Kapitel 18

Ein Oktoberabend brach früh herein und die Schule war inzwischen schon leer. Nur im Arbeitszimmer des Direktors brannte noch eine Lampe. Sie beleuchtete den starren Blick des an der Wand hängenden Dserschinskij-Bildes und auch Banow, den Schuldirektor selbst, der grübelnd an seinem Tisch saß und sich von Zeit zu Zeit etwas zur Seite neigte, um einen prüfenden Blick auf den unteren Teil seiner dunkelblauen Hose zu werfen.

„Teufel aber auch!“, murmelte er, neigte sich wieder zur Seite und schlug mit der flachen Hand kräftig auf seinen Knöchel.

Dann zog er das Hosenbein hoch und nahm seinen Fuß näher in Augenschein. Etwas kam ihm dort verdächtig vor, und wieder schlug er mit der Hand kräftig nach unten, hob daraufhin etwas Zerquetschtes zwischen Daumen und Zeigefinger zu seinen Augen empor und öffnete langsam und andächtig die Finger. Dort war ein schwarzes Pünktchen zu sehen, ein kleines Insekt, das Wasilij Wasiljewitsch Banow wohlbekannt war. Es war ein Floh, und infolge dieser Erkenntnis kniff der Schuldirektor die Lippen zusammen. Er teilte ihn mit seinem gelblichen Fingernagel in zwei Hälften.

Banow grübelte noch einige Zeit über die Unannehmlichkeiten seiner Entdeckung nach. Seine Beine juckten schon seit einiger Zeit, aber bis zum heutigen Abend hatte er die Schuld für all die Stiche, für all die roten Pusteln auf Stechmücken geschoben, was sich nun als falsch herausgestellt hatte. Er erinnerte sich, wann er den ersten solcher Stiche in diesem Herbst erhalten hatte. Das war an dem Tag, als er Klara Rojd in ihrer Wohnung kennengelernt hatte.

Wie kann sie dort nur wohnen?! Das ist doch eine Quälerei!, dachte er mitfühlend. Dann holte er das Firmen-Telefonbuch und blätterte darin. Er fand das Moskauer Hygiene-Institut, griff zum Hörer und wählte die entsprechende Nummer.

„Hallo – Telefonzentrale!“, antwortete eine Männerstimme in militärischem Ton.

„Bekämpfen Sie auch Flöhe?“, fragte Banow.

„Natürlich“, lautete die Antwort am anderen Ende der Leitung. „Nennen Sie mir die Adresse.“

„Schule Nummer 36, Dajew-Gasse, Direktion…“

„Passt es Ihnen morgen um drei Uhr Nachmittag?“

„Geht es auch später?“

„Natürlich. Wann passt es Ihnen besser?“

„So gegen sechs Uhr… Und schreiben Sie noch eine Adresse auf. Das ist eine Wohnung. Zweite-Kasatschij-Gasse, Haus 10/3, Wohnung 4.“

„Nachname?“, fragte die Stimme.

„Wer?!“ Banow begriff nicht.

„Des Mieters!“

Wasilij Wasiljewitsch schwieg einen Moment und überlegte, dann stieß er den Namen wie ein Schimpfwort hervor:

„Schkarnizkij! Und dort passt es ebenfalls besser am Abend, so gegen sieben.“

„Gut“, antwortete die Männerstimme.

„Noch eine Bitte“, fügte Banow hinzu. „Wenn es dort in der Wohnung Nachbarn gibt, behandeln Sie auch deren Zimmer mit.“

„Wird gemacht!“, antwortete die Stimme. „Auf Wiederhören.“

Wieder wurde es still. Nur der Fuß juckte, aber Banow hatte genügend Willenskraft, um nicht auf den Reiz zu reagieren.

Das Leben war gut, und fast alles daran machte Banow Freude. Man konnte sagen, dass er selbst mehr zu träumen begonnen hatte, fröhlicher und optimistischer geworden war, und das alles dank Klara Rojd. Er war ihr für vieles dankbar, versuchte das aber irgendwie zu überspielen, weil er dachte, dass auch sie ihm für vieles dankbar sein musste, und die gegenseitige Dankbarkeit könnte, wie er meinte, das Glück ihrer Treffen und ihrer Beziehung stören, die auf einem hohen menschlichen Niveau lag und die mehr als eine gewöhnliche Freundschaft war, und auch mehr als eine sowjetische Liebe.

