An diesem Herbstmorgen verweilte die über dem Kreml aufgehende Sonne kurz über dem Erlösertor, wo der Leiter der staatlichen Motorradeskorte, NKWD-Hauptmann Blinow, dem leitenden Funktionär meldete, dass sie bereit wären. Die Sonne hielt ein wenig inne und kletterte dann gemächlich weiter über den weiten, und seinem Wesen nach bodenlosen Himmel. Und bei eben dieser Bewegung geriet einer ihrer Strahlen, der im rubinroten Stern des Erlöserturms gebrochen wurde, in die Augen des Hauptmanns Blinow und ließ ihn die Augen zusammenkneifen, was die Feierlichkeit seiner Meldung beeinträchtigte. Der leitende Funktionär, das war Viktor Stepanowitsch, schenkte dem Himmelskörper ein Lächeln und sagte:
„Verdammt hell scheint sie heute!“
Da hielt ein schwarzes Auto neben ihm, aus dem der immer noch schläfrige Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin stieg und dabei seinen Reisesack mit der rechten Hand fest an sich gedrückt hielt. Er stieg aus, sah ebenfalls zur Sonne und danach auf die in einer Reihe stehenden Prachtstücke von Motorrädern. Er dachte an seine dienstliche Frau, die in der Dienstwohnung geblieben war, und erinnerte sich daran, wie herzlich sie ihn an diesem Morgen verabschiedet hatte, wie sie ihn auf die Wange geküsst und ihm einen Rasierapparat für die Reise geschenkt hatte, auf dessen Griff in sorgfältiger Schreibschrift „Meinem Gatten von seiner Gattin“ eingraviert war.
Da wurde auch schon das weiße Pferd von einem hübschen, schlanken Burschen am Zügel herbeigeführt, welcher eine saubere, blaue Schürze über einen gräulichen Arbeitsanzug gebunden hatte.
„Genosse Dobrynin!“, wandte er sich an den Volkskontrolleur. „Nehmen Sie Pferd und Pass in Empfang.“
„Ein Pass? Für mich?“, freute sich Pawel, der das in keiner Weise erwartet hatte.
„Nein…“, sagte der Kreml-Stallbursche verlegen. „Der Pass ist für das Pferd.“
Und er überreichte dem Volkskontrolleur ein rotes Büchlein, das halb so groß war wie eine Hand.
Pawel schlug den Pass auf. Aus diesem Dokument erfuhr er, dass sein Pferd zur Orlow-Rasse gehörte, dass es Grigorij hieß und zweieinhalb Jahre alt war. Zur Bestätigung des rechts unten unterschriebenen Dokuments prangte dick und fett ein violetter Stempel.
Pawel steckte den Pferdepass in die Hosentasche und betrachtete sein Ross mit Kennerblick. Er fand nicht den geringsten Mangel an ihm – es schien ganz so, als ob dieses Pferd speziell für eine Ausstellung gezüchtet worden wäre – so schön und stark war es.
Inzwischen ging es auf Mittag zu und die bis dahin tatenlos herumstehenden Milizionäre der Eskorte sahen immer wieder auf die Kremluhr, so als könnten sie durch die Macht ihrer Blicke die bedächtige Bewegung des Minutenzeigers beschleunigen.
Viktor Stepanowitsch trat heran, bat nachdrücklich darum, dass ihm für die Zeit der Fahrt der Reisesack anvertraut würde, und versprach, ihn auf dem Flughafen heil und ganz wieder zurückzugeben. Er brachte ihn zum Wagen und gab hierauf Hauptmann Blinow das Kommando, woraufhin Hauptmann Blinow seinerseits seine Untergebenen anbrüllte, welche zu den glänzend polierten zweirädrigen Gefährten stürzten, diese auf die Straße lenkten und sich dort zu Paaren ordneten.
