Kapitel 19

Die blaue Polarnacht, die von den buntfarbenen Himmelsbändern erleuchtet wurde, dauerte fort, und der Propellerschlitten durchflog sie, in dem der Komsomolze Zybulnik saß und fröstelte. Er ermahnte sich selbst zur Munterkeit und sah dabei von Zeit zu Zeit auf das Armaturenbrett. Auf dem Sitz daneben döste der Volkskontrolleur Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin. Er döste vor sich hin und hörte im Schlaf das Bellen seines Hundes Mitka, und aus diesem Gebell tauchte, so als wäre es gar kein Geräusch, sondern eine besondere Art von warmem Nebel, das liebe und einfache Gesicht seiner Frau Manjascha auf. Sie blickte ihren Mann an und lächelte ihr breites bäuerliches Lächeln. Dieses Traumbild brachte auch den Volkskontrolleur zum Lächeln, er lächelte mit geschlossenen Augen, worauf der Komsomolze Zybulnik das Gesicht seines Passagiers mit Interesse betrachtete und dabei natürlich an etwas anderes dachte.

Es war unklar, wie lang sie schon unterwegs waren. Zybulnik selbst war schon im Begriff, am Steuer einzunicken, und wenn dies eine Straße gewesen wäre und keine grenzenlose, schneebedeckte Ebene, dann wäre der Propellerschlitten wahrscheinlich entweder in eine Hütte oder in einen Laternenmast gekracht. Aber diese Gefahr bestand hier nicht. Schließlich seufzte der Komsomolze erleichtert und drosselte die Geschwindigkeit des Propellerschlittens. Auch das Heulen des Motors wurde leiser und vermutlich erwachte Dobrynin deshalb, rieb sich die Augen und blickte zuerst zur Seite und dann nach vorne.

Vor ihnen war ein kleines, einsames Häuschen mit einer roten Fahne auf dem Dach aufgetaucht.

„Was ist das, ein Dorf oder eine Stadt?“, fragte Dobrynin, der sich vergeblich an die jakutischen Definitionen für Wohngebiete zu erinnern versuchte.

„Eine Vorstadt!“, antwortete Zybulnik, und seine Stimme klang in den Ohren des Volkskontrolleurs ein wenig unzufrieden.

Der Komsomolze fuhr den Propellerschlitten bis direkt an die Schwelle heran, hielt ihn dort an, stellte den Motor ab und sprang in den Schnee.

„Die Schweine!“, murmelte er für sich, als er zur Tür ging.

„Wer?“, wollte Dobrynin wissen.

„Das weiß der Teufel! Komm rein!“ Und der Komsomolze öffnete die Tür und ließ Pawel den Vortritt.

Das Häuschen bestand aus zwei Zimmern und war kalt. Auf dem Boden lagen Papierfetzen herum, irgendein Abfall.

Zybulnik, der hinter dem Kontrolleur hereingekommen war, stürzte plötzlich nach vorn, lief zu einem kleinen Nachtkästchen, das aus einer Armeekiste hergestellt war, riss das Türchen auf und fluchte laut, als er auf das leere Fach starrte.

„Was ist los?“, fragte Dobrynin und trat hinter den Komsomolzen.

„Geklaut!“, antwortete Zybulnik kurz angebunden. „Die Hunde müsste man finden und erschießen!“

„Und was haben sie geklaut?“

„Drei leere Hefte und Komsomol-Beiträge.“

„Wer kann denn das gewesen sein?!“, wunderte sich der Volkskontrolleur laut.

„Wer, wer! Die einheimischen Eskimos!“, stieß der Komsomolze hervor. „Na, denen werde ich’s zeigen!“

Nach ein paar Minuten hatte sich Zybulnik ein wenig beruhigt, heizte den Ofen ein, der von der gleichen Art war, wie er in dem Häuschen am Flugplatz gestanden hatte, also ein schlichtes Benzinfass. Aus dem zweiten Zimmer brachte er zerbrochene Holzbretter herein.

„Sie werden hier schlafen.“ Er zeigte Dobrynin ein etwas kurz geratenes Holzbett, das, wie es Dobrynin schien, ebenfalls aus Armeekisten bestand, und das mit verschiedenen Schablonenzeichen und langen Reihen geheimer Ziffern versehen war.

Die Luft im Häuschen wurde allmählich wärmer. Zybulnik legte sich auf das zweite, ebenso kurze Bett und, nachdem er erklärt hatte, dass er ein wenig schlafen würde, begann er zu schnarchen.

Dobrynin legte sich ebenfalls hin, aber er war nicht müde, offensichtlich hatte er sich im Propellerschlitten zur Genüge ausgeruht. Außerdem hielt ihn die Vorahnung von seinem baldigen Arbeitsbeginn wach und regte seine Gedanken und Fantasie an, obwohl er sich überhaupt nicht vorzustellen vermochte, auf welche Weise er mit der Erfüllung seiner Aufgabe an diesem wüstenähnlichen Ort im Norden beginnen sollte.

Wie üblich in Momenten der Ruhe erinnerte er sich an das von Genosse Kalinin als Geschenk erhaltene Büchlein und ging sogar auf den Flur, wo er den Reisesack mit den Sachen aus der Heimat gelassen hatte, nahm ihn mit und stellte ihn auf den Holzboden neben sein Bett. Aber da überkamen ihn wieder Gedanken und Erinnerungen, und so nahm er das Büchlein nicht aus dem Sack und beschloss, es ein andermal zu lesen, wozu er wahrscheinlich bald Gelegenheit haben würde.

Er streckte sich wieder aus, legte seinen Kopf auf das harte Kissen, das mit rauem Leinen bedeckt war, und kniff die Augen fest zusammen, damit es ihm leichter fiele, an die vergangene Zeit in familiärer Wärme zu denken, die ihn vor nunmehr vielen Jahren erfreut hatte, wie ihm jetzt schien, auch wenn es in Wirklichkeit noch gar nicht so lange her war. Allein die physische Entfernung zwischen dieser Vergangenheit und seiner heutigen Lage im Norden ließ sich in riesigen, geradezu unvorstellbar großen Zahlen messen, die man nur mit jener Reihe von Zahlen vergleichen konnte, die auf den Kisten für allerlei Militärausrüstung zu finden waren, die Dobrynin hier so häufig begegneten.

Nach kurzer Zeit erwachte Zybulnik, stand auf, ging im Zimmer umher und machte zur körperlichen Ertüchtigung sogar einige Kniebeugen.

„Also“, sagte er voller Energie und mit erholter Stimme. „Trinken wir Tee und dann wollen wir uns die Stadt einmal ansehen!“

Dobrynin, der die Veränderung im Ton des Komsomolzen bemerkte, freute sich und streckte und reckte sich gleichfalls, um seine Lebensgeister zu wecken.

Der Tee war schnell aufgebrüht – der Kocher des Komsomolzen funktionierte ausgezeichnet und summte nur eine Spur leiser als der Propellerschlitten, wobei er bläuliche Petroleumflammen erzeugte, die gierig über den geschwärzten Boden des lange nicht mehr geputzten kupfernen Teekessels züngelten.

Kein Hausmann!, dachte Dobrynin, als er einen Blick auf den Teekessel warf und sich an den Kessel in der Hütte am Flugplatz erinnerte, der wie ein Spiegel geglänzt hatte.

Zybulnik goss bereits Tee in zwei einfache Soldatentassen, die auf jenem Nachtkästchen standen, das jemand in Abwesenheit des Hausherrn geplündert hatte.

