Kapitel 11

An einem Herbstabend, an dem die untergehende Sonne besonders hell leuchtete, saß Wasilij Wasiljewitsch Banow auf dem Dach der von ihm geleiteten Schule und blickte in den Himmel.

Der Sommerurlaub lag hinter ihm und die Erinnerung daran wärmte noch immer seine Seele, auch wenn man sich an Erinnerungen allein nicht erwärmen konnte, selbst wenn es Erinnerungen an den Süden waren. Und deshalb lenkte sich Wasilij Wasiljewitsch ständig von der Vergangenheit ab, dachte immerzu an die Arbeit, an den Lehrbetrieb, der erst kürzlich begonnen hatte und wo es galt, gut vierhundert Zöglinge mit Qualität und auf hohem Niveau auszubilden. Und tatsächlich war das etwas, worüber man nachdenken sollte, schließlich war der vom Narkompros[3] genehmigte Plan eine Sache, eine ganz andere jedoch war das reale Leben, in dem jeden Tag etwas dazukam, sich etwas änderte oder einfach nur verkomplizierte. Und auch jetzt konnte sich der Schuldirektor nicht mehr entsinnen, welche Erziehungs- und Arbeits-Exkursionen in Moskauer Fabriken für diesen Herbst geplant waren. Es gelang ihm einfach nicht. Sein Gedächtnis war nicht mehr das alte. Der Himmel verdunkelte sich. Wie Trauben hingen die Sterne an unsichtbaren Reben. Der Lärm der großen Hauptstadt ließ nach.

Direktor Banow kletterte vom Dach und ging in sein Büro. Bevor er sich an seinen breiten Schreibtisch setzte, zündete er den Petroleumkocher an, rüttelte ihn ein wenig auf und stellte den Teekessel mit etwas Wasser darauf.

Er ergriff die vom Narkompros genehmigten Pläne, sah sie durch und räumte sie sogleich in die oberste Tischlade. Dann hing er wieder seinen Gedanken nach.

Plötzlich schrillte das Telefon und Banow, der den schwarzen Apparat unverwandt anstarrte, war kurz einer Ohnmacht nahe. Schließlich war niemand mehr in der Schule, was zu dieser späten Stunde auch nicht zu erwarten war, und es schien, als ob der Apparat lebendig wäre und wüsste, dass er, Wasilij Wasiljewitsch Banow, gerade in seinem Zimmer saß und Tee zu trinken vorhatte.

Schließlich nahm der Schuldirektor den Hörer doch ab.

„Genosse Banow?“, fragte eine klare männliche Stimme.

„Ja.“

„Hier spricht Burtenko, Narkompros, der Nachtdienst. Zu Ihnen ist ein Bote mit einem Paket unterwegs. Behandeln Sie die Sache sehr ernsthaft! Auf Wiederhören!“

Und der auf den Tisch gelegte Hörer gab kurze Signaltöne von sich.

Das Wasser kochte. Wasilij Wasiljewitsch machte das Feuer des Petroleumkochers aus und legte den Telefonhörer auf den Apparat.

Bald hörte er es klingeln. Nun musste er aufstehen und ins Erdgeschoß gehen, um dem Boten die Tür zu öffnen.

Unten durchquerte er den von einem roten Notlicht schwach beleuchteten Korridor und hörte erneut das ungeduldige Klingeln. Er beschleunigte seinen Schritt, öffnete die Tür und da begegnete er auch schon dem unzufriedenen, verkniffenen Blick eines mageren Mannes in mittleren Jahren, der eine Militäruniform trug.

„Ihr Paket!“, sagte der Mann mit Nachdruck und überreichte ihm ein sperriges, in Papier verpacktes Paket mit einem Stempel aus Siegellack.

Immer noch verblüfft nahm der Schuldirektor das Paket entgegen und wollte den Boten einladen, mit ihm auf einen Tee in den ersten Stock zu kommen, aber dieser drehte sich um und verschwand ohne Abschied im Halbdunkel der Dajew-Gasse.

Nachdem Wasilij Wasiljewitsch Banow die Tür abgeschlossen hatte, kehrte er in sein Büro zurück, gab eine Prise georgischen Tees in die Teekanne, setzte sich und nahm den Inhalt des Pakets in Augenschein.

In dem Paket waren zwei gewöhnliche Kuverts. Eines enthielt ein umfangreiches Päckchen mit neuen pädagogischen Empfehlungen, und im zweiten befand sich ein einziges Blatt, auf dessen unterem Teil nach dem in Druckbuchstaben getippten Text ein dicker violetter Stempel mit dem Landeswappen im inneren Kreis prangte. In einer Spalte daneben befanden sich drei geschwungene Unterschriften – jede eigens für sich stehend –, „Anordnung“, begann Banow zu lesen und bewegte dabei stumm die Lippen. „Hiermit wird angeordnet, am Montag, den 13. September dieses Jahres, in allen Schulen der Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken inklusive der Schulen des diplomatischen Korps, der Konsulate und der Handelsvertretungen, die sich im Ausland befinden, einen einheitlichen Unterrichtstag nach besonderem Programm durchzuführen. Dieser Unterrichtstag muss zur Gänze und für alle Schüler ab der dritten Klasse dem Schreiben eines Aufsatzes über eines der unten angeführten Themen gewidmet werden. Die Zeit für das Schreiben des Aufsatzes beträgt sechs Stunden ohne Unterbrechung. Wenn nötig, kann diese Zeit verlängert werden. Die Schuldirektoren und Lehrer sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass aufgrund von triftigen Gründen fehlende Schüler diesen Aufsatz in der vorgegebenen Zeit außerhalb der Wände des Schulgebäudes schreiben. Jeder Aufsatz wird auf einzelne Doppelbögen aus Schulheften geschrieben. Auf der ersten Titelseite sind der Vor-, Vaters- und Nachname des Schülers, die Klassenund Schulnummer, die Wohnadresse sowie das gewählte Thema anzuführen. Nach der Fertigstellung sind die Aufsätze nach Klassen geordnet in Mappen abzulegen und im Zimmer des Schuldirektors unter dessen persönlicher Verantwortung aufzubewahren, bis sie ein Narkompros-Bote abholen kommt. Die Aufsätze werden von den Lehrern der Schule weder bewertet noch korrigiert.

Anhang Nr. 1

Aufsatzthemen:

1. Wofür ich mein Vaterland liebe.

2. Meine Familie – die Erbauer des Kommunismus.

3. Wovon mein Papa träumt.“

Nachdem Direktor Banow zu Ende gelesen hatte, goss er etwas Tee in seine Lieblingstasse aus Blech, setzte sich auf die andere Seite des Tisches, damit er das Dserschinskij-Bild sehen konnte, und versank wieder in Gedanken.