„Also, Genosse Dobrynin, ich fahre im Wagen voraus“, begann Viktor Stepanowitsch. „Ich zeige Ihnen den Weg. Ich werde langsam fahren. Und die Eskorte fährt der Ordnung halber hinterher. Ihr Pferd ist folgsam und der Verkehr ist von hier bis zum Flughafen von der Straße ferngehalten. Setzen Sie sich also auf das Pferd, und sobald es zwölf schlägt, setzen wir uns in Bewegung.“
Als der zwölfte Glockenschlag der zentralen Uhr des Landes verklungen war, verließ die Prozession das Kremlgelände und bewegte sich langsam über Straßen und Prospekte der Hauptstadt.
Es kam Pawel vor, als wüsste das Pferd von selbst, wohin sie unterwegs waren. Es folgte dem Automobil, in dem Viktor Stepanowitsch fuhr, und schenkte Pawels Versuchen, es zu lenken, keine besondere Aufmerksamkeit. Die Prozession tuckernder Motoren bewegte sich gemächlich und zog an diesem Arbeitstag die Aufmerksamkeit von nur wenigen Fußgängern auf sich. Pawel blickte links und rechts zur Seite und ließ seinen Blick über die Granitfassaden der Gebäude gleiten. Er betrachtete alles in Ruhe, bis er ein Geschäft mit spiegelnden Vitrinen sah, das oben mit der augenfälligen Aufschrift „Zentraler Feinkostladen“ geschmückt war. Die riesigen, breiten und durchsichtigen Türen dieses Feinkostladens waren sperrangelweit offen. Menschen gingen durch diese Türen aus und ein. Der Volkskontrolleur verspürte mit einem Mal den Wunsch, mit dem rechten Fuß in die Flanke des Pferdes zu stoßen, um es doch dazu zu bringen, seinem Herrn zu gehorchen und dahin zu reiten, wo sein Herr hinwollte. Und Dobrynin, der sich an die Holzbude im Dorf Kroschkino erinnerte, wo die einzigen mehr oder weniger immer verfügbaren Waren Zündhölzer waren, wäre auf seinem weißen Pferd am liebsten durch die offenen Türen hindurchgeritten und hätte dann von seiner neuen Höhe aus auf die Regale des Geschäfts geblickt, auf die sichtbaren und die unsichtbaren Waren, um vielleicht sogar etwas zu kaufen oder als Geschenk zu besorgen und dabei Viktor Stepanowitsch gleich zu bitten, einen Teil des Geschenks seiner Frau Manjascha und seinen Kindern in das Dorf Kroschkino zu senden, und den zweiten Teil des Geschenks – natürlich den kleineren – Marija Ignatjewna zukommen zu lassen, in Dankbarkeit und mit einem warmen Gefühl für sie. Aber da fiel ihm auch schon ein, dass in seinen Taschen gar kein Geld war, außer etwas Kleingeld, das schon vor der Kolchosversammlung da drin gewesen war, und dieses Kleingeld reichte wohl für Zündhölzer, aber für mehr nicht. Und er dachte daran, Viktor Stepanowitsch nach der Ankunft am Flughafen nach Geld zu fragen, schließlich konnte man ohne Geld nicht leben und auch nicht arbeiten.
Mittlerweile war der begehrte Feinkostladen hinter ihnen zurückgeblieben und Pawel tröstete sich mit dem Gedanken, dass er bei seinem nächsten Besuch unbedingt dort vorbeikommen und etwas kaufen würde.
Weil er keine Uhr hatte, wusste der Volkskontrolleur nicht, wie viel Zeit dieser berittene und motorisierte Transfer in Anspruch nahm, aber sein Bauchgefühl, das ihn an die Notwendigkeit einer Mahlzeit erinnerte, sagte ihm, dass die Mittagszeit bereits vorüber war.
Als die Prozession den Flughafen erreicht hatte, der im unbewohnten Teil der Hauptstadt lag, kehrte die Motorradeskorte um und fuhr zurück. Zum Abschied ließ sie die Motoren laut aufheulen.
Der Volkskontrolleur sprang vom Pferd und trat zum Wagen, der vor ihm gehalten hatte. Etwa fünfzig Meter davon entfernt stand eine rot-weiß gestreifte Holzbude, auf deren Dach sich ein Windsack befand. Der Sack blähte sich einmal auf, dann fiel er wieder in sich zusammen, was bedeutete, dass die Bewegung der Luftmassen unbeständig war.