„Hast du etwas zum Tee?“, fragte er. Dobrynin dachte nach und da fiel ihm ein, dass in seinem Sack nur die beiden angebissenen Zwiebackstücke übrig waren.

„Nein. Wir haben alles am Flugplatz gegessen…“

„Na schön.“ Der Komsomolze winkte bescheiden ab und zog unter seinem Bett einen kleinen Eisentresor hervor, öffnete ihn mit einem dicken Spezialschlüssel und daraufhin erschienen auf dem Nachtkästchen eine Dose mit Zuckerstücken und eine Schachtel Kekse, auf der ein Rotarmist auf einem Wachposten abgebildet war. Die Kekse hießen auch so – „Auf dem Posten“, und ihr Geschmack erinnerte an den staatlichen Zwieback, obwohl sie wesentlich mürber waren.

„Aaach!“, seufzte der Komsomolze, als er von dem Keks abbiss, und er schüttelte den Kopf, als ob er sich etwas von der Seele reden wollte.

„Schwer ums Herz?“, fragte Dobrynin, der etwas Bekanntes aus diesem Seufzer heraushörte.

„Jaaa“, zog Zybulnik in die Länge. „Man hat’s nicht leicht.“

„Welche Schwierigkeiten gibt es denn hier?“

„Verschiedene“, antwortete der Komsomolze. „Im Grunde besteht die Schwierigkeit natürlich in der Arbeit mit der einheimischen Bevölkerung. Sie sind schließlich Wilde. Nur zwei von ihnen sprechen eine einigermaßen menschliche Sprache, also Russisch, einer davon ist ein Schamane, der hiesige Pope, also ein Feind der Arbeiterklasse, und der zweite ist einfach ein waschechter Verräter. Und die anderen: eingeschüchterte, ungebildete Leute und fast alles Diebe!“

„Jaaa…“, sagte diesmal Dobrynin langsam, verstand Zybulnik und erinnerte sich an seine Heimatkolchose, in der allerdings alle Russisch sprachen.

„Ich bin schon das zweite Jahr hier“, fuhr der Komsomolze nach einem weiteren Seufzer fort.

„Und was ich schon alles gemacht habe! Fast nicht zu glauben! Karten von gefährlichen Orten erstellt, zwei Götter ausgetauscht…“

„Was?“, fragte Dobrynin nach.

„Ach“, winkte der andere ab. „Auf dem Weg in die Stadt zeige ich es dir, es ist schwierig zu erklären. Nimm dir Zucker, sag nur Kriwizkij nichts davon!“

„Warum, nimmt er ihn dann?“, wollte Dobrynin wissen.

„Natürlich nimmt er ihn.“ Zybulnik nickte. „Der Schamane liebt Zucker ganz fürchterlich. Und er ist doch jetzt Kriwizkijs Vertreter.“

„Was?!“, rief der Volkskontrolleur aus. „Der hiesige Pope ist der Vertreter des leitenden Kommunisten der Stadt?!“

„Ja“, sagte Zybulnik. „Was soll man machen? Es gibt hier keinen zweiten Kommunisten innerhalb der nächsten tausend Kilometer. Wir haben zwar drei Völker des Nordens in die Partei aufgenommen, also jene, die hier in der Nähe wohnen, aber die haben keinen Tau von Russisch und außerdem sind das alles Diebe. Und auf den Schamanen hören sie wenigstens. Was er ihnen sagt, das machen sie. Und er sagt ihnen das, was Kriwizkij ihm sagt.“

„Aha“, begriff Dobrynin. „Das bedeutet, der Schamane ist der Vertreter der einheimischen Intelligenzija, auf die man sich verlassen muss?!“

„Ja, genau!“, bestätigte der Komsomolze Dobrynins Gedanken. „Und trotzdem ein Schweinehund! Und wie er Zucker mag! Kein Pferd auf der Welt mag Zucker so wie er!“ Der Gedanke an sein Pferd wischte das Lächeln von Dobrynins Gesicht und er erinnerte sich an Grigorij, der auf dumme und unverdiente Art im Schnee dieses grausamen Nordens umgekommen war.

„Es ist also besser, vor ihm nicht von Zucker zu sprechen.“

„Und von wo bist du bis hierher gekommen?“, fragte Dobrynin den Komsomolzen, obwohl er in Gedanken immer noch beim tragischen Schicksal seines Pferdes war.

„Ich? Aus der Ukraine. Aus dem Schytomyr-Gebiet. Dort haben wir eine reiche Erde! Nicht so wie hier – wohin du spuckst – überall Schnee. Nicht einmal richtig ausspucken kann man!“

„Ich komme aus dem Manajenkowsker Gebiet…“, sagte Dobrynin. „Dort habe ich eine Frau, zwei Kinder und einen Hund.“

Daraufhin tranken sie schweigend Tee. Offensichtlich schwelgte jeder in seinen Erinnerungen an die Vergangenheit und vermied, allzu rasch zu den gegenwärtigen Problemen und Sorgen zurückzukehren. Immer wieder rollte Zybulnik die Unterlippe ein, so als ob er darauf beißen wollte, und Pawel verstand, dass der Komsomolze etwas bedauerte oder über etwas traurig war, aber er wollte nicht nachfragen. Schließlich bedauerte auch Dobrynin etwas, obwohl dieses Bedauern unvernünftig und unnötig war, weil er eigentlich nur bedauern konnte, dass er seine Familie für eine vom Heimatland nicht näher bestimmte Zeit verlassen hatte.

„Also, was ist?“ Zybulnik hatte seinen Tee getrunken und stand auf. „Fahren wir?! Unterwegs zeige ich dir einen interessanten Ort.“

Bevor sie hinausgingen, legte der Komsomolze den Zucker, die nicht leer gegessene Schachtel Kekse und die Dose mit dem Tee in den Tresor, verschloss ihn mit dem dicken, kurzen Schlüssel und schob ihn unter sein Bett.

Dobrynin ergriff den Reisesack und sie setzten die Reise fort. Wieder heulte der Motor und pfiff der Propeller, während er die frostige Luft durchschnitt. Der Propellerschlitten sauste unterhalb der leuchtenden Bänder, die sich am Nordhimmel bewegten, über den glatten Schnee und gehorchte dabei Zybulniks sicherer Hand.

Nach und nach wurde die von Schnee bedeckte Erde vor ihnen ein wenig uneben, der Horizont krümmte sich undeutlich, war aber trotz der Dunkelheit sichtbar. Der Komsomolze verringerte die Geschwindigkeit, und der Propellerschlitten überwand mit Leichtigkeit die ersten Hügelchen und seichten Gräben und Mulden.

„Gleich sind wir da!“, teilte Zybulnik mit. Ungeduldig sah Dobrynin in die Nacht hinaus, die sie umgab, erblickte Hügel und Schnee, aber sonst nichts.

Nach einiger Zeit zeigte der Komsomolze schweigend mit der Hand auf einen höheren Hügel, der sich vor ihnen erhob.

„Was ist dort?“, fragte der Volkskontrolleur.

„Wir sehen es gleich! Hauptsache, niemand ist dort.“

Nachdem sie den hohen Hügel überwunden hatten und mit ausgeschaltetem Motor hinabgerollt waren, hielt der Propellerschlitten an einem in der Tat seltsamen Ort an. Vor Neugierde sprang Dobrynin als Erster in den Schnee und steuerte sogleich mit schnellem Schritt auf einen kreisrunden, erdfarbenen Platz zu, der offenbar sorgfältig vom Schnee befreit worden war. In der Mitte des Platzes ragte ein Holzpfahl aus dem Frostboden, der, so schien es Dobrynin, in einem bekannten menschlichen Kopf endete. Und vor dem Pfahl befand sich ein schwarzer Aschefleck.