Auf der Uhr, die neben dem Bild hing, war es fast elf Uhr am Abend. Wasilij Wasiljewitsch sollte nach Hause gehen, aber das wollte er noch nicht, und deshalb zog er sein abendliches Teetrinken so weit wie möglich in die Länge.

* * *

Es war der 13. September, ein Montag. Die auf der Lehrerkonferenz vorbereiteten Pädagogen waren an diesem Tag adrett und feierlich in die Schule gekommen. Ein jeder stand neben dem Eingang seiner Klasse und teilte Heftbögen für die Aufsätze an die Schüler aus. Die Themen waren noch am Vorabend mit großen Buchstaben auf die Schultafeln geschrieben worden.

Die Glocke läutete und eine bemerkenswerte Stille legte sich über die Schule.

Banow kam aus seinem Büro, trat an eine verschlossene Tür und lauschte – es war so leise wie sonst nur nachts. Er ging zu einer anderen – dort war es ebenso.

Alle arbeiteten und schrieben an ihren Aufsätzen. Die Anordnung des Narkompros wurde ausgeführt und der Schuldirektor kletterte befriedigt durch die Dachbodentür aufs Dach, um einen Rundblick über die von Tag zu Tag wachsende Hauptstadt zu werfen.

Zunächst betrachtete er das mehrstöckige Haus, das seit nicht allzu langer Zeit, etwa einem Jahr, einen der Kremltürme verdeckte. Sogleich wurde ihm etwas traurig zumute, denn eben danach hatte Wasilij Wasiljewitsch damit aufgehört, die Vorzugsschüler in Leistung und Benehmen zu erzieherischen Zwecken aufs Dach zu führen.

Hierauf betrachtete der Schuldirektor die anderen Neubauten, die in der Nähe und entfernt zu sehen waren, aber sie weckten keine Gedanken in ihm.

Die Stadt lärmte. Durch ihre Straßen bewegten sich die Autos wie bunte Käfer.

Gar nicht weit entfernt flog ein Flugzeug durch den blauen Himmel, wahrscheinlich über Sokolniki.

Es war ein gewöhnlicher Tag, still und ruhig. In Friedenszeiten bestand der Großteil eines Menschenlebens aus solchen Tagen. Wenn es aber keinen Frieden gab…

Direktor Banow erinnerte sich an weit zurückliegende Zeiten, in denen es keinen Frieden gegeben hatte, und befeuchtete seine trockenen Lippen. Eine seltsame, aber vollkommen gerechtfertige Frage kam ihm in den Sinn: Warum ist der Kampf interessanter als der Sieg? Sie blieb unbeantwortet wie ein klassisches altrömisches Paradoxon.

Der Tag aber ging weiter. An allen Schulen der Sowjetunion herrschte Stille, und nur manchmal stieß eines der Kinder einen kurzen Schrei aus, wenn es sein Tintenfass umgestoßen oder versehentlich seine Feder zerbrochen hatte. Dann eilte der Lehrer dem Unglücksraben zu Hilfe, damit er oder sie so schnell wie möglich damit fortfahren konnte, die Anordnung des Narkompros auszuführen.

Wasilij Wasiljewitsch blickte auf seine Uhr und begann nachdenklich zu nicken. Wie viel Zeit würde noch vergehen, bis sich die Schule leeren würde und alle, sowohl die Schüler wie auch die Lehrer und die Putzfrauen, nach Hause gehen würden?! Drei Stunden, vier oder fünf? Banow liebte seine Schule sehr. Aber er liebte sie dann, wenn in den weitläufigen und sauberen Gängen keine Menschenseele zu sehen war, wenn es in der Schule leise war und im Halbdunkel die roten Notlichtlampen leuchteten.

Ohne es selbst zu bemerken, döste Banow am Tisch ein, und er wäre bald in tiefen Schlaf gesunken, wenn nicht jemand beharrlich an die Tür seines Büros geklopft hätte.

„Kommen Sie herein!“, rief Banow und richtete sich an seinem Tisch ein wenig auf.

Kuprijanow, ein Lehrer der unteren Klassen, trat mit einer blauen Mappe in der rechten Hand ein.

„Erlauben Sie, Bericht zu erstatten!“, wandte er sich an den Schuldirektor. „In der Klasse 3A wurden dreiunddreißig Aufsätze geschrieben. Niemand hat gefehlt.“

Der Schuldirektor kam nicht dazu, nachzudenken, denn schon kam ein weiterer Lehrer mit einem Bericht herein und hierauf noch einer, und so dauerte das ungefähr eine Stunde mit kurzen Unterbrechungen fort, bis es plötzlich still wurde. Erst als er die auf seinem Tisch gestapelten Mappen mit Aufsätzen gezählt hatte, begriff Banow, dass seine Schule die Anordnung des Narkompros erfüllt hatte. Man musste natürlich genau sein: wie viele Schüler die Aufsätze außerhalb der Schulmauern geschrieben hatten und welcher Lehrer ihnen dabei geholfen hatte, die Aufsicht über diese Angelegenheit war dem Vizedirektor übertragen worden, dem ehemaligen Matrosen Kuschnerenko, und auf diesen Mann, das wusste Banow, konnte man sich verlassen.

Wasilij Wasiljewitsch kochte Tee und löste langsam zwei Würfel Zucker in der Blechtasse auf. Er ergriff die nächstliegende Mappe, auf der vermerkt war: „Klasse 7B. Einunddreißig Aufsätze. Lehrer: Moschaikin W. I.“ Er knüpfte die schmalen Bänder auf und öffnete die Mappe.

Wieder klopfte es an der Tür und der Schuldirektor klappte die Mappe automatisch zu.

Der Vizedirektor trat ein.

„Genosse Schuldirektor“, sagte er. „Erlauben Sie, Bericht zu erstatten. Von zweiundvierzig Schülern, die sich außerhalb der Schule befinden, haben einundvierzig den Aufsatz geschrieben, und diese Aufsätze habe ich hier!“ Und mit den Augen wies er auf die Mappe in seinen Händen.

„Und was ist mit dem zweiundvierzigsten?“, wollte Banow wissen.