Draußen wurde es dunkel. Gestern noch hatte es zur gleichen Zeit genieselt, aber an diesem Tag war es trocken. Die Zeit verstrich ruhig und langsam, ohne Banow von seinen angenehmen Gedanken abzulenken. Heute oder morgen würde er Klara anrufen und ihr eine erfreuliche Neuigkeit mitteilen, und zwar, dass sich einer ihrer Träume bald erfüllen würde. Ihm war es gelungen, beim Leiter des Narkompros eine Bewilligung für zwei Personen zu erreichen, für sich selbst und für Vizedirektor Kuschnerenko. Und zwar dafür, dass die „oben genannten Genossen jeweils einen Fallschirmsprung zu Übungszwecken durchführen sollen mit dem Ziel, das militärische Praxiswissen des Direktoren- und Lehrpersonals des Narkompros zu erhöhen“. Unter dem Namen Kuschnerenko würde Klara mit ihm gemeinsam springen, und als er daran dachte, vermochte sich Banow Klaras Freude darüber gar nicht so recht auszumalen. Obwohl er die Höhe, obwohl er Glockentürme und Dächer liebte, machte ihm der Gedanke an den ersten Fallschirmsprung seines Lebens etwas Angst, aber sogleich schalt er sich für seine Feigheit und nahm sich an Klara mit ihren furchtlosen Träumen ein Beispiel.

Plötzlich schrillte das Telefon. Banow nahm den Hörer ab. Er dachte, es wäre vielleicht Klara, aber da fiel ihm ein, dass er ihr seine Telefonnummer nicht gegeben hatte.

„Hallo, Genosse Banow?!“, fragte eine bekannt klingende Männerstimme.

„Ja.“

„Ich rufe vom Narkompros an. Bleiben Sie noch eine Stunde da, ein Kurier kommt mit einem Paket zu Ihnen. Machen Sie sich bitte genau mit den Unterlagen vertraut! Alles Gute.“

Banow gelang es gar nicht mehr, sich zu verabschieden, da hatte der Mann vom Narkompros den Hörer schon aufgelegt.

Man konnte zwar nicht sagen, dass ihm die Laune verdorben war, aber sie hatte sich verändert. Schließlich hatte er vorgehabt, aufs Dach zu steigen, um dort ein oder zwei Stunden zu sitzen und die Hauptstadt im Halbdunkel zu betrachten. Und jetzt musste er auf diesen Kurier warten…

Etwas mehr als eine Stunde später schellte die Glocke. Ein Kurier in Armeeuniform überreichte ihm schweigend ein kleines Paket mit zwei Stempeln aus Siegellack sowie mit dicht verleimten Papiernähten, salutierte und ging sogleich wieder. Der Direktor verschloss die Tür und stieg hinauf in sein Arbeitszimmer.

„Anordnung des Narkompros“, las er, als er wieder in seinem Zimmer saß. „Hiermit wird angeordnet, am Dienstag, den 13. Oktober dieses Jahres, in allen Schulen der Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken, inklusive der Schulen des diplomatischen Korps, der Konsulate und der Handelsvertretungen, die sich im Ausland befinden, für die Lehrer aller Gegenstände und Klassen mit Ausnahme der Schuldirektoren einen einheitlichen Schultag nach besonderem Programm durchzuführen. Dieser Tag muss zur Gänze und durch alle Lehrer dem Verfassen eines Aufsatzes über eines der vorgeschlagenen Themen gewidmet sein. Das Verfassen der Aufsätze erfolgt unter der Aufsicht der Komsomol-Mitglieder der Schule. Lehrer, die sich an diesem Tag auf Dienstreise oder im Krankenstand befinden, sind verpflichtet, ihre Aufsätze innerhalb von 24 Stunden dem Direktor der nächsten Schule beziehungsweise der Schule, der sie zugeordnet sind, vorzulegen. Jeder Aufsatz wird auf einzelne Doppelbögen aus Schulheften geschrieben. Auf der ersten Titelseite führen die Lehrer ihren Vor-, Vaters- und Nachnamen an sowie die Nummer und Adresse ihrer Schule. Die fertiggestellten Aufsätze sind in einer eigenen Mappe abzulegen, der ein Vollständigkeitsnachweis beizufügen ist.

Danach ist die Mappe im Zimmer des Direktors unter seiner persönlichen Verantwortung bis zur Ankunft eines Spezialkuriers des Narkompros aufzubewahren.

Die Aufsätze der Lehrer werden weder von den Direktoren noch von den Komsomolmitgliedern beurteilt oder kontrolliert.