„Was ist das?“, fragte Dobrynin.

„Das hier? Wovon ich erzählt habe. Ein heiliger Ort. Früher sah es hier ein wenig anders aus: Hier standen mehrere einfache Götterpfähle. Aber wir haben den Platz ein wenig verändert. Wir haben nur einen einzigen Pfahl mit einer Iljitsch-Büste stehen gelassen.“

„Und warum?“, wunderte sich der Volkskontrolleur aufrichtig.

„Wie warum?“, wunderte sich Zybulnik seinerseits aufrichtig über die Frage des Kontrolleurs. „Es gibt schließlich das Spezialprogramm ‚Die Leninisierung des Polargebietes und des fernen Ostens‘. Und nach diesem Programm müssen wir alle kultischen Plätze der Völker des Nordens in Leninwinkel und Agitationsplätze umwandeln. Ich habe bisher nur zwei solche Plätze angepasst, aber hier im Umkreis gibt es zwanzig. Uns fehlen jedoch die Büsten. Ich habe dreißig bestellt, aber geschickt wurden nur zwei.“

Dobrynin hörte dem Komsomolzen mit großem Interesse zu. Dabei fühlte Dobrynin, wie in seinem Inneren die Achtung für diesen starken Menschen immer mehr wuchs, der die reiche Erde Schytomyrs gegen die Schneemassen des Polargebietes getauscht hatte. Und mit Verdruss dachte er an seine Schwäche von neulich, als er im Halbschlaf oder in einem anderen Bewusstseinszustand beinahe bedauert hatte, dass er seine Familie so fern zurückgelassen hatte, die er natürlich innig liebte, aber dennoch nicht so innig wie das Heimatland. Dabei war es doch ohne Zweifel klar, dass ein Mensch nur ein Heimatland, aber mehrere Familien haben konnte.

„…und hier verbrennen sie die ihrigen“, zeigte Zybulnik mit der Hand auf die Überreste eines Feuers.

„Ihre Toten?“

„Je nachdem“, antwortete der Komsomolze. „Ich habe es noch nie gesehen, aber ich glaube, dass sie auch Lebende verbrennen. Sie werden geopfert, um eine bessere Jagd zu erbitten oder um mehr Fische zu fangen. Solchen Irrglauben haben sie.“

„Geopfert?“

„Ja, ihren Göttern. Aber jetzt ist das natürlich nicht mehr so. Wir gewöhnen es ihnen allmählich ab. Jetzt opfern sie nur mehr einem Gott. Und Lenin haben sie sogar einen eigenen Namen in ihrer Sprache gegeben. Aber sehr bald, wenn der alte Irrglaube in Vergessenheit geraten sein wird, werden wir an all diesen Orten vollwertige Denkmäler unseres Führers aufstellen und den Eskimos beibringen, Blumen an den Denkmälern niederzulegen statt Menschen zu verbrennen. Das hier ist doch die reinste Barbarei. Als ich hier frisch angekommen war, habe ich mich schrecklich gewundert, aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und warte erst einmal ab.“

„Jaaa…“, bezeugte der Volkskontrolleur seine Verwunderung. „Und wie leben sie? Also, haben sie Frauen? Kinder?“

„Ja, natürlich“, antwortete der Komsomolze, während er näher an den Pfahl herantrat, auf dessen Spitze die Iljitsch-Büste befestigt war, und begann, die Büste genau in Augenschein zu nehmen. „Was haben sie denn dort auf Lenins Schulter eingeritzt?! Hm?“, fragte er sich und reckte sich noch höher auf die Zehenspitzen.

„Was ist dort?“

„Irgendein Fisch mit Stoßzähnen“, sagte Zybulnik. „Nein, das ist wahrscheinlich ein Walross.“

„Ein Walross? Was ist das denn?“

„Ein Meerestier“, erklärte der Komsomolze knapp. Dann drehte er sich zu Dobrynin um und fuhr fort:

„Ein sehr bösartiges Tier. Wenn es im Rudel auftritt, kann es viele Menschen töten, besonders Fischer. Wahrscheinlich haben sie das Walross aus religiösen Gründen auf die Schulter des Führers eingeritzt. Vermutlich auch für ein gutes Jagdergebnis.“

Dobrynin wunderte sich über den Irrglauben der Einheimischen: In der Tat war auch das russische Volk durchaus zu irrigen Überzeugungen imstande, aber bis zu Abgöttern und Menschenverbrennungen hatte man es dort noch nicht gebracht. Das bedeutete, dass der Norden ein ernster Fall war und dass man ihn nicht einfach nur so dorthin geschickt hatte. Offenbar gab es da etwas zu prüfen und zu kontrollieren.

Sie kehrten zum Propellerschlitten zurück und setzten ihren Weg in die Stadt Chulajba fort.

* * *

Die Stadt Chulajba bestand aus drei großen Holzhütten und einigen Zelten. Sie lag in einer Vertiefung zwischen drei Hügeln, wobei auf der Kuppe eines der Hügel wie auf dem Dach der Hütte am Flugplatz ein Windsack angebracht war, dessen rot-weiß gestreifter Sack sich hin und wieder aufblähte und sich mit frostigem Wind füllte, dann wieder in sich zusammenfiel, was von einer unbeständigen Bewegung der Luftmassen zeugte.

Nachdem Dobrynin und Zybulnik aus dem Propellerschlitten gestiegen waren, betraten sie eine Hütte mit der Aufschrift „Chulajba Haus Nr.…“. Vor der nächsten Tür blieben sie stehen. Der Komsomolze klopfte und auf einen Zuruf von der anderen Seite öffnete er die Tür.

In dem geräumigen Zimmer war es warm. In der Ecke stand ein Ofen und man konnte hören, wie das darin brennende Holz knisterte und knackte. Daneben lag noch mehr Brennholz – Birkenholz. Dobrynin bewunderte die gekräuselte Birkenrinde und achtete gar nicht auf den Mann, der von seinem Tisch aufgestanden war und sie mit einem freundlichen Lächeln begrüßte.

„Herzlich willkommen!“, sagte der Mann. Dobrynin besann sich mit einem Mal und richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn. Er nickte.

„Ich bin Kriwizkij“, erklärte der Mann, während er mit dem Volkskontrolleur einen Blick wechselte. „Der Vorsitzende von Chulajba. Und Sie sind Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin, nicht wahr?“

„Ja“, bestätigte Pawel.

„Nun, sehr erfreut!“, sagte Kriwizkij. Dann wandte er sich dem Komsomolzen zu. „Die Technik hat euch nicht im Stich gelassen?“

„Nein“, bestätigte dieser. „Besser als ein Flugzeug!“

Dobrynin musterte Kriwizkij und bildete sich sogleich ein Urteil über ihn. Man konnte sehen, dass er ein starker und großer Mann war, ebenso groß wie der Komsomolze Zybulnik, aber er hatte ein feminines Gesicht. Nicht, dass das dem Volkskontrolleur gänzlich missfallen hätte, aber es rief in ihm gewisse Zweifel über dessen Charakterstärke hervor.