„Die Ärzte haben es nicht erlaubt… er liegt mit gebrochener Wirbelsäule im Krankenhaus, ohne Bewusstsein… Alle anderen, die in Krankenhäusern sind, haben den Aufsatz geschrieben.“

„Also gut, danke“, nickte der Schuldirektor dem Vizedirektor Kuschnerenko zu. „Lass die Mappe hier, du kannst gehen! Sind die Schüler und Lehrer übrigens schon gegangen?“

„Ja, die sind schon weg“, sagte Vizedirektor Kuschnerenko. „Nur die Petrowna ist noch hier, sie wäscht die Fußböden im Erdgeschoß…“

„Dann sag ihr bitte, dass sie heimgehen kann, sobald sie mit dem Erdgeschoß fertig ist. Heute hat es keine Pausen gegeben, also sieht man auch keinen Schmutz.“

Die Tür fiel ins Schloss und man hörte vom Korridor her die Schritte des Vizedirektors widerhallen, der sich entfernte. Wieder öffnete Banow die Mappe. Er war neugierig, welches der drei vorgeschlagenen Themen von den Schülern am häufigsten gewählt worden war. Er sah einige Überschriften durch. Im Großen und Ganzen waren zwei Themen zu finden: die Liebe zum Vaterland und die Familie. Wasilij Wasiljewitsch wunderte sich ein wenig. Über den Traum des Vaters zu schreiben, erschien ihm leichter. Er sah noch zehn weitere Aufsätze durch, das Resultat blieb das Gleiche – nur zwei Themen. Das verwunderte den Schuldirektor noch mehr, es machte ihn geradezu perplex. Er legte die durchgesehenen Aufsätze beiseite und nahm den restlichen Stapel von Heftblättern zur Hand, ging die Titelseiten durch und legte sie zu den bereits durchgesehenen, als sein Blick an dem bisher einzigen Aufsatz hängen blieb, dessen Thema der Traum des Vaters war. Banows Lippen formten sich zu einem Lächeln, er nahm einen Schluck von dem bereits abgekühlten Tee und schlug den Aufsatz auf, jedoch vertrieb bereits der erste Satz das Lächeln aus dem Gesicht des Schuldirektors.

„Ich habe keinen Papa mehr. Deshalb schreibe ich, wovon meine Mama geträumt hat. Geträumt hat sie früher, aber inzwischen träumt sie nicht mehr…“

Banow seufzte tief – er hätte gerne etwas Mutiges und Kämpferisches lesen wollen, etwas wirklich Jungenhaftes, und dann stand hier gleich am Anfang des Aufsatzes so eine Rührseligkeit!

Der Schuldirektor sah wieder auf das Titelblatt.

„Robert Rojd, Klasse 7B, Wohnadresse: Moskau, 2.-Kasatschij-G., Haus 10/3, Wohnung 4.“

„Rojd?“, flüsterte Banow erstaunt.

Irgendwann einmal während des Krieges hatte er einen Menschen mit solch einem seltsamen nichtrussischen Namen getroffen. Das war ein rothaariger Kämpfer gewesen, der mit Vorliebe wiederholte, dass er ein geborener Anarchist sei. Er stammte offenbar aus der Nähe von Riga. Was war ihm noch von ihm in Erinnerung geblieben? Wohl nur ein einzelner Satz, den dieser zu sagen pflegte, wann immer er Banow gesehen hatte. „Banow“, hatte er gesagt, „denk dran, im Leben gibt es nur zwei wirkliche Freuden: die Frauen und den Kampf.“ Ein dummer Satz. Banow war damit nie einverstanden gewesen. Aber da regte sich etwas in dem Schuldirektor, etwas, das mit dem besten Teil seines Lebens zusammenhing, mit seiner kriegerischen Vergangenheit. Und wieder schlug er den Aufsatz des Siebtklässlers Robert Rojd auf.

„Ich habe keinen Papa mehr. Deshalb schreibe ich, wovon meine Mama geträumt hat. Geträumt hat sie früher, aber inzwischen träumt sie nicht mehr. Das kommt daher, weil sie sehr krank ist. Aber früher hat sie davon geträumt, Pilotin zu werden und zum Nordpol zu fliegen. Sie hat außerdem davon geträumt, eine bekannte Fallschirmspringerin zu werden und die Rekorde der UdSSR zu brechen. Aber als Papa vergiftet wurde und gestorben war, sagte Mama, dass sie von gar nichts mehr träumen wird, dass alles Gute bereits vergangen ist. Und sie sagte, dass man die Vergangenheit nicht zurückholen kann…“

Weiter las Banow nicht. Das Niederdrückende an diesem Aufsatzes gefiel ihm überhaupt nicht – für eine solche Stimmung der Schüler konnte auch der Direktor büßen – er trug schließlich die Verantwortung für seine Zöglinge. Doch die von Kinderhand beschriebenen Fakten weckten seine Aufmerksamkeit und bekümmerten ihn sogar, auch wenn man an ihrem Wahrheitsgehalt zweifeln durfte, schließlich fantasierten Kinder sehr gerne, wobei sie in beide Richtungen gleich gut fantasieren konnten: sowohl fröhlich als auch tragisch. Auf jeden Fall wollte sich der Schuldirektor diesen Jungen einmal ansehen. Vielleicht war er ja wirklich der Sohn jenes Rojds, und wenn das so war, dann galt es auch etwas über die Vergiftung zu erfahren, sollte sie sich als wahr herausstellen.

Gegen ein Uhr nachts kam ein Lastwagen zum Eingang. Eine Gruppe von Narkompros-Kurieren sammelte die Aufsätze ein. Gut die Hälfte des Wagens war schon mit verschiedenfarbigen Mappen beladen. Ein Bote übernahm gemeinsam mit zwei Soldaten die Mappen von Banow. Sie verabschiedeten sich mit einem Nicken und fuhren davon ohne ein Sterbenswort zu verlieren. Der Direktor folgte ihnen ohne Eile, schloss die Tür ab und verharrte noch kurz im Erdgeschoß, bis der Motor des Lastwagens sich in einer der Gassen verlor. Dann ging er hinauf in sein Büro, setzte Tee auf, zog den Aufsatz von Robert Rojd aus der Tischlade und legte ihn in den schweren, feuerfesten Schrank, der in der Ecke stand.

Am Dienstag brachte Vizedirektor Kuschnerenko gleich nach dem Unterricht einen rothaarigen Jungen in das Büro des Direktors.

„Grüß dich!“, begrüßte Banow ihn laut und stand vom Tisch auf.

„Guten Tag!“, flüsterte der Schüler verlegen, der in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war.

„Na, warum stehst du dort, komm her, setz dich doch!“, senkte Banow seine Stimme, da er dachte, dass er vorher zu laut gewesen war.

Der Vizedirektor, der ihm unangebracht zugezwinkert hatte, ging aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Der Junge trat schüchtern näher und setzte sich auf den Stuhl.

„Also, wie heißt du?“, fragte der Direktor.

„Robert…“

„Und ich heiße Wasilij Wasiljewitsch. Weißt du, Robert, worüber ich mit dir sprechen wollte?“, stammelte Banow, der nicht wusste, wie er das Gespräch beginnen sollte. „Ich wollte mit dir über deinen Aufsatz sprechen. Möchtest du Tee?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Nun, träumt deine Mama wirklich von gar nichts? Hm?“, fragte der Schuldirektor, während er angespannt in Roberts Gesicht blickte.

„N-ein. Sie träumt von nichts…“

„Na, hast du versucht, deiner Mama zu helfen? Hm? Wie siehst du das? Du träumst doch bestimmt von etwas?“

„Ja“, gab der Junge zu.

„Na, wovon träumst du denn?“, wollte Banow wissen, der sich freute, dass das Gespräch ein wenig in Gang kam.

