Kapitel 16

Mark trat gleich als Erstes auf den Balkon seines Hotelzimmers hinaus und machte einen tiefen Atemzug – vor ihm toste das Kaspische Meer in schaumgekrönten Konvulsionen. Der feuchte und von Salz gesättigte Wind berührte warm sein Gesicht.

„Das ist hier also der Winter?“, überlegte Mark Iwanow lächelnd. „Ja, da kann man nichts sagen!“

Direkt auf dem Balkon an der Außenseite des Fensters hing ein Thermometer. Mark warf einen Blick darauf. Die rot gefärbte Alkoholsäule stand auf sechzehn Grad plus.

Vom Hotel bis zum Meer war es nicht mehr als ein Kilometer. Jetzt über den menschenleeren Strand spazieren! Aber das ging nicht. In einer halben Stunde würde ein Auto von der Verwaltung der Erdölleitung kommen. Dann musste er zu seinem Auftritt fahren. Kusma hielt ihn in letzter Zeit immer wieder zum Besten, aber schließlich konnte man von einem Vogel nichts Unmögliches verlangen. Er kannte schließlich schon an die vierzig Gedichte, also war es nicht verwunderlich, wenn er sie aus menschlicher Sicht unpassend vortrug. Vor dem Fest in Kachowka hatten sie das „Lied über Kachowka“ eingeübt, jedoch hatte er es bei der Baufirma Dnjepostroj ins Mikrofon gesprochen, in Kachowka hingegen hatte er die Zuhörer mit einem Gedicht von Majakowskij erfreut. Das Erstaunlichste daran war, dass Mark sich nicht erinnern konnte, wann und zu welchem Zweck er dieses Gedicht mit dem Papagei einstudiert hatte. Überhaupt kam es Mark so vor, als ob sie es gar nicht gelernt hätten, obwohl sich der Papagei wohl kaum selbst daran gemacht haben konnte, Majakowskij auswendig zu lernen?! Der Papagei war schon alt, es war schwierig mit ihm. Und sogleich erschrak Mark bei dem Gedanken, dass der Vogel sterben könnte. Was würde er dann machen? Selbst etwas vortragen?! Gedichte kannte er selbstverständlich viele, aber in jedem Klub gab es einen eigenen Deklamator oder Rezitator, und Mark würde man nicht hören wollen…

„Vielleicht sollte ich jetzt rauchen?“, dachte Mark.

Unlängst hatte er Zigaretten geschenkt bekommen, nach dem Auftritt im Chasawjurtowskij-Bezirk in Dagestan. Er selbst hatte nie geraucht.

Und auch jetzt rauchte er nicht. Er beschloss, das ansprechende Zigarettenpäckchen mit dem ausländischen Namen dem nächstbesten netten Menschen zu schenken.

Er kehrte ins Zimmer zurück.

Nun war ihm ein wenig kalt, schließlich war er nur in Hosen und dem Hemd für den Auftritt auf den Balkon gegangen. Das milde Klima von Baku war trügerisch.

„Nun gut, ich muss Kusma füttern und ihm zu trinken geben“, dachte Mark.

Nachdem das Mittagessen für den Papagei auf dem Schreibtisch des Zimmers angerichtet war, ließ sich der Künstler Iwanow auf dem kleinen Sofa nieder. Er wurde nachdenklich: Er hatte Kornilows Gedicht „Schaukeln auf dem Kaspischen Meer“ mit Kusma doch hoffentlich nicht umsonst gelernt?! Schließlich hatten sie es doch ganz bewusst erst vor zwei Tagen eingeübt, um die Chancen zu vergrößern. Und dennoch könnte es passieren, dass der dumme Vogel herging und das „Lied über Kachowka“ oder etwas ganz anderes vortrug.

Mark seufzte. Er sah auf die Uhr.

Er hatte keinen Hunger. Umso mehr, als er wusste, dass es nach dem Auftritt ein Bankett geben würde. Der Auftritt fand im Rahmen einer Feier statt – die neue Erdölleitung Baku-Batum war fertiggestellt worden. Sie hatten ihm den gesamten Bericht zugesandt, damit er wusste, wohin und aus welchem Anlass er zu dem Auftritt fahren würde.

„Der Transport von Erdöl durch die Erdölleitung kommt halb so teuer wie der mit der Bahn.“ Mark wiederholte für alle Fälle den auswendig gelernten Hauptgedanken des Berichts.

Unten hupte ein Auto.

Er eilte auf den Balkon hinaus.