Im Zimmer zeugte alles vom Gegenteil, nämlich von einer festen Hand des Hausherrn: sowohl der breite und ziemlich lange Tisch als auch die rote Fahne, die in einer anderen Ecke auf einem speziellen Ständer befestigt war. Darüber hinaus hing an der Wand über dem Tisch ein sehr ungewöhnliches Porträt von Kriwizkij selbst. An der anderen Wand hing das übliche Porträt des Führers Lenin, auf dem dieser die Zeitung „Prawda“ las. Unterhalb des Leninbildes stand ein solider schwarzer Schrank, feuerfest und etwa anderthalb Meter hoch.

Nachdem Dobrynin sich umgesehen hatte und seine Achtung vor dem Bewohner dieses Zimmers wieder gestiegen war, lenkte er seinen Blick zurück auf das ungewöhnliche Porträt von Kriwizkij. Etwas an diesem Porträt war anders.

„Gefällt es Ihnen?“, wollte der Vorsitzende von Chulajba wissen.

„Ich finde es interessant“, gab der Volkskontrolleur zu. „Irgendetwas ist daran anders…“

„Ein seltenes Werk“, nickte Kriwizkij stolz. „Das Porträt ist aus wertvollen Pelzen von Tieren des Nordens gemacht: Die Wangen sind aus Zobel, die Brauen aus Walrossbarthaaren und der Schnurrbart aus Robbenfell. Ein Geschenk von einem der lokalen Völker. Ich habe bei ihnen auch ein Leninporträt für das Museum in Moskau bestellt. Ich möchte es dorthin mitschicken, also wenn alles in Ordnung geht, dann nehmen Sie es mit, wenn Sie in die Hauptstadt fliegen.“

„In Ordnung.“ Dobrynin war einverstanden. „Und was gibt es hier bei Ihnen zu kontrollieren… damit ich etwas überprüfen kann?“

„Darüber sprechen wir dann morgen, Pawel Aleksandrowitsch“, lächelte Kriwizkij auf weibliche Art. „Jetzt ruhen Sie sich aus. Ich habe angeordnet, dass heute auf dem Platz ein Markt zu Ehren Ihrer Ankunft abgehalten werden soll, damit Sie sehen können, wie wir hier leben, und Sie sich eine lokale Spezialität mitnehmen können. Genosse Abunajka, mein Stellvertreter, hat Sie und Genosse Zybulnik zum Abendessen eingeladen. Er ist einer der Einheimischen, aber im Unterschied zu den anderen spricht er Russisch.“

* * *

Auf dem kleinen Platz, in der Mitte zwischen den Holzhütten und den Zelten, saßen die Einheimischen auf einer Unterlage im Schnee. Es waren etwa zehn Personen. Vor ihnen lagen die Waren, aber solange Dobrynin und Zybulnik dicht davor standen, war es unmöglich gewesen zu erkennen, womit auf diesem Markt gehandelt wurde.

Der Volkskontrolleur war mit angehaltenem Atem einige Meter vor der „Marktreihe“ stehen geblieben und betrachtete nun die Waren. Ein Großmütterchen mit einem erstaunlich flachen, sonnengebräunten Gesicht, in dem nur zwei schmale Augenschlitze zu sehen waren, hatte vor allem Fleischwaren: Stroganina, das Dobrynin noch nie gesehen hatte, gepökeltes Fleisch eines unbekannten Tieres und irgendwelche Fleischstäbchen in der Länge einer menschlichen Hand. Dobrynin wollte diese unbekannten Lebensmittel des Nordens ausprobieren, und offenbar erkannte Zybulnik diesen Wunsch am Blick des Volkskontrolleurs, vielleicht war sich Dobrynin auch einfach nur über die Lippen gefahren, ohne es selbst zu merken. Der Komsomolze trat sogleich zu ihm, beugte sich an sein Ohr und flüsterte:

„Sie können alles nehmen, was Ihnen gefällt!“

„Das kommt mir irgendwie nicht richtig vor…“, antwortete Dobrynin ebenfalls flüsternd und dachte gleichzeitig bei sich, warum sie flüsterten, wenn hier niemand Russisch verstand.

Aber da flüsterte Zybulnik wieder, diesmal schon lauter:

„Nehmen Sie nur, keine Angst. Erstens ist es offensichtlich, dass Sie Russe sind. Aber wenn Sie nicht einfach so etwas nehmen wollen, dann sage ich Ihnen eine offizielle Parole und Sie können, wenn Ihnen etwas gefällt, die Parole sagen und mit dem Finger auf das Ding zeigen, das Sie kaufen möchten…“

Diese Idee gefiel Dobrynin. Einfach etwas nehmen, nur weil er Russe war – das hatte etwas Unbescheidenes und Unangenehmes. Aber wenn es eine spezielle Parole gab, bedeutete dies, dass es eine solche Vorschrift gab, was im Weiteren hieß, dass das von oben so geregelt war.

„Und wie lautet die Parole?“, fragte der Volkskontrolleur.

„Burajsy.“

„Eine komische Parole“, sagte Dobrynin leise.

„Das ist ein Wort aus ihrer Sprache“, erklärte der Komsomolze. Der Volkskontrolleur trat zum sonnengebräunten Großmütterchen, wies mit der Hand auf das längste Fleischstäbchen und sagte: „Burajsy!“ Das Großmütterchen nahm flink das Fleischstäbchen und reichte es dem Volkskontrolleur.

„Danke“, sagte Dobrynin zum Großmütterchen.

„Nicht nötig!“ Zybulnik sah den Kontrolleur mit leicht verkniffenem Mund an. „Sie verstehen das sowieso nicht.“

Sie schritten die Reihe der auf dem Schnee ausgelegten Waren ab. Dobrynin „kaufte“ mit der Parole noch einige seltsame Fleischstücke. Er versuchte ein kleines Stück von dem Fleischstäbchen abzubeißen, aber dieses erwies sich als so stark gesalzen, dass sich Dobrynins Lippen sogleich zusammenzogen.

Zybulnik „kaufte“mit der Parole einige Pelze eines Felltieres, das Dobrynin nicht kannte.

„Ich muss meine Hose ausbessern, sie ist schon ganz durchlöchert“, erklärte er Dobrynin.

Insgesamt war der Markt ärmlich und einiges daran war ihm unverständlich. Die Verkäufer saßen herum, und außer dem Kontrolleur und Zybulnik gab es keine Käufer. Allerdings bemerkte Dobrynin, dass die Verkäufer selbst untereinander Waren tauschten, aber sie versuchten das unbemerkt und hinter dem Rücken der Vertreter des russischen Volkes zu machen.

Bevor sie den Markt verließen, legte Dobrynin alle Käufe in seinen Reisesack, band ihn zu und warf ihn sich über die Schulter. Da berührte ihn jemand leicht. Dobrynin fuhr erschrocken zusammen und drehte sich um. Vor ihm stand ein kleiner, ihm bis zur Schulter reichender Einheimischer, der sich allerdings von den übrigen Anwesenden unterschied. Sein Gesicht war nicht so breit wie das des Großmütterchens und der anderen Verkäufer, darüber hinaus hatte er einen Schnurrbart, der nach oben gezwirbelt war.

„Russe!“, sagte er mit einer zarten, beinahe säuselnden Stimme. „Ich gebe dir Zobel für dieses Ding!“ Und er berührte den Sack, der über seiner Schulter hing.

„Nein, Genosse“, antwortete der Kontrolleur entschuldigend. „Ich kann nicht – den hat mir meine Frau geschenkt…“

„Aha“, nickte der Einheimische. „Ein gutes Ding!“ Dobrynin hob für alle Fälle die Achseln, um zu zeigen, dass er die Tasche wirklich nicht tauschen konnte, und eilte zum Komsomolzen, der schon vorausgegangen war.

