die Tauren und die Furbolgs wenden… und sie davon überzeugen, denen zu helfen, die sie eigentlich verachten.“
Rhonin schüttelte den Kopf. „Die anderen Völker werden nicht verstehen, weshalb sie jene unterstützen sollten, die sie fast ebenso gerne vernichten würden wie die Brennende Legion. Wir reden hier über Konflikte, die seit Jahrhunderten schwelen.“
Der Drachenmagier nickte grimmig. Sein Blick richtete sich auf die weit entfernte Hauptstadt. „Dann werden wir alle sterben, entweder durch die Klingen der Brennenden Legion oder durch die bösartige Macht der Dämonenseele. Wir werden sterben.“
Niemand widersprach ihm.
Malfurion war der einzige, der nicht an dem Treffen teilnahm. In den letzten Tagen hatte er sich auf eine Jagd begeben, die mit einem Plan begonnen hatte – einem verzweifelten Plan, dem nur jemand zustimmen konnte, der ebenso wahnsinnig wie er selbst war.
Der Druide wollte versuchen, Tyrande aus der Hand der Dämonen zu befreien.
Nur ein Nachtelf in der gesamten Streitmacht würde über diese Idee nicht lachen, und nach ihm suchte Malfurion, denn er konnte sein selbstmörderisches Vorhaben nicht allein durchführen.
Doch Illidan war verschwunden.
Schließlich wandte er sich an die Mondgarde. Er behauptete, er wolle seinen Bruder um Rat wegen des bevorstehenden Marsches fragen und bat um eine Audienz bei dem höchsten Zauberer der Garde.
Der glatzköpfige Nachtelf blickte auf, als Malfurion zu ihm trat. Die Mondgarde traute dem Weg zwar nicht, den er eingeschlagen hatte, respektierte aber die beeindruckenden Zauber, die er zu weben verstand.
„Ich grüße dich, Malfurion Stormrage“, sagte der Gardist und erhob sich von dem Felsen, auf dem er gesessen und eine Schriftrolle gelesen hatte.
„Vergebt mir, Galar’thus Rivertree. Ich suche nach meinem Bruder, doch ich kann ihn nirgends finden.“
Galar’thun sah ihn nervös an. „Hat man dir nichts gesagt?“
Malfurion spannte sich an. „Was gesagt?“
„Dein Bruder ist… verschwunden. Er wollte die Vulkanlandschaft, die der Drache geschaffen hat, näher untersuchen, ist jedoch nicht zurückgekehrt.“
Der Druide traute seinen Ohren nicht. „Illidan ist allein dorthin geritten? Ohne Begleitung?“
Der Zauberer senkte den Kopf. „Wer hätte ihn denn aufhalten sollen, Druide?“
Das wusste Malfurion auch nicht. „Wisst Ihr sonst noch etwas?“
„Wenig. Er ist in der Nacht nach dem Ende des Sturms losgeritten und wollte beim ersten Tageslicht zurück sein. Doch zwei Stunden nach Tagesbeginn kehrte sein Reittier ohne ihn zurück.“
„War das Tier verletzt?“
Galar’thus schaute ihm nicht in die Augen. „Der Nachtsäbler sah mitgenommen aus. An seinem Fell klebte Blut. Wir wissen nicht, ob es von deinem Bruder stammte. Die Gegend ist so von Magie durchtränkt, dass solche Unterscheidungen unmöglich sind. Lord Stareye sagte – “
„Lord Stareye?“ Malfurion wurde wütend. „Er weiß davon und ich nicht?“
„Lord Stareye sagte, wir sollten unsere Zeit nicht mit jemandem verschwenden, der höchstwahrscheinlich tot sei. Unsere Anstrengungen sollten sich auf die Lebenden konzentrieren. Es tut mir Leid, Malfurion, aber so lautet der Befehl des Kommandanten.“
Der Druide hörte ihm nicht länger zu, sondern wandte sich ab und ging davon. Der Verlust traf ihn hart. War Illidan wirklich tot? Trotz all der Probleme, die sie in der letzten Zeit gehabt hatten, liebte er seinen Bruder. Und wenn er tot war…
Der Gedanke schwebte noch unvollendet in seinem Verstand, als ein Schauer über seinen Rücken rann. Malfurion hielt an und richtete seinen Blick nach innen.
Er hätte den Tod seines Zwillingsbruders fühlen müssen. So sicher, wie er seinen eigenen Herzschlag spürte, hätte er auch Illidans Ende gespürt. Die Fakten sprachen vielleicht dagegen, aber Malfurion wusste, dass Illidan noch lebte.
Lebte… Der Druide betrachtete das aufgerissene und verbrannte Land, versuchte seine Gedanken über es hinaus auszudehnen. Illidan war irgendwo da draußen, aber wo?
Tief in seinem Inneren fürchtete Malfurion, dass er die Antwort bereits kannte…