Man war gekommen, aber nicht seinetwegen. Sondern, um irgendeinen behäbigen Georgier abzuholen, der auf dem Balkon eine Etage tiefer stand. Der Chauffeur winkte ihm mit der Hand zu und der Dicke winkte ebenfalls. Dann hörte man das Schloss seiner Balkontür zuschnappen.

* * *

Sie kamen gegen vier Uhr bei der Verwaltung der Erdölleitung an.

Isa Ajsamow, Parteisekretär der Pipeline, stellte sich als sehr kluger und angenehmer Mensch heraus. Er hörte Iwanows Bitte aufmerksam zu, verstand alles und machte alles, so wie der Künstler es wünschte.

Der Künstler hatte ihn nämlich gebeten, ein paar Worte vor dem Auftritt zu sagen und den versammelten Arbeitern der Erdölleitung und anderer Werke zu erklären, dass der Auftritt des Papageis eine ernste Angelegenheit sei und man während des Auftritts nicht lachen solle. Früher einmal war über alles gelacht worden, was Papageien sagten, oder einfach nur über die Papageien an sich, auch wenn sie schwiegen. Jetzt aber ging es nicht mehr darum, der Stimme des Papageis zuzuhören, die sich natürlich von einer gewöhnlichen menschlichen Stimme unterschied, sondern dem, was der Papagei vortrug.

Der Parteisekretär Ajsamow sprach mit Eifer und untermalte seine Worte mit vielen Gesten.

Die Arbeiter nickten verständig.

Mark schaute hinter der Kulisse hervor – die Gesichter der Zuschauer gefielen ihm.

„Also, toi, toi, toi!“, flüsterte der Künstler sich selbst zu und betrat mit dem Papagei auf der Schulter die Bühne.

Das von Isa Ajsamow vorbereitete Publikum richtete seine Aufmerksamkeit auf den Künstler.

Mark berührte mit dem Finger das Mikrofon – die Technik funktionierte.

Er rückte es so zurecht, dass sich der glänzende, vergitterte Kopf des Mikrofons vor dem Schnabel des Vogels befand.

„Also, Kusma, trag vor!“, sagte Mark, warf den Kopf zurück und wandte sich ab.

Jemand verstärkte das Licht auf der Bühne.

Nach alter Gewohnheit krächzte der Papagei zuerst etwas in das Mikrofon, drehte dann den Schnabel weg, indem er mit einem Auge einen Blick auf seinen Herrn warf. Und schließlich ertönte seine seltsame, etwas schnarrende Stimme im Saal:

„…Hinter dem Heck peitscht das Wasser – salzig und grün, schießt plötzlich empor, bäumt sich auf und das Schaukeln treibt Wogen über das Kaspische Meer…“

Ein Lächeln erschien auf Marks Gesicht. Das Lächeln eines glücklichen Menschen. Nicht schiefgegangen, dachte er. Sehr gut. So müsste man es wohl auch weiterhin machen: Zwei Tage vor dem Auftritt lernen.

Im Saal blickte man den Vogel mit weit geöffneten Augen an.

Mark kniff wegen der allzu hellen Beleuchtung die Augen zusammen.

Morgen musste er nach Kiew fahren. Die Reise würde zwei oder vielleicht sogar drei Tage dauern.

Im Zug würden sie ein Gedicht über die Ukraine einstudieren.

Drei Strophen auf Ukrainisch.

Gut, dass er für heute nichts hatte auf Aserbaidschanisch lernen müssen!

„…Allein und ruhig bin ich“, fuhr Kusma fort, „und spöttisch zwink’re ich dann. Was kann er sein für mich – dieser Kaspische Ozean?…“

„Na, was für ein Kerl“, dachte Mark über den Papagei. „Gut gemacht. Also doch kein Dummkopf… Schüler können gar nicht so viel auswendig lernen!“

Die Schulter, in die sich der Papagei mit seinen kräftigen Klauen gekrallt hatte, schmerzte.

Ich werde ihm beibringen müssen, bei den Auftritten abzuwechseln, einmal auf der linken Schulter zu sitzen und das nächste Mal wieder auf der rechten, dachte Mark. Jetzt ist er an die rechte gewöhnt und martert sie ohne Ende. Ich muss einmal in den Spiegel schauen, vielleicht habe ich schon meine gerade Haltung verloren…

„…Wie Hagel fallen sie, die Sterne, und meinen: Wird Zeit, dass du schlafen gehst… Ich sehe ein schaukelndes Haus in der Ferne. Zum Teufel nochmal, ich schwanke doch selbst…“

Nachdem der Papagei die letzten Zeilen des Gedichtes vorgetragen hatte, machte Mark einen halben Schritt nach rechts, beugte sich zum Mikrofon und gab bekannt:

„Sehr verehrte Genossen, sie hörten das Gedicht ‚Schaukeln auf dem Kaspischen Meer‘ von Boris Kornilow.“

Schweigen im Saal.