„Ich möchte Pilot werden.“

„Das ist gut. Ich sage dir etwas: Wenn man jetzt von etwas träumt – dann wird es sich ganz gewiss auch erfüllen. Ich selbst habe davon geträumt, in der Kavallerie zu kommandieren, und siehst du, man hat mich zum Schuldirektor ernannt. Das ist deshalb so gekommen, weil es schwierige Zeiten waren. Aber wenn du erwachsen bist, dann wird das eine ganz andere Zeit sein und du kannst Pilot werden. Die Hauptsache ist, daran zu glauben. Verstehst du?“

„Mhm.“ Der Junge nickte und sah zum ersten Mal etwas mutiger in Banows Augen.

„Und was ist mit deinem Vater geschehen?“, fragte Banow unvermittelt und versuchte, eine traurige und ernste Miene aufzusetzen.

„Man hat ihn vergiftet.“ Robert senkte wieder die Augen und starrte auf den Tisch.

„Wer?“

„Die alten Bolschewiken…“

„Das kann nicht sein! Woher weißt du das?!“, entrüstete sich der Direktor.

„Er hat es vor seinem Tod selbst gesagt. Man hat sie zu fünft eingeladen, hat sie mit irgendeinem Hering verköstigt, und bis zum Morgen waren sie alle tot.“

„Wer sie? Wer alle?“

„Na ehemalige Anarchisten…“

Banow biss sich auf die Lippe. Obwohl er in Erwägung gezogen hatte, dass es sich um jenen Rojd handeln könnte, war die Bestätigung seiner Vermutung doch ein Schock. Und dann war da noch die Vergiftung, mit der man sich naturgemäß noch auseinandersetzen musste. Man konnte einem Kind schließlich nicht so einfach aufs Wort glauben!

„Nun, Robert, wie wäre es… Du könntest mich mit deiner Mutter bekannt machen… Nicht wahr?“, sagte Banow nach einer Pause. „Ich könnte vielleicht mit ihr reden und dann, siehst du, beginnt sie wieder zu träumen, und euer Leben wird besser und vielleicht fröhlicher…“

Der Junge zuckte mit den Achseln, ohne den Blick von der Tischplatte abzuwenden.

„Nun gut, geh nach Hause. Und sag deiner Mama, dass ich bei euch vorbeikommen werde!“ Banow stand auf und streckte dem Jungen seine kräftige, sehnige Hand entgegen.

Robert drückte sie, aber der Direktor spürte seinen Händedruck kaum. Robert murmelte „Auf Wiedersehen“ und ging zur Tür.

Bis zum späten Abend saß Banow am Tisch und dachte nach. Er dachte über Verschiedenes nach, aber immer wieder kehrten seine Gedanken zu dem rothaarigen Knaben zurück, zu dessen Mutter und zu jenem Rojd, der nun also bereits verstorben war und für den es im Leben nur zwei Freuden gegeben hatte: die Frauen und den Kampf.

Es wurde bereits dunkel. Der Direktor schaltete das Licht an, holte Roberts Aufsatz aus dem feuerfesten Schrank und schrieb von der Titelseite die Adresse in sein Notizbuch ab. Hierauf legte er den Aufsatz wieder an seinen Platz und verschloss den feuerfesten Schrank sorgsam mit drei Schlüsseln.

Draußen war immer noch der vergangene warme Tag zu spüren. Zwischen weit entfernten Häusern lugte der Mond hervor, und Banow erschien er wie ein Invalide.

Bis zur Zweiten-Kasatschij-Gasse waren es ungefähr zehn Minuten zu Fuß, nicht mehr.

Das Haus fand Banow leicht. Er ging durch die Eingangstür, stieg die breite Treppe hinauf in den ersten Stock und blieb vor der Tür mit der Nummer vier stehen. Links hingen zwei kleine Schilder, die unterhalb des Klingelknopfes mit Nägeln angebracht waren: „Schkarnizkij – einmal läuten“, „Rojd – zweimal läuten“.

Banow dachte nach. Seine eigenen Nachbarn in der Kommunalwohnung mochte er zwar nicht, aber er verstand sehr wohl, wie viel im alltäglichen und persönlichen Leben von ihnen abhing. Und vermutlich deshalb streckte er die Hand nach dem Klingelknopf von Schkarnizkij aus. Der Umstand, dass man bei verschiedenen Klingeln läuten musste und darüber hinaus verschieden oft, stimmte den Schuldirektor etwas misstrauisch. Das zeigte schließlich, dass das Zusammenleben in dieser Kommunalwohnung des alten dreigeschoßigen Hauses möglicherweise unnötig kompliziert war.

Schkarnizkij öffnete die Wohnungstür. Er war ein Mensch von wenig angenehmem Äußeren, hager, groß und schmierig. Das betraf nicht nur sein seit langem nicht gewaschenes Haar, sondern bezog sich auf das gesamte Erscheinungsbild, auch auf seine ungewaschene Kleidung.

„Wollen Sie zu mir, Genosse?“, begegnete er Banow mit einer Frage.

„Nein, ich möchte zu Genossin Rojd“, antwortete Banow und musterte den vor ihm stehenden Mann.

„Können Sie denn lesen, was da an der Wand steht?“, fragte Schkarnizkij nicht gerade empört, aber ziemlich unfreundlich. „Dort steht doch: ‚Rojd – zweimal läuten‘, und außerdem ist da ein anderer Knopf!“

Und nach diesen Worten schlug Schkarnizkij die Tür zu und ließ den Schuldirektor nicht in die Wohnung.

Der verdutzte Banow blieb ein paar Minuten verlegen stehen, dann drückte er zweimal den Klingelknopf der Rojds.

Eine Minute später öffnete sich die Tür aufs Neue. Vor Banow stand eine Frau mit gepflegtem Kurzhaarschnitt und in einem fliederfarbenen Hausmantel, die etwas über Dreißig sein mochte. Verwirrt biss sich Banow auf die Lippen, so als ob er alle gewöhnlichen russischen Wörter vergessen hätte.

„Wollen Sie zu mir?“, fragte die Frau mit leicht erkälteter Stimme.

„Ja“, stieß der Schuldirektor hervor.

„Kommen Sie herein!“

Der gemeinsame Flur der Kommunalwohnung war ziemlich breit, aber es befanden sich keine Möbel dort.

Sie betraten ein Zimmer, das ebenfalls geräumig war und altmodisch möbliert, so als ob alle Gegenstände in ihm an ihrem Platz geblieben wären, trotz der Umverteilung aller Wertgegenstände zur Zeit der Revolution, vielleicht aber auch gerade deshalb, indem nämlich die Besitzer dieser Möbel und Gebrauchsgegenstände ausgetauscht worden waren.

„Setzen Sie sich doch!“ Die Frau wies auf einen Stuhl an einem gediegenen, ovalen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Sie selbst setzte sich gegenüber.