„Was wollte er von dir?“, fragte Zybulnik.

„Er wollte den Sack gegen Zobel tauschen…“

„Wie viele Zobelfelle wollte er denn dafür geben?“, wollte der Komsomolze wissen.

„Ich weiß es nicht“, gab Dobrynin zu. „Ich habe abgelehnt. Schließlich hat ihn mir meine Frau geschenkt.“

„Da hattest du recht!“, nickte Zybulnik, über sein Gesicht huschte jedoch ein boshaftes Lächeln, das sofort wieder verschwand. „Lass uns jetzt zu Abunajka gehen und uns bei ihm ausruhen. Sag ihm nur nicht, dass ich Zucker habe!“

„Aber nein, ich werde es nicht vergessen!“, sagte Dobrynin.

„Übrigens der Mann, der dir den Zobel angeboten hat, das ist der zweite, der Russisch spricht. Waplacher heißt er. Wie einem eine Mutter einen solchen Namen geben kann!“

„Wahrscheinlich war sie keine Russin“, meinte Pawel. „Eine Russin würde ihr Kind nicht so nennen.“

„Bestimmt!“, bestätigte Zybulnik.


Abunajka wohnte abseits der Stadt. Seine Behausung war weder eine Hütte noch ein Zelt.

„In ihrer Sprache nennen sie es Balagan“, erklärte Zybulnik. „In solchen Balaganen wohnen jene Menschen des Nordens, die den größten Respekt genießen, innerhalb der lokalen Volksgruppen natürlich.“

Beim Eingang in den Balagan lagen einige Hunde mit flauschigem Fell im Schnee und neben ihnen stand ein Schlitten mit abgestreiftem Hundegeschirr.

Dobrynin wurde es augenblicklich warm ums Herz. Als er die Hunde sah, erinnerte er sich sogleich an sein Dorf, an seine Frau und an den tollpatschigen und stürmischen Hund Mitka.

„Abunajka ist zu Hause!“, sagte der Komsomolze, während er die Hunde ansah. „Wir bitten ihn gleich, uns etwas zu essen zu machen. Und später kommt vielleicht auch noch Genosse Kriwizkij.“

Während trotz der Nacht draußen alles sichtbar war, herrschte im Balagan völlige Dunkelheit, als sie eintraten. Jemand schnarchte.

„He, Abunajka! Burajsy!“, rief der Komsomolze in die Dunkelheit und sogleich fuhr jemand hoch, murmelte etwas in einer unverständlichen Sprache und sagte dann auf Russisch: „Gleich-gleich!“ Ein Streichholz flammte auf, vollzog in der Dunkelheit einen Bogen, traf auf den Docht einer Petroleumlampe, und es wurde zusehends heller. In diesem Licht, das den gesamten Balagan ein wenig erhellte, erschien das faltige Gesicht eines alten Mannes. Die langen, schwarzen Haare mit grauen Strähnen reichten ihm bis zur Schulter und lagen auf dem schmutzigweißen Kragen eines Rentierpelzes auf, der etwas kurz war und unten mit einem schmalen Streifen dunklem Pelz verziert.

„He, wer ist da? Zybulnik?“, fragte der Alte und starrte die beiden aus zusammengekniffenen Augen an. „Meine Augen sehen so schlecht.“

„Ja, Abunajka, ich bin’s mit einem Gast.“

„Und woher kommt Gast?“, fragte der Alte.

„Von weit her, beinahe aus Moskau“, antwortete der Komsomolze.

„Aha“, brummte Abunajka. „Was für weit gereister Gast! Für weit gereister Gast muss man etwas machen…“

„Hör zu, Alter.“ Zybulnik trat geradewegs vor Abunajka hin, holte aus seiner Hosentasche das gewisse gefrorene Pferdeorgan und reichte es dem Herrn des Balagan.

„Mach daraus Sülze, es kann sein, dass Kriwizkij noch kommt. Wir setzen uns einstweilen und warten…“

„Ei-jei-jei…“, schüttelte der Alte den Kopf. „Da braucht man noch drei von Rentieren… ei-jei-jei… arme Rentiere… na gut, Abunajka kommt bald wieder!“ Der Alte nahm von einem Regal ein großes Messer, das starke Ähnlichkeit mit einer Sichel hatte, verließ den Balagan und ließ Dobrynin und den Komsomolzen allein.

„Hier ist es so kalt wie draußen…“, sagte der Volkskontrolleur. „Heizt er denn nicht ein?“

„Wozu sollte er? Er kann so leben.“

„Und erfriert er nicht?“, wunderte sich Dobrynin.

„Nein. Statt sich am Ofen zu wärmen, trinkt er vor dem Schlafen Wodka aus Milch. Tarasun nennt sich das. Ein starkes Gesöff, aus Rentiermilch und noch irgendetwas anderem gemacht.“

Nachdem sich Pawel ein wenig an die Beleuchtung gewöhnt hatte, sah er sich in der Behausung um, er konnte jedoch nichts Interessantes entdecken. Alle Innenwände waren mit Rentierfellen bedeckt, wobei die Pelzseite nach innen gekehrt war. Der Fußboden war ähnlich ausgelegt, allerdings von brauner Farbe. In einer Ecke lag ein ganzer Berg von Lappen und Fellen und Dobrynin dachte, dass dies das Bett sein musste. Das alles wäre ganz in Ordnung gewesen, wenn da nicht ein beißender, unangenehmer Geruch gewesen wäre, der mit jeder Sekunde stärker und schärfer wurde. Dobrynin hielt es nicht länger aus und musste husten.

„Das vergeht!“, beruhigte ihn Zybulnik. „Das kommt davon, dass er hier Medizin aus Rentierurin herstellt. Das hilft gegen alle Krankheiten, aber nur bei den Einheimischen. Für Russen hat diese Medizin keinen Nutzen. Wahrscheinlich ist der Organismus ein anderer. Aber was für ein Gestank! Sei’s drum, setz dich!“

„Wohin?“, fragte Dobrynin, während er auf den braunen Fußboden blickte.

„Komm, lass uns auf sein Bett setzen!“

Sie gingen in die Ecke, wo der Haufen von Lappen und Fellen lag, und setzten sich darauf.

„Er wird gleich zurück sein, seine Herde ist hier ganz in der Nähe, hinter dem Hügel“, sagte Zybulnik. „Wenn er kommt, dann trinken wir etwas. Dann wird uns wärmer.“

Sie mussten tatsächlich nicht lange auf den Alten warten. Nachdem er zurückgekommen war, entfachte er direkt auf dem Fußboden des Balagan ein Feuer, stellte einen dreibeinigen Ständer darüber und hängte über die noch schwachen Flammen einen Kessel mit Wasser, in den er das Pferdeorgan und noch etwas anderes hineinwarf. Erst danach ging er zu seinen Gästen und sagte:

„Gleich-gleich macht Abunajka Sülze, russischer Mann Kriwizkij wird zufrieden sein…“

„Gib uns Tarasun“, verlangte der Komsomolze vom Alten halb im Scherz. „Es ist so kalt.“

„Tarasun…“ Abunajka nickte und kroch hinter das Bett, verbeugte sich dort, wobei er etwas in seiner Muttersprache murmelte, holte dann eine trübe Glasflasche hervor, die mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt war.

„Tarasun schmeckt gut…“, nickte er, hob mit der zweiten Hand Krüge vom Regal und reichte sie Zybulnik und Dobrynin.