Mark wurde nervös. Wollen sie etwa nicht applaudieren?, dachte er.

Die Grabesstille der schweigenden Arbeiter wurde für den Künstler unerträglich.

Wegen der hellen Bühnenbeleuchtung konnte er den Gesichtsausdruck der Arbeiter nicht gut erkennen.

Er hielt die rechte Hand wie einen Schild über der Stirn. Die erste Reihe wurde sichtbar – Ingenieure, Direktoren. Nein, Unzufriedenheit war nicht erkennbar. Stattdessen: offene Münder.

Mark konnte nicht länger auf der Bühne stehenbleiben. Er machte einen Schritt zurück und verbeugte sich leicht. Dann verbeugte sich auch Kusma, wie er es gelernt hatte und indem er seine Krallen noch fester in die Schulter drückte.

Sie gingen hinter die Kulisse.

Der Parteisekretär Ajsamow kam auf ihn zu.

„Bravo! Alle Achtung!“, sagte er lächelnd. Mark blickte ihn misstrauisch an.

„Und warum schweigt das Publikum?“, fragte er.

„Wie, es schweigt? Warum, es schweigt? Verblüfft sind alle! Ein Vogel trägt Gedichte vor!“ Mit jedem Satz zeigte die Stimme des Parteisekretärs mehr Begeisterung. „Ein Vogel trägt Gedichte vor, das bedeutet, er hat sie erlernt! Aber ein Arbeiter einer Erdölleitung liest nicht, da er ein Analphabet ist! Jetzt werden alle nachdenken. Jetzt werden sie sich schämen, nicht in die Abendschule für Arbeiter zu gehen, um Lesen und Schreiben zu lernen!“

Mark beruhigte sich.

„Nun, Genosse Künstler, gehen Sie in das Büro des Direktors, er möchte Ihnen etwas sagen und dann gibt es ein kleines Bankett, in Ordnung?!“

Im zweiten Stock befanden sich zehn Menschen im Büro des Direktors, hauptsächlich Personen aus der ersten Reihe – Mark erkannte sie wieder.

Der Direktor schüttelte dem Künstler die Hand und streichelte den Papagei.

„Wir wollen Ihnen hier den Unterschied zeigen!“, sagte der Direktor mit starkem Akzent und lenkte den Blick seines Gastes mit einer Handbewegung zum Tisch, wo zwei Glaskolben zu je einem Liter mit weiten Hälsen standen, die bis zum Rand mit Erdöl gefüllt waren, wie Mark sofort erriet.

„Das hier“, berührte der Direktor einen der beiden mit der Hand, „ist hier unser eigenes, aus Baku, und das hier kommt von den Nachbarn, aus dem Iran. Achten Sie auf das Licht!“

Und er hob beide Kolben auf Augenhöhe des Künstlers, der gegenüber von einem breiten Fenster stand.

Mark versuchte, sie zu vergleichen, aber die Flüssigkeiten kamen ihm gleich trübe vor.

„Sehen Sie, welches gesättigter und reichhaltiger ist?“, wollte der Direktor wissen.

„Ach ja“, stimmte Mark eifrig zu und dachte, dass das genügen würde.

„Natürlich!“, lächelte der Direktor. „Soviel zur Farbe. Und jetzt“, mit diesen Worten stellte der Direktor die Kolben wieder auf den Tisch vor den Künstler, „und jetzt sag mal, welches im Geschmack reichhaltiger ist, ja?“

Und der Direktor griff unerwartet heftig Marks Hand, tauchte seinen Zeigefinger in das Erdöl des linken Kolbens und steckte ihn Mark höchstpersönlich in den Mund.

Der Künstler hätte sich vor Überraschung beinahe verschluckt. Der abscheuliche, faulige Geschmack ließ ihn das Gesicht verziehen, aber da er seine Gastgeber nicht beleidigen wollte, setzte Mark mit großer Willenskraft wieder einen normalen Gesichtsausdruck auf.

„…und jetzt nehmen wir mit dem Finger der anderen Hand etwas von hier!“ Und er wiederholte das Gleiche nun mit Iwanows rechter Hand.

In Mark zog sich alles zusammen. Der Geschmack des Erdöls aus dem zweiten Kolben war gleichermaßen abscheulich.

„Nun, Genosse Künstler, sag, welches ist das bessere Erdöl?“, fragte der Direktor.