„Danke“, sagte Banow. „Ich bin Wasilij Wasiljewitsch Banow oder einfach Genosse Banow. Der Direktor der Schule, die Ihr Sohn Robert besucht…“

„Sehr erfreut“, nickte die Frau und auf ihrem Gesicht erschien für einen Augenblick ein Lächeln, das keineswegs fröhlich war, aber sehr angenehm und ehrlich. „Ich bin Klara Rudolfowna Rojd. Aber… die Sache ist die, Robert ist nicht mein Sohn…“

Offensichtlich zeigte sich Erstaunen in Banows Gesicht und deshalb beeilte sich die Frau zu erklären:

„Ich bin die Schwester seines Vaters, Christian Rojd. Seine Mutter starb vor sechs Jahren an Typhus, aber sie lebte schon vor ihrem Tod allein, irgendwo in Ussurijsk. Deshalb haben Christian und ich die Vereinbarung getroffen, dass wir für Robert die Eltern sind, Vater und Mutter.“

„Und er weiß nichts davon?“, fragte Banow.

„Nein. Ich hoffe, dass auch Sie zu niemandem etwas davon sagen…“

„Natürlich“, versprach der Schuldirektor.

„Ich weiß, dass Sie Robert zu sich gerufen haben… er hat es mir erzählt. Deshalb habe ich Ihnen auch alles erklärt… Entschuldigen Sie, ich habe Ihnen gar nichts angeboten, aber es ist so, dass man Tee nur in der Küche kochen kann, und dabei können wir uns nicht miteinander unterhalten, da muss man ja die ganze Zeit neben dem Teekessel stehen… Vielleicht möchten Sie einen Wodka trinken? Ich hätte einen da…“

Banow fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und dachte bei sich, ob es wohl angebracht sei, auf ein derartiges Angebot einzugehen.

„ Wo ist denn Robert?“, fragte er mit einem Mal, da er Angst bekommen hatte, dass der Junge sehen könnte, wie der Schuldirektor Wodka trank.

„Im NKWD-Club, er nimmt an der Laientheatergruppe teil. In einer Stunde wird er wohl zurück sein“, antwortete Klara.

„Na dann… meinetwegen…“, sagte Banow.

Die Frau erhob sich, nahm aus der Anrichte eine offene Flasche und zwei Wodkagläser. Dann stellte sie zwei frische Gurken und ein Salzfass vor ihn auf den Tisch.

Den ersten tranken sie schweigend und in gewisser Weise voreinander verlegen, wobei sich Banow eher förmlich verhielt und etwas unbehaglich fühlte.

„Ich habe den Aufsatz Ihres Sohnes… Pardon… Roberts Aufsatz gelesen. Er heißt ‚Wovon meine Mama geträumt hat‘… Wie soll ich es sagen, Genossin Rojd, er ist etwas depressiv… er schreibt, dass Sie keine Träume mehr haben… sozusagen den Glauben an das Leben verloren haben…“

„Nennen Sie mich doch bitte Klara“, bat die Gastgeberin. „Wer sagt, dass ich nicht träume? Ich träume, aber ich kann doch dem Kind nicht all meine Gedanken anvertrauen.“

„Er ist doch kein Kind mehr“, zuckte Banow mit den Achseln. „Er wird bald fünfzehn. Ein Erwachsener… Ich bin hierhergekommen, um mit Ihnen über diesen Aufsatz zu sprechen… Natürlich denke ich, dass Sie etwas fröhlicher sein sollten, mehr träumen und vielleicht auch etwas übermütiger sein sollten, als Genossin für Robert. Schließlich hängt davon sein weiteres Leben ab… Ich würde es verstehen, wenn er in einer Familie von Alkoholikern aufwachsen würde, aber Sie haben eine gesunde sowjetische Familie…“

Und da verstummte Banow, denn er begriff, dass er etwas Unpassendes gesagt hatte. Offensichtlich zeigte der Wodka, der seine Zunge so weit gelöst hatte, dass seine Befangenheit verschwunden war, seine Wirkung.

„ Verzeihen Sie, ich… ich meinte keine gewöhnliche sowjetische Familie. Ich weiß ja, dass bei Ihnen ein Unglück passiert ist… mit Roberts Vater…“

Die Frau verzog schmerzlich den Mund, schenkte Wodka nach und wischte mit dem Finger eine Träne unter dem rechten Auge fort.

„Vielleicht wollen Sie nicht darüber sprechen?“, fragte Banow leise. „Ich habe es Ihnen nicht gesagt und weiß es auch noch gar nicht sicher… Ich habe einmal einen Rojd gekannt…“

Der erstaunte Blick der Gastgeberin ließ in ihren Augen ein ungewöhnliches Licht aufleuchten. Sie fixierte den Schuldirektor. Die Finger ihrer rechten Hand umfassten das Glas auf dem Tisch und erstarrten.

„Sie kannten Christian?“

„Hm, wir nannten einander nicht beim Vornamen… Ich war Genosse Banow, und es gab dort auch einen Genossen Rojd, so ein Rothaariger, fröhlich… von den Anarchisten… Er sagte oft zu mir: ‚Banow, denk dran, im Leben gibt es nur zwei wirkliche Freuden…‘“

„…die Frauen und den Kampf!“, brachte die Gastgeberin an Stelle von Banow den Satz zu Ende, und da flossen schon Tränen über ihre Wangen und sie versuchte nun gar nicht mehr, dagegen anzukämpfen.

Für einen Moment lang war Banow wieder verwirrt, er leerte sein Glas und sah schweigend auf seine Tischecke, da er befürchtete, Klara noch mehr aufzuregen.

„Das hätten Sie gleich sagen sollen… dass Sie ihn kannten…“, sagte die Frau. „Und Sie sprachen über Robert… den Aufsatz…“

„Aber ich… ich bin wirklich wegen Robert gekommen…“, sagte Banow, als ob er sich rechtfertigen müsse. „Ich bin schließlich Schuldirektor… Ich bin für meine Zöglinge verantwortlich, und er hat so einen Aufsatz geschrieben… und darüber, wie man seinen Vater vergiftet hat… Ist das die Wahrheit?!“

Klara seufzte tief und zuckte mit den Achseln.

„Wer weiß?“, sagte sie. „Vielleicht war es Zufall… Damals wurden schließlich in der Mosawiachim-Kantine auch sieben Menschen durch einen Hering tödlich vergiftet…“

„Ja, das habe ich gelesen…“, erinnerte sich der Schuldirektor laut.

Plötzlich lenkte ihn ein unangenehmer Schmerz in der Nähe des Knöchels ab. Er beugte sich hinunter und schlug mit der Hand auf den unteren Teil seines Hosenbeins, in der Hoffnung, eine dort eingedrungene Mücke zu erschlagen.