„Nimm, Abunajka schenkt Tarasun ein… Tarasun ist stark… gefriert nicht… weit gereister Gast soll als Erster trinken!“

Dobrynin nippte an seinem Krug und spürte sogleich, wie es angenehm in der Kehle brannte und sich eine säuerliche Wärme nach unten bewegte, direkt in das Innerste des Volkskontrolleurs. Er nahm noch einen Schluck, diesmal einen richtigen, ächzte und ließ seinen Blick begierig durch den Balagan schweifen auf der Suche nach etwas, das sich dazu essen ließ oder an dem er wenigstens riechen konnte.

Zybulnik begriff, worum es ging, und hob seinen Arm vor Dobrynins Gesicht. Der Volkskontrolleur beugte sich darüber, presste seine Nase in den Pelzärmel der Jacke, machte einen tiefen Atemzug durch die Nase und gleich noch einen zweiten.

„Aaah“, sagte der Alte erfreut. „Weit gereister Gast mag Tarasun?“

„Gut! Sehr gut!“ Pawel nickte und blickte dabei den Herrn des Balagan beifällig an. „Und das trinken Sie jeden Tag?“

„Aaah“, lächelte Abunajka wieder. „Weit gereister Gast weiß nicht, dass heute Nacht ist…“

„Er weiß es!“, unterbrach ihn der Komsomolze barsch. „Der weit gereiste Gast hat es vergessen!“

„Ei, russischer Mann Zybulnik, nicht beleidigt sein. Abunajka ist alt, kann schlecht Russisch…“

Das Gespräch war einfältig, und deshalb goss Dobrynin seinen Krug noch einmal mit Tarasun voll.

Bald kam Kriwizkij. Der Alte freute sich über seine Ankunft. Er sprach so laut, als ob er selbst schwerhörig wäre.

„Sülze wird gleich-gleich fertig und gut sein! Tarasun ist frisch! Ganz frisch!“

„Gib mir von deinem Tarasun!“, sagte Kriwizkij zu ihm, und er nahm, sobald er einen Metallkrug erhalten hatte, der sogleich mit der milchigen Flüssigkeit gefüllt worden war, einige kräftige Schlucke.

Abunajka machte sich am Feuer zu schaffen, nahm den Ständer mit dem Kessel und trug ihn aus dem Balagan. Dann kehrte er zurück.

„Ist gleich-gleich abgekühlt.“

„Wie undiszipliniert ihr hier seid…“, sprach Kriwizkij, während er Zybulnik und den Volkskontrolleur anblickte. „In einem Balagan sitzen die Gäste auf dem Fußboden und nicht auf der Schlafstätte des Hausherrn!“

Dobrynin stand gehorsam auf und ließ sich auf dem Boden nieder. Der Komsomolze setzte sich ebenfalls neben ihn und schließlich auch Kriwizkij selbst. Er vervollständigte damit die geometrische Form eines nationalen Festtisches.

„Ei-jei-jei…“, brummte der Alte vor sich hin, während er hinter dem Bett herumkramte.

„Ach ja, Genosse Zybulnik!“, sprach plötzlich Kriwizkij und wandte sein auf weibliche Art liebliches Gesicht dem Komsomolzen zu. „Aus Jakutsk ist eine Funkmeldung gekommen. Es sind dort achtundsechzig Führerbüsten für dich angekommen, also wenn du die Parteibeiträge von der Bevölkerung einkassierst, kannst du gleich nach Jakutsk fahren. Und nimm mir von dort Birkenholz mit – ein Geschenk von meinem Freund im Kreml!“

Als Kriwizkij den Freund im Kreml erwähnte, warf er Dobrynin einen Blick zu, um zu sehen, ob das den nötigen Eindruck auf ihn machte.

Der Volkskontrolleur hingegen erinnerte sich gerade an den Genossen Kalinin und überlegte, ob er nun etwas zum Tee hatte oder ob er den Tee einfach so trinken sollte.

„Zu Befehl, Genosse Kriwizkij“, antwortete der Komsomolze mit einem Kopfnicken. „Aber ist es nicht noch etwas früh, Beiträge zu kassieren? Ich habe sie erst vor kurzem eingesammelt, und die Scheune ist vollgestopft, man kann sie ohnehin nirgends aufbewahren.“

„Die Scheune ist schon wieder leer“, antwortete Genosse Kriwizkij barsch.

„Und wann wurden sie abgeholt?“, wunderte sich der Komsomolze.

„Während du unterwegs warst.“

„Aaah!“ Abunajka ließ ein fröhliches Brummen hören. „Ich habe noch Tarasun gefunden!“ Und der Alte stellte noch eine Flasche mit milchigem Wodka vor die Gäste auf den Boden. „Und ich hole gleich-gleich Sülze…“

„Aber ist es nicht gefährlich, hier eine ganze Scheune voll Geld zu haben? Wenn es gestohlen wird…“, brachte Dobrynin seine Gedanken ins Gespräch ein.

„Welches Geld?!“, stellte Kriwizkij eine Gegenfrage. „Dort ist kein Geld.“

„Und die Parteibeiträge?“

„Aber das ist doch kein Geld, wir sammeln sie ja in Zobelfellen ein“, erklärte der Vorsitzende von Chulajba. „Dann schicken wir sie nach Moskau, und um alles Weitere brauchen wir uns nicht zu kümmern. Wir haben hier drei Parteivölker, gut zwanzig Ortschaften…“

Wieder erschien der Alte, verharrte für einen Moment neben der sitzenden Gesellschaft, stellte dann den Kessel mit der abgekühlten Sülze auf den Boden und setzte sich dazu.

„Sülze ist gut…“, sagte er und blickte dabei dem Genossen Kriwizkij in die Augen.

In die Krüge wurde Tarasun nachgeschenkt. Dann deutete der Alte mit beiden Händen auf den Kessel und sagte zu Kriwizkij:

„Nimm Sülze, beleidige nicht Abunajka!“

Der Vorsitzende nahm seinen Krug in die linke Hand. Mit der rechten fuhr er direkt in den Kessel hinein, rührte darin herum, wobei er aus der abgekühlten Sülze ein lockeres, weißes Etwas machte, und zog ein Stück eines bläulich-braunen Organs heraus, das entweder vom Pferd oder vom Rentier stammte.

Dann wandte sich der Alte an den weit gereisten Gast Dobrynin und richtete die gleichen Worte an ihn: „Nimm Sülze, beleidige nicht Abunajka!“

In seinem Inneren machte sich Ekel breit, aber der Volkskontrolleur erinnerte sich daran, dass man Nationalsuppen und Ähnliches respektieren musste. Also streckte er die Hand in den Kessel, bemühte sich um Sorgfalt, um das Gericht nicht allzu sehr zu verderben, ertastete dort hastig etwas Hartes und Längliches, zog es heraus und führte es zum Mund.

Der Komsomolze war ebenfalls schnell und zog seine Portion flink aus dem Kessel. Und erst dann nahm der Herr des Balagan ein Stück aus der Sülze in die Hand und führte seinen Krug an die Lippen.