Hinter der Bude war ein Flugzeug von mittlerer Größe zu sehen, und hinter dem Flugzeug gab es gar nichts mehr zu sehen. Ein breites Feld dehnte sich aus, grün und eben, ohne die geringste Erhebung.
Sie gingen in die Bude und machten sich mit dem Piloten bekannt.
Hierauf tranken sie Tee und aßen die extra für sie vorbereiteten Brote mit weicher Leber. Nach dem Tee fragte Pawel Viktor Stepanowitsch endlich nach Geld.
„Mach dir keine Sorgen!“, antwortete ihm Viktor Stepanowitsch. „Hast du einen Volkskontrolleursausweis?“
„Ja“, bestätigte Pawel.
„Wenn du den hast, dann brauchst du kein Geld. Wenn du diesen Ausweis vorzeigst, dann ist man verpflichtet, dich zu verpflegen, dich mit Textilien und Konfektionskleidung zu versorgen sowie mit anderen Dingen, die du benötigst. Klar?“
Der Volkskontrolleur nickte, nahm noch einen Schluck Tee und aß ein zweites Brötchen.
„Wir haben angeordnet“, ergänzte Viktor Stepanowitsch, „dass man dich dort abholt und über alles in Kenntnis setzt.“
Pawel nickte noch einmal.
„Ich habe Radio gehört“, sagte der Pilot, während er kaute. „In Kiew wurde heute der erste O-Bus freigegeben…“
„Er kommt nicht aus Kiew!“, sagte Viktor Stepanowitsch in schneidendem Ton.
„Ach so…“, brummte der Pilot. „Also… können wir fliegen?“
„Ihr könnt gleich losfliegen…“, sagte Viktor Stepanowitsch ganz in Gedanken versunken.
Fünf Minuten später verließen sie die Bude. Das Pferd stand folgsam neben dem Automobil, aus dem ein gedämpftes Schnarchen des Chauffeurs drang. Man weckte den Chauffeur, und mit vereinten Kräften wurde das Pferd über eine dreistufige Leiter in den Frachtraum des Flugzeugs gehievt. Hierauf half der Pilot Pawel, sich eine enge Mütze über den Kopf zu ziehen, ließ ihn in der Kabine Platz nehmen und stieg nochmals aus, um die Propeller anzuwerfen. Er startete erst den linken und dann den rechten.
Viktor Stepanowitsch trat zur Seite und winkte dem Volkskontrolleur noch einige Male zu. Pawel winkte zurück. Er war sehr aufgeregt, noch dazu fand das Dröhnen des Flugzeugs in seinem Magen einen unangenehmen Widerhall. Es machte ihm doch ein wenig Angst, das erste Mal in seinem Leben mit solch einer geflügelten Maschine zu fliegen. Doch es gab etwas, das den Volkskontrolleur beruhigte: der Gedanke an das große Vertrauen des Vaterlandes, das ihn auf diesen Flug schickte, und die Aussicht auf sein zukünftiges Leben, auf seine Arbeit sowie auf all das Wunderbare, das ihm unweigerlich unterwegs begegnen würde.
Unerwartet setzte sich die Maschine mit einem Ruck in Bewegung, raste über das Feld und holperte dabei über unsichtbare Unebenheiten am Boden dahin. Pawel erschrak, denn es kam ihm vor, als wäre der Pilot hinter ihm zurückgeblieben, aber als er ihn an dem für ihn vorgesehenen Platz am Steuerrad entdeckte, beruhigte er sich, bekreuzigte sich in Gedanken und wurde ganz starr. Er wartete auf den Moment, in dem das Flugzeug sich von der Erde loslösen und in den blauen, wolkenlosen Himmel erheben würde.
Nach einigen Augenblicken hob das Flugzeug tatsächlich ab und sein Dröhnen wurde schwächer. Es wiegte Pawel hin und her, und er schlief ein.