Inzwischen hatte sich die Gastgeberin wieder ein wenig beruhigt und füllte erneut die Gläser. Sie waren so klein, sodass Banow den Schluck, den er nahm, gar nicht bemerkte. Mechanisch biss er nach jedem Schluck von seiner Gurke ab, die er zuvor in das Salzfass getaucht hatte.

Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Die Zimmertür knarrte und Robert kam herein. Erstaunt begrüßte er den Schuldirektor, ohne dass sein Blick an der Wodkaflasche hängen blieb.

Aus irgendeinem Grund hatte Banow gedacht, dass die Gastgeberin die Flasche sogleich verstecken würde und das alles von dem Jungen unbemerkt bliebe, aber Klara nickte Robert nur zu und unternahm keinen Versuch, diesen im Sinne einer Erziehung nicht gerade besten Teil des Erwachsenenlebens vor dem Kind zu verbergen.

Der Direktor, der sich deshalb ein wenig unbehaglich fühlte, erhob sich vom Tisch.

„Ich gehe schon“, sagte er. An der Tür blickte er sich um – Robert war nicht da, anscheinend war er zur Toilette gegangen. „Und ich bitte Sie, mehr zu träumen, versuchen Sie, gemeinsam mit ihm zu träumen…“

Klara war langsam aufgestanden, um den Gast hinauszubegleiten.

Draußen war es bereits vollkommen dunkel. Aus irgendeinem Grund brannten in dieser Gasse viele Straßenlampen nicht. Banow blieb stehen, um zu entscheiden, was er jetzt tun sollte: nach Hause gehen oder in sein Büro in der Schule zurückkehren. Nach Hause wollte er nicht, ebenso wenig wollte er jedoch in die Schule, und deshalb beschloss er, ein wenig durch die schlafende Stadt zu spazieren, durch die kleinen, vertrauten Gassen.

Lange schlenderte er durch die menschenleeren Straßen. Die Kremluhren hatten bereits Mitternacht geschlagen und waren wieder verstummt. Ein Stern, der bis dahin genau über dem Moskwa-Fluss gehangen hatte, riss sich vom tiefschwarzen Himmel los, glitt zur Erde und verlosch im Fallen.

Banow aber ging immer weiter, bog von einer Gasse in die nächste, gelangte von Zeit zu Zeit wieder in dieselbe Gasse und bog daraufhin zur Abwechslung in irgendeine andere ein. An der Ecke eines solchen Gässchens und einer anderen, bedeutenderen Gasse wurde er unvermutet von einer Patrouille angehalten, die hinter einer Hausmauer verborgen gewesen war.

„Warum schlafen Sie denn nicht, Genosse?“, fragten ihn drei hochgewachsene Männer höflich, die in der Dunkelheit gleich gekleidet erschienen.

„Ich kann nicht schlafen…“, bekannte Banow.

„Arbeiten Sie morgen etwa nicht?“

„Doch“, sagte der Schuldirektor.

„Und wie werden Sie dann arbeiten, wenn Sie sich nachts nicht ausruhen?“, fuhren die Patrouillierenden fort ihn auszuhorchen.

In Gedanken hatte Ihnen Banow bereits recht gegeben, und deshalb hatte er es nicht eilig, auf die letzte Frage zu antworten.

„Ich werde wohl gleich schlafen gehen!“, sagte er nach einer halben Minute.

„Na eben!“, billigte einer der Männer seine Worte. „Wir arbeiten schließlich jetzt und schlafen dann am Morgen! Na dann, gute Nacht!“

„Nacht!“, antwortete ihnen Banow, und nachdem er sich orientiert hatte, ging er zu seiner Wohnung, die sich ganz in der Nähe befand.

Tatsächlich – die Hauptstadt schlief tief und fest: kein einziges Licht in einem Fenster, kein einziger Passant, kein einziges Auto auf dem Pflaster der Straßen.

* * *

Einige Tage vergingen ruhig. Auch der freie Sonntag verstrich unbemerkt. Am Montag bat Wasilij Wasiljewitsch Banow Vizedirektor Kuschnerenko, den Schüler der Klasse 7B, Robert Rojd, neuerlich in sein Büro zu rufen.

Sie begegneten einander bereits wie Bekannte und der Schuldirektor konnte bei dem rothaarigen Jungen keinerlei Verlegenheit mehr feststellen. Er trat leise ein und nahm auf dem ihm angebotenen Stuhl Platz, mit dem Gesicht zum Direktor und zu Dserschinskij, dessen Bild an der Wand hing.

„Wie geht’s?“, fragte Banow den Schüler munter. „Wie steht’s zu Hause?“

„Gut“, antwortete Robert.

Durch die Einsilbigkeit des Jungen nicht zufriedengestellt, beschloss der Direktor, direkt nachzufragen:

„Und wie geht’s deiner Mama?“

„Auch gut“, antwortete der Schüler träge.

„Und… träumt sie denn jetzt?“, Banow sprach nun in vollkommener Offenheit von dem, was ihn am meisten interessierte.

„Ich glaube nicht…“ Der Schüler sah zur Decke, so als ob er versuchen würde, sich an etwas zu erinnern.

Die Antwort erfreute den Schuldirektor nicht. Sie bekümmerte und beunruhigte ihn vielmehr.

„Dann träumt sie also überhaupt nicht?!“ Der Schuldirektor wollte es trotz allem noch einmal genau wissen.

Nun schüttelte der Junge bereits überzeugt den Kopf.

„Und sag, Robert, ein Telefon habt ihr wohl daheim, oder?“, fragte Banow mit finsterer Miene.

„Jaaa…“

„Dann gib mir doch die Nummer!“

„Drei null sechs vierundsiebzig…“

Der Schuldirektor notierte die Ziffern auf dem zusammenklappbaren Tischkalender. Danach sagte er mit einem Blick auf den Jungen:

„Gut, du kannst gehen!“

Wieder allein mit dem Dserschinskij-Bild und mit seinen eigenen Gedanken begann Banow, die Arbeitszeit vorübergehen zu lassen. Die Zeit verging langsam.

Dann klopfte es an der Tür. Der Mathematiklehrer Subrowkin kam herein, mit Verbesserungsvorschlägen für den Unterricht in seinem Gegenstand. Die Vorschläge waren in gedrängter Schrift auf zehn linierte Zeichenblätter geschrieben. Banow versprach, es sich anzusehen.

Weitere Zeit verging damit, Wasser zu kochen und Tee zuzubereiten. Und auf diese Weise schwand der Arbeitstag unter Kleinigkeiten dahin, in länger oder kürzer dauernden Zeitabschnitten, und rieselte wie Sand durch eine Sanduhr, und erst da fasste Wasilij Wasiljewitsch ein wenig Mut, so als würde er mit feinen Nerven erspüren, wie sich die Schule leerte, wie Schüler und Lehrer sie verließen, und auch die Angestellten der Schulkantine, die Krankenschwester Valentina und alle anderen, die der bedeutenden Sache „Bildung“ dienten. Und schließlich blieb abends nur ein einziger Mensch in der Schule, und dieser Mensch war der Direktor, der Hausherr der Schule, Genosse Banow.