„Also…“, dachte Genosse Kriwizkij laut und sagte dann: „Auf den Sieg des Sozialismus im Polargebiet!“

Die Krüge stießen dumpf aneinander. Dobrynin schluckte den Tarasun und steckte das, was er in der Hand hielt, automatisch in den Mund. Das Organ stellte sich als recht hart heraus, aber es ließ sich leicht kauen. Als er das erste Stück zerkaut hatte, fiel dem Volkskontrolleur ein, dass die Russen dieses Organ normalerweise nicht aßen. Und wie von selbst stieg in seinem Körper eine Übelkeit hoch, aber Dobrynin bekämpfte sie eilig und ertränkte die unliebsamen und ärgerlichen Gedanken in einigen Schlucken Tarasun. Dann leerte er noch mehr davon in seinen Krug.

„Abunaj-gin!“, ließ sich hinter der dicken Pelztür des Balagan ein Rufen vernehmen. „Urke bimi nelesken niwren!“

„Was ist los?“, fragte Genosse Kriwizkij unzufrieden.

„Man ruft Abunajka zum Gespräch“, erklärte der Alte, während er sich erhob.

Er beugte sich hinunter, um die dicke Pelztür anzuheben, und schlüpfte aus dem Balagan.

Dobrynin fühlte sich sehr wohl. Eine wunderbar sanfte Wärme breitete sich über seinen Armen und Beinen aus und sogar in seinem Kopf fühlte er wohlige, nicht in russische Worte zu fassende Schauer, die seine Stimmung versüßten. Nachdem er fertig gekaut hatte, schenkte er sich noch Tarasun nach, ohne auf die ebenfalls schweigend trinkenden Genossen zu achten. Die Stille gefiel ihm allerdings nicht. Weitaus angenehmer wäre es gewesen, wenn rundherum vertraute russische Geräusche zu hören gewesen wären: das Bellen oder Heulen eines Hundes, ein Türenschlagen oder auch nur das Geräusch von Regen. Aber auch hier, gleich neben diesem Balagan, lagen flaumhaarige Hunde mit flauschigem Fell im Schnee, sollte etwa ihr Bellen anders sein?! Nein, alle Hunde bellten gleich! Wenn sie jetzt losbellen würden… Der Volkskontrolleur fuhr sich bei diesem wohltuenden, träumerischen Gedanken über die Lippen, nahm mit den Fingern etwas von dem Fett, das von der Sülze im Kessel übrig war, und steckte es in den Mund. Dazu trank er kleine, wohltuende Schlucke des Milch-Wodkas.

Abunajka kehrte zurück. Rasch setzte er sich an seinen Platz und nahm mit der Hand ebenfalls etwas Fett aus dem Kessel.

„Worüber habt ihr gesprochen?“, fragte Genosse Kriwizkij streng.

„Ach, sie fragten, ob sie Haus von Butunaj abbrennen dürfen, er ist von Jagd nicht zurückgekommen…“

„Und, hast du es erlaubt?“, fragte der Vorsitzende von Chulajba weiter.

„Ja“, nickte der Alte. „Abunajka ist gut, Abunajka erlaubt alles…“

„Nun, vielen Dank…“ Kriwizkij erhob sich. „Ich muss noch arbeiten… Danke für die Sülze… ich gehe.“

Etwas unsicher auf den Beinen verließ der Vorsitzende von Chulajba den Balagan und stapfte in seinen hohen Pelzstiefeln durch den still und friedlich daliegenden Schnee.

Dobrynin und der Komsomolze tranken die zweite Flasche aus. Der Komsomolze brummte beim Trinken unzufrieden über das Einsammeln der Parteibeiträge vor sich hin, nannte es eine „Drecksarbeit“, woraus der längst nicht mehr nüchterne Volkskontrolleur schloss, dass Zybulnik dieser Auftrag nicht gefiel.

„Wollen wir uns aufwärmen?!“, schlug plötzlich der Alte Abunajka vor. „Da wird es warm, da wird es heiß…“

„Wo denn“, wollte Dobrynin wissen.

„Am Feuer wärmen!“, erklärte der Alte.

Alle drei gingen in die blaue Polarnacht hinaus. Dobrynin war bereits drinnen warm gewesen und er wäre natürlich viel, viel lieber sitzen geblieben oder hätte sich vielleicht sogar auf den braunen Pelzboden des Balagans gelegt, aber da er sich an die erste Lenin-Erzählung erinnerte, wollte er dem Hausherrn nicht widersprechen und seinen Vorschlag nicht ablehnen.

„Dort!“ Der Alte zeigte mit der Hand auf einen sichtbaren Feuerschein hinter dem Hügel. „Da gehen wir hin. Dort ist es warm.“

Während sie gingen, fühlte Dobrynin die schneidende Kälte und steckte seine Fäuste tiefer in die Taschen seines Rentierpelzes.

„Es kühlt ab“, sagte Abunajka. „Bald wird es noch kälter!“

„Auch das noch!“, brummte der Komsomolze unzufrieden. Er schwankte beim Gehen, offenbar fiel es seinen wackeligen Beinen schwer, einen so großen und dazu noch betrunkenen Körper zu tragen.

Als sie den Hügel hinter sich gebracht hatten, erblickten sie die Flammen eines großen Feuers, daneben stand eine kleine Schar von Menschen.

„Und warum wird das Haus niedergebrannt?!“, fragte Dobrynin, während er versuchte, mit dem leichtfüßigen Alten Schritt zu halten.

„So muss es sein“, antwortete Abunajka im Gehen. „Wenn Fischer oder Jäger nicht nach Hause kommt, muss man Haus niederbrennen, damit böse Geister dort nicht einziehen… Wenn sie einziehen, dann kommen sie auch in andere Häuser und bringen viel Unglück.“

Von dieser Erklärung verblüfft verlangsamte Dobrynin für einen Augenblick sein Tempo, wartete auf den Komsomolzen, der hinter ihm ging, und fragte ihn:

„Gibt es hier etwa wirklich böse Geister?“

Zybulnik sah den Volkskontrolleur mit einem benebelten, milchigen Blick an.

„Wenige, aber doch…“, brachte er mit Anstrengung hervor. Um das brennende Zelt herum standen die Einheimischen in roten, mit verschiedenen Zierborten gesäumten Rentierpelzen. Als sie Abunajka erblickten, wichen sie zur Seite.

Der Alte trat an die Flammen heran und verbeugte sich tief vor dem Feuer, bis er fast den Schnee berührte. Dann stimmte er ein wehmütiges Klagen in seiner Sprache an, worauf die anderen Einheimischen sich ebenfalls vor dem Feuer verbeugten.

„Was machen sie da?“, fragte Dobrynin den neben ihm stehenden Komsomolzen.

„Wilde Bräuche“, sagte Zybulnik. „Gleich fangen sie an zu tanzen!“

„Und wenn der Hausherr doch noch zurückkehrt, wo wird er dann wohnen?!“, fragte der Volkskontrolleur wieder.

Der Komsomolze zuckte die Achseln.

Die Flammen loderten stärker und der Alte Abunajka klagte und heulte noch immer in seiner Sprache, schwang seine Arme und drehte sich dabei von Zeit zu Zeit herum wie ein aufgezogener Kreisel.

„Ich gehe zurück, hier ist es kalt“, meinte der Komsomolze.

„Wohin zurück?!“, fragte ihn Pawel.

„In den Balagan, wir übernachten heute beim Alten… Kommst du mit?“

Dobrynin dachte nach und beschloss, hierzubleiben und sich die einheimischen Bräuche anzusehen.

„Nun, wie du willst“, meinte Zybulnik, bevor er ging.

Dobrynin kam näher zum Feuer, blieb aber etwas abseits stehen, um Abunajka nicht zu stören, der jetzt irgendwelche Laute ausrief und sich einmal dem Feuer, einmal den einheimischen Zuhörern zuwandte. Plötzlich spürte der Volkskontrolleur, wie ihm jemand auf den Rücken klopfte, und als er sich umdrehte, fühlte er einen Schauer durch seinen Körper laufen – entweder vor Schreck oder vor Kälte.