Mark konzentrierte sich wieder, drängte das unangenehme Gefühl zurück, aber er konnte sich einfach nicht erinnern, in welchem Kolben sich das Öl aus Baku befand.

„Na schön, wir verzeihen dir, bist halt kein Experte“, ließ der Direktor Gnade walten.

Die übrigen Anwesenden schwiegen herablassend.

„Erlaub uns, dir zum Andenken an deine Reise in unsere bemerkenswerte Stadt dieses Souvenir hier zu schenken!“, sprach der Direktor und gab Mark einen zugelöteten Ein-Liter-Kolben mit Erdöl, den ihm einer seiner Untergebenen gereicht hatte. Auf dem Glas des Kolbens stand mit goldenen Buchstaben „Zum Andenken an Baku“ geschrieben. Über diesen Worten kreisten zwei goldene Möwen und der obere Teil des Kolbens erinnerte an einen Leuchtturm.

Jetzt endlich ertönte Applaus, und trotz des scheußlichen Geschmacks im Mund entspannte sich Mark und lächelte.

* * *

„Du wirst allein nach Kiew fahren!“ Auf dem Weg zum Bahnhof konnte der Parteisekretär Mark eine Freude bereiten. „Erste Klasse! Na?“

„Danke!“, nickte Mark.

„Weißt du, der Direktor wollte dir den Vogel abkaufen. Er hat mich um Rat gefragt, aber als Kommunist habe ich ihm ehrlich gesagt: ‚Solche Vögel darf man nicht kaufen oder verkaufen, sie müssen dem ganzen Volk gehören!‘ Hab ich nicht recht?“

Mark nickte wieder.

Isa Ajsamow küsste den Künstler zum Abschied.

Vor dem Fenster des Abteils war es noch hell. Manchmal erschien plötzlich das Meer und Mark betrachtete es begierig. Ein Segel, Möwen im Flug, die Freiheit, fremde, weit entfernte Ufer – all diese Bilder wühlten ihn auf, ließen ihn zu einem kleinen Jungen werden.

Kusma saß im Käfig und sah ebenfalls aus dem Fenster.

Als es dunkel wurde, schaltete Mark das Licht ein. Er beschloss, sich umzuziehen und das Rasiermesser und das Rasierwasser herauszuholen. Dazu legte er den Koffer auf den freien Diwan daneben und öffnete ihn. Seine Sachen hatte er unmittelbar vor der Abreise gepackt – da hatte ihm der Kopf noch vom Bankett wehgetan, und so musste er nun alles umpacken, um die benötigten Sachen zu finden.

Aha, hier war der Pyjama! Mark nahm ihn in die Hand – er war ungewohnt schwer. Als er begann, ihn in der Luft auseinanderzuwickeln, fiel der geschenkte Glaskolben mit dem Erdöl aus Baku auf den mit einem orientalischen Teppich bedeckten Boden.

Mark erstarrte. Er sah nach unten. Die Glasscherben glitzerten und vor seinen Augen wurde der Teppich dunkel, während er sich mit dem Inhalt vollsog.

In seinem Mund kratzte es.

Kusma sah sich um und blickte mit dem linken Auge seinen Herrn an.

Der drückende, faulige Geruch des Erdöls erfüllte das Abteil.

Mark versuchte, das Fenster zu öffnen, aber offenbar hatte man für den Winter den Griff zum Öffnen abgeschraubt.

Jemand klopfte an die Tür.

Erschrocken verriegelte Mark das Schloss und fragte dann:

„Wer ist da?“

„Wünschen Sie Tee?“, erklang eine männliche Stimme mit bekanntem Akzent.

„Nein!“, rief Mark. „Ich schlafe schon!“

„Gute Nacht!“, sagte die Stimme und ertönte etwas leiser gleich noch einmal, wahrscheinlich an der Nachbarstür: „Wünschen Sie Tee?“

„Ja“, antwortete eine angenehme weibliche Stimme. „Einmal Tee und Kekse!“

Mark saß auf dem Diwan und dachte nach. Er dachte darüber nach, dass ihn Unannehmlichkeiten wegen der Beschädigung des Teppichs erwarten würden, und dass er am besten die Tür bis Kiew nicht öffnete, dass es am besten wäre, an irgendeiner Station auszusteigen und zwar so, dass ihn der Schaffner nicht sehen würde. Er dachte an diesen schrecklichen Geruch, in dem man jetzt würde schlafen müssen.

Die Nacht versprach stickig zu werden.

„Ob Kusma das aushält?“, dachte Mark nervös und sah den Vogel an.

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