Nachdem er hinuntergegangen war und überprüft hatte, ob alle weg waren, und der Putzfrau Petrowna dabei nicht einmal erlaubte, den Boden im Leninsaal fertig aufzuwischen, schloss er die Schule von innen ab, kehrte zurück in sein Büro und wählte die Telefonnummer der Rojds. Lange nahm dort niemand den Hörer ab. Dann brüllte eine unangenehme, hohe männliche Stimme, die offensichtlich dem Nachbarn Schkarnizkij gehörte:

„Was? Hallo? Wer ist da?“

„Rufen Sie Ihre Nachbarin!“, sagte Banow fordernd und scharf in den Hörer, und er empfand noch größere Abneigung gegen dieses schmierige Subjekt, das mit einer solch ungewöhnlichen Frau in einer Kommunalwohnung lebte.

Offenbar wurde der Hörer am anderen Ende grob auf irgendeine hölzerne Fläche fallengelassen – in Banows Ohr ertönte ein derartiges Poltern, dass er den Hörer weiter weg hielt. Aber da fragte schon eine andere, eine etwas erkältete, aber angenehme und bekannte weibliche Stimme:

„Hallo? Hallo? Sprechen Sie!“

„Guten Tag!“, hauchte Banow in den Hörer.

„Wer ist da? Mit wem spreche ich?“ Seine Gesprächspartnerin erkannte ihn nicht.

„Hier ist der Schuldirektor… Genosse Banow…“

„Aaah! Guten Tag! Ist irgendetwas mit Robert?“

„Aber nein… Ich wollte nur… ich wollte Sie hierher zu einem Gespräch einladen…“

„Wann?“, fragte die Frau bereitwillig.

„Na… wenn es möglich ist, dann heute…“

„Aber es ist bereits Abend!“

„Das macht nichts. Ich bin immer bis spätabends hier…“

„Gut…“, sagte Klara Rojd. „Ich mache nur noch das Abendessen für Robert, dann komme ich.“

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, empfand Banow Erleichterung. Draußen begann es gerade erst zu dämmern, doch die Stadt beruhigte sich bereits. Die Musik der Automotoren – noch vor einer Stunde monoton und beständig – geriet ins Stocken.

Wenig später ertönte von unten die laute Dienstglocke und Banow beeilte sich, fast wäre er gelaufen.

Klara trug eine leichte Jacke und einen engen, strengen Rock, der bis zu den Knien reichte. In der Hand hielt sie ein kleines schwarzes Täschchen und sie hatte dieselbe Frisur wie beim ersten Mal.

„Hier bin ich“, sagte sie, als Banow ihr die Tür öffnete.

Sie gingen hinauf in den ersten Stock und betraten das Büro. Dort setzte sich Klara Rojd auf den Besucherplatz und sah den Schuldirektor fragend an.

Er setzte sich ebenfalls auf seinen Stuhl und lächelte ihr zu.

„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so spät hierher gebeten habe“, begann Banow. „Ich habe Robert gesehen… und er hat mir gesagt, dass Sie nach wie vor keine Träume haben… Ich wollte Sie fragen, ob das stimmt?“

„Es stimmt“, gestand Klara mit trauriger Stimme.

„Sie sind doch eine junge, schöne Frau, Sie haben noch das ganze Leben vor sich.“ Da geriet Banow aus dem Konzept, da ihm in den Sinn kam, dass die Phrase „das ganze Leben noch vor sich“ doch etwas übertrieben war. „Auf jeden Fall… Es ist so wichtig für Robert, dass jemand in ihm Begeisterungsfähigkeit, Optimismus und Hoffnung bestärkt.“

„Aber ich kann eben nicht träumen“, seufzte Klara tief. „Ich hab’s verlernt. Warum können Sie das nicht verstehen?!“

„Sie können nicht?“, fragte Banow nach. „Dann lassen Sie es uns gemeinsam versuchen! Ja? Ich mache nur noch Tee, das ist hier schließlich keine Gemeinschaftsküche!“

Er stand auf, setzte den Teekessel auf den Petroleumkocher, stellte die Flamme ein und schüttelte das Petroleum ein wenig. Schweigend beobachtete Klara Banows exakte Bewegungen, seine innere Organisiertheit, die sogar aus seinen Augen sprach, diesen ungewöhnlichen, tiefen, schlammgrünen Augen. Und offensichtlich konnte Banow spüren, dass irgendetwas an ihm Klara gefiel. Das bestärkte sein Selbstvertrauen, und während er den Aufguss in den kochenden Teekessel leerte, war er bereits davon überzeugt, dass er dieser Frau beibringen würde, wieder zu träumen und glücklich zu sein, dass er also einen Menschen für das Land retten würde.

Banow holte zwei Blechtassen aus der Tischlade, ergriff mit der anderen Hand den heißen Teekessel, sah mit festem Blick auf Klara und sagte:

„Und jetzt kommen Sie zum Teetrinken mit aufs Dach!“

Obwohl der Vorschlag der Frau dummdreist erschien und irgendwie unpassend für ihr Alter und auch für das Alter des Gastgebers, erhob sie sich dennoch gehorsam und ging zur Tür, wobei sie ihr kleines, schwarzes Täschchen auf dem Tisch des Direktors zurückließ.

Die letzte Treppe, die direkt zum Ausgang aufs Dach führte, war besonders steil. Dort ließ Klara Banow den Vortritt, nahm ihm die beiden Tassen zur Unterstützung ab, hob dann ihren engen Rock hoch und stieg hinter dem Direktor hinauf.

Das Dach war sanft abfallend, sodass man überall sitzen konnte, aber sie ließen sich auf dem höchsten Punkt nieder, auf dem Dachfirst. Sogleich schenkte Banow heißen Tee in die Tassen ein und stellte den Teekessel auf seine Schuhe, ohne sich auf etwas abzustützen – der Tee war zu heiß, um ihn in den Händen zu halten, und wenn man ihn einfach aufs Dach gestellt hätte, dann wäre er ganz gewiss hinuntergerutscht. Die Schuhe waren aus dickem Schweinsleder und ließen die Wärme kaum durch.

Klara gelang es, ihre heiße Tasse auf dem Dachfirst zu platzieren, und sie hielt sie nur leicht mit zwei Fingern am immer noch glühenden Henkel fest.

„Das macht nichts, hier kühlt der Tee schnell ab!“, beruhigte sie Banow, der bereits an die Temperatur des Tees gewöhnt war und seine Tasse gelassen in der rechten Hand hielt.

„Dort drüben“, fuhr er fort und zeigte mit der Hand in eine Richtung, „dort konnte man früher den Kreml sehen, den Erlöserturm. Ich habe früher unsere Vorzugsschüler abends oder tagsüber heraufgebracht. Vor einem Jahr zum letzten Mal.“

„Robert hat mir davon erzählt, er hat ja auch zu den Besten gehört“, sagte Klara.