Anhang Nr. 1

Aufsatzthemen:

1. Die Errungenschaften der sowjetischen Schule in den letzten zehn Jahren. Mein Beitrag zum Prozess der allgemeinen Bildung

2. Meine Familie vor und nach dem Jahr 1917“

Nachdem Banow zu Ende gelesen hatte, schloss er die Anordnung im Tresor ein, oberhalb des Aufsatzes des Schülers der 7B-Klasse Robert Rojd, und dann kletterte er aufs Dach. Es regnete nicht, also war das Dach trocken.


Am nächsten Abend, als die Arbeiter des Moskauer Hygiene-Instituts gegangen waren, rief er Klara an. Im seinem Arbeitszimmer roch es nach Chemikalien, doch Banow achtete nicht darauf.

„Hallo“, ertönte im Hörer ihre angenehme, weibliche Stimme.

„Guten Abend!“, sagte Banow gut gelaunt mit tiefer Stimme.

„Wasilij Wasiljewitsch! Guten Tag!“ Klaras Stimme war fröhlich, anders als damals, als sie einander kennengelernt hatten. „Ach, bei uns war heute was los!“

„Was denn?“, wollte Banow wissen.

„Mein Nachbar musste heute die Wohnung räumen, weil er gegen die hygienischen Normen verstoßen hat. Sie haben die ganze Wohnung gegen Flöhe und Kakerlaken behandelt, jetzt riecht alles! Ja, und man sagte mir, dass ich Anspruch auf die frei gewordene Fläche erheben kann!“

„Ach, das ist schön!“, sagte Wasilij Wasiljewitsch, der nicht ganz verstand, was dort mit Schkarnizkij passiert war. „Und ich habe auch eine gute Neuigkeit für Sie! Raten Sie!“

„Also… ich weiß es nicht, ehrlich gesagt“, stammelte Klara nach einer Pause. „Heraus mit der Sprache!“

„Am Samstag, den 17., machen wir beide einen Fallschirmsprung!“

„Oh! Wirklich wahr?! Wie haben Sie denn das geschafft?“

„Ich habe es doch versprochen!“, sagte der Schuldirektor mit dem stolzen Gefühl, sein Wort gehalten zu haben. „Und wie geht es Robert?“

„Gut. Er hat alle Dreier ausgebessert und ist zum Komsomolzen-Führer seiner Klasse gewählt worden…“

„Da sehen Sie es!“, sprach Banow wieder mit zufriedener Stimme. „Also gut, ich rufe Sie am Freitagabend an und gebe Ihnen Bescheid, wo und wann wir uns treffen.“

„Und bis Freitag sehen wir einander gar nicht mehr?“, fragte Klara. Banow schwieg ein paar Sekunden und seufzte.

„Ich würde wirklich gerne. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie früher anrufe, wenn ich Zeit habe!“

„Also gut! Auf Wiederhören!“, sagte Klara.

In der Stille seines Büros trank Banow Tee und dachte über diese interessante Frau nach. Sie wollte sich also bereits öfter mit ihm treffen, aber das erschreckte Wasilij Wasiljewitsch ein wenig. Er befürchtete, dass häufige Treffen aus ihnen letzten Endes gewöhnliche Freunde machen würden, und dann würde diese große Romantik verloren gehen. Nein, Banow wusste mit Sicherheit, dass er sie erst am Freitagabend anrufen würde. Er würde anrufen, sich dafür entschuldigen, dass er die ganze Woche sehr beschäftigt gewesen war, und ihr mitteilen, wo sie einander am Samstag treffen würden. Und dann, am Samstag – eine schwierige und sogar schrecklich Vorstellung – würden sie in trauter Zweisamkeit unter den Kuppeln der Fallschirme im Himmel schweben, und vielleicht würde sogar etwas Zeit bleiben, um während des Fluges miteinander zu sprechen und zu träumen. Eine völlig irrsinnige Idee, aber wie leicht sie doch in die Realität umzusetzen gewesen war. Und was war dazu nötig gewesen? Fast nichts. Ein Telefonanruf ins Narkompros. Banow war wieder stolz auf sich selbst und er lächelte aufrichtig und strahlte über das ganze Gesicht.

Der Oktoberabend war neuerlich trocken und dunkel. Draußen summte etwas, wahrscheinlich ein Insekt, das sich dem Einbruch der kalten Jahreszeit widersetzte und nicht Winterschlaf halten oder gar sterben wollte.

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