„Und wie schaut’s jetzt bei ihm aus?“, fragte Banow, der sich selbst wunderte, dass er sich nicht früher über Roberts Noten erkundigt hatte.

„Schlechter. Sogar Dreier tauchen jetzt auf.“

„Da sehen Sie“, sagte der Schuldirektor vorwurfsvoll. „Die schulischen Leistungen hängen nämlich von solchen Kleinigkeiten ab! Sie haben ja gar keine Vorstellung. Sogar von der Arbeit der Schulkantine hängen sie ab. Ich habe das überprüft!“

Klara seufzte so tief, dass Banow sofort verstummte. Er sah die Frau aufmerksam an und, obwohl es dunkel war und sie fast einen Meter von ihm entfernt saß, bemerkte er auf ihrem Gesicht Missvergnügen.

Bin ich denn wirklich so ein Langweiler?, kritisierte sich Banow in Gedanken selbst und sagte sogleich mit fröhlicherer Stimme:

„Übrigens hat Robert gesagt, dass Sie davon geträumt haben, Pilotin zu werden und Fallschirm springen wollten! Wir können doch davon träumen, dass ich gemeinsam mit Ihnen Fallschirm springe!“

„Na gut!“, stimmte Klara zu, und es kam Banow vor, als ob sich ihre Stimme belebte.

„Das ist doch nicht schwer! Wenn Sie das wirklich wollen, dann könnte man bestimmt bei den Fluggesellschaften Osoawiachim oder Dobrolet herausfinden, wie man zum Fallschirmspringen kommt. Soll ich es herausfinden?“

„Ja…“, sagte die Frau.

„Und ich habe davon geträumt, in der Kavallerie zu kommandieren… Ich mochte Pferde schrecklich gerne. Es ist eigentlich furchtbar, das einzugestehen, aber damals mochte ich Pferde mehr als Menschen. Ich beobachtete sie nämlich und habe kein einziges Mal gesehen, dass ein Pferd ein anderes umbringen wollte. Ich stellte mir also vor, wie ich vorausreite und Hunderte Pferde und Reiter hinter mir herjagen. Das ist natürlich so eine Sache, obwohl ich Pferde mehr mochte als Menschen, wollte ich mir nicht einfach eine Herde von Pferden hinter mir vorstellen. Hunderte Reiter sind eine andere Sache. Aber aus mir ist kein Kommandant geworden. Und so träume ich jetzt davon, Pferde zu halten…“

„Und wo wollen Sie sie unterbringen?“, wunderte sich Klara.

„Das ist natürlich schwierig. Aber ich kenne einen Ort im Stadtzentrum, einen wundervollen Platz… dort haben Menschen Pferde… Vielleicht kann ich Ihnen diesen Ort einmal zeigen… Ich weiß es nicht. Dort ist man sehr streng mit Besuchern. Und Sie, mögen Sie Pferde?“

„Pferde? Ja“, nickte Klara. „Als Kind hat mir mein Großvater beigebracht, wie man richtig auf ein Pferd aufsteigt, wie man im Galopp reitet…“

Klara erzählte und erzählte. Schon kam sie auf ihren Großvater zu sprechen, der Bergbauingenieur gewesen war, und bald erinnerte sie sich an einen Dampfer auf der Wolga – auf diesem Dampfer war ihre Familie aus Kasan gekommen – und ihre Stimme, die nun ganz lebhaft war, klang so süß und angenehm, wie nur die Stimme eines lebensfrohen Menschen klingen konnte. Banow hörte ihr zu und war wie berauscht. Seine Freude war aufrichtig, und sie vermischte sich nur ein klein wenig mit seinem Stolz darauf, dass es ihm trotz allem gelungen war, diese Frau zum Reden zu bringen, deren Leben in letzter Zeit so schwer gewesen war, und dass er, wenn er sie schon nicht aufheitern konnte, ihr doch Optimismus zu vermitteln vermocht hatte, ohne den in diesem riesigen Land ein richtiges Leben unmöglich war.

Dann entstand eine kleine Pause – sie tranken den süßen Tee, der nun schon ein wenig kalt geworden war, und das erinnerte Klara wiederum an die große, breite Veranda einer alten Villa, die entweder ihrem Onkel oder einem anderen Verwandten gehört hatte. Auch dort hatten sie Tee getrunken, und der Tisch hatte sich unter zwei Dutzend unterschiedlicher Törtchen gebogen…

Der Abend war frisch, und die Sternschnuppen, die vom Himmel herabsanken, leuchteten unterschiedlich hell.

Plötzlich war von oben her ein Echo zu hören, schallend und gewaltig, und hierauf ertönte vor diesem Hintergrund ein noch lauterer Ton, der Klara an das Läuten von Glocken erinnerte. Der Ton war ihr vertraut, aber so laut hatte sie ihn noch nie gehört, und deshalb drehte sie sich zu Banow um und fragte ihn etwas, aber wegen dieses Tons, der die Luft erfüllte, verstand er sie nicht, und so beugte er sich in ihre Richtung und bat sie, ihre Frage noch einmal zu wiederholen. Sie beugte sich vor, um sie zu wiederholen, und so kamen sich ihre Lippen nahe und jeder spürte den warmen Atem des anderen. Das dauerte vielleicht eine Minute oder zwei, und beide hielten den Atem an und sahen einander an, aber keiner konnte sich dazu entschließen, sich auch nur einen Zentimeter weiter nach vorne zu neigen. Und dann sprach Banow, als er einen fast unmerklichen Moment der Stille zwischen den Glockenschlägen fand. Er sprach so zärtlich, wie man sonst ganz andere Worte ausspricht: „Das ist die Turmuhr… Sie schlägt Mitternacht.“

Klara wich ein wenig zurück, aber nicht, weil sie zur Seite rücken wollte, sondern wegen eines unangenehmen Gefühls im gebeugten Rücken. Banow richtete sich auf, ohne den Blick von dieser schönen Frau abzuwenden. Und die Turmuhr tönte, sie schlug, und die beiden auf dem Schuldach lauschten ihrem Glockenschlag und sogen diesen erstaunlich frischen Abend in sich auf, erfreuten sich am Licht in den wenigen erleuchteten Fenstern, hinter denen sich Menschen befanden, die sie nicht kannten, gute und ehrliche Menschen, die sich auf den Schlaf vorbereiteten.

Den beiden aber war noch ein halber Teekessel mit süßem Tee und der ganze Sternenhimmel geblieben, der so schön war, als wäre er für eine Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft speziell angefertigt.

Die Stadt schlief ein, und die Musik der Automotoren war nirgends mehr zu hören. Die Fenster wurden dunkel. Von unten drang das Rauschen der Blätter herauf.

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