Hinter ihm stand der Dobrynin bereits bekannte Einheimische, der ihm vor kurzem angeboten hatte, seinen Sack gegen Zobel zu tauschen.

„Zuerst begrüße ich dein glattes Gesicht und deine Weisheit, dann sprechen wir“, sagte der Einheimische und blickte dem Volkskontrolleur in die Augen.

„Guten Tag“, antwortete Dobrynin, verblüfft über die seltsame Anrede.

„Ist der Russe gestern angekommen?“, fragte der Einheimische. „Ich lebe schon lange hier und weiß viel. Ich heiße Waplach…“

Als der Einheimische seinen Namen nannte, erinnerte sich Dobrynin daran, wie der Komsomolze den Burschen genannt hatte, und er wurde nachdenklich, denn diesmal hörte er in dem nicht-russischen Namen nichts Herabwürdigendes. Aber Zybulnik hatte den Namen auch ganz anders ausgesprochen…

„Ich bin ein nicht-einheimisches Volk“, fuhr der Bursche mit dem Namen Waplach fort.

„Wie kannst du denn ein Volk sein?!“, wunderte sich Dobrynin und spürte dabei, wie die angenehme, warme Betrunkenheit verschwand und er sich innen wie außen kalt und schwer fühlte. „Ein Volk, das sind viele Menschen, und du bist nur einer…“

„Nei-ein“, beharrte Waplach stur. „Ich bin das Volk der Urku-Jemzen… Außer mir ist von diesem Volk niemand mehr übrig…“

Das stimmte Dobrynin nachdenklich. Er hatte noch nie etwas von einem Volk der Urku-Jemzen gehört, aber das wunderte ihn nicht, schließlich hatte er früher auch gedacht, dass das Land gleich hinter Moskau zu Ende war und dort das Ausland begann.

„Nun also… und wie heißt der Russe?“, unterbrach sich Waplach plötzlich selbst mit einer Frage.

„Pawel Dobrynin…“

„Wenn der Russe Dobrynin als einziger Russe übrig ist, heißt das, dass er das russische Volk ist… Und wenn er dann stirbt, dann gibt es kein russisches Volk mehr…“

Waplachs seltsame Worte verwirrten Dobrynin ein wenig, aber da begann Abunajka, mit lautem Schreien herumzuspringen, und mit jedem Sprung kam er näher und näher an den Volkskontrolleur heran.

Allmählich verloschen die Flammen und die Einheimischen stimmten ein verhaltenes Klagelied in einem Chor ohne Harmonie an und wiederholten unentwegt die Worte „ojasi-kamuj“. Dobrynins Füße waren kalt, und dann war da auch noch dieser Waplach, der sich als Volk bezeichnete…

„Das russische Volk wird es immer geben!“, sagte Dobrynin leicht verärgert und müde.

„Der Russe soll sich nicht kränken, sein Volk wird es immer geben, aber mein Volk stirbt…“

„Was zum Teufel!“, seufzte der Volkskontrolleur schwer und sah den Burschen stirnrunzelnd an. „Woran stirbt es denn?!“

„Wenn ich sterbe, stirbt das Volk… und sonst gibt es niemanden von diesem Volk… es wurden alle umgebracht…“

Dobrynin wollte diesen seltsamen Einheimischen, der sich einbildete, ein Volk zu sein, auf höfliche Weise loswerden, und so räusperte sich der Volkskontrolleur und ging zu Abunajka, der nach seinen Sprüngen um das Feuer in der Nähe Halt gemacht hatte, nun ganz still stand und sich offensichtlich erholte. Dobrynin sagte zu Abunajka:

„Können wir zurück in den Balagan gehen?“

„Wir gehen, gleich-gleich gehen wir“, nickte der Alte mit dem Kopf. „Ich bin schon fertig.“

Dobrynin sah sich um und stellte mit Erleichterung fest, dass Waplach verschwunden war.

Die Einheimischen verbeugten sich vor dem Alten, verabschiedeten sich von ihm und gingen ebenfalls fort. Der Alte berührte Dobrynin am Arm, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und führte ihn zurück zum Balagan.

Sie gingen langsam. Der Kopf des Volkskontrolleurs fühlte sich schwer und benebelt an.

Als sie den Balagan betreten hatten, sahen sie den mit ausgestreckten Armen auf dem Boden liegenden Komsomolzen. Er schnarchte ächzend.

„Wir müssen ihn ein wenig von hier wegrücken und zudecken“, sagte der Alte geschäftig. „Zybulnik ist schwacher Mensch, er wird sich erkälten.“

Mit letzter Kraft half Dobrynin Abunajka, Zybulnik zum Bett hinzuschieben und ein paar der Rentierfelle auf ihn zu werfen. Danach setzte sich der Volkskontrolleur erschöpft auf den Fußboden aus braunen Pelzen und schnappte nach Luft. Das Dröhnen in seinem Kopf war verstummt, und er fragte den Alten, ob er noch ein wenig Milch-Wodka habe.

„Warum ein wenig?!“, wunderte sich der Alte. „Viel habe ich, viel!“ Und wieder kroch er hinter das Bett und holte noch eine Flasche hervor.

Er leerte Wodka in die Krüge und sie tranken. Wieder breitete sich in Dobrynins Innenwelt sanfte und wohlige Wärme aus, und er tauchte ganz in diese Wärme ein und wusste nun, dass, wenn jetzt auch noch die Hunde bellen würden, sein Glück vollkommen wäre. Und so fragte er den Alten:

„Genosse Abunajka, bellen deine Hunde?“

„Sehr selten… sie sind gutmütig, friedlich…“

„Und könntest du sie zum Bellen bringen?“, fuhr Dobrynin bittend fort.

„Aber wozu, sie sind gutmütig und friedlich…“, wiederholte der Alte.

„Ich höre ihrem Bellen doch so gerne zu. Ich habe weit von hier, daheim, einen Hund mit solch klangvoller Stimme… Mitka…“ Der Volkskontrolleur sprach so liebevoll, dass Abunajka, der solche Gespräche nicht gewohnt war, der Mund offen blieb.

„Russischer weit gereister Gast liebt seinen Hund!“, sagte er erfreut. „Möchte Bellen hören?!“

„Ja, sehr gern!“

„Abunajka macht es… Abunajka liebt Gäste…“ Und der Alte verließ den Balagan. Der Komsomolze schnarchte inzwischen schon etwas leiser, vielleicht ließen aber einfach die Rentierfelle, mit denen er zugedeckt war, sein dröhnendes Schnarchen nicht so laut hindurch. Und Dobrynin genoss seinen Zustand.

„Ahuu… ahuu!“, konnte der Volkskontrolleur hören. Da zerrte der Alte auch schon einen verschlafenen Hund in den Balagan, der keine große Lust hatte hineinzukommen und sich träge mit den Pfoten dagegenstemmte. „Ahu-ahu“ befahl ihm der Alte und zog ihn dabei am Nackenfell zu seinem Gast.

Schließlich hatte er es geschafft und setzte den Köter zwischen Dobrynin und sich und sprach mit dem Hund auf Russisch, indem er auf den Volkskontrolleur zeigte:

„Siehst du, weit gereister Gast ist gekommen, russischer Gast… du musst ‚wau! wau!‘ bellen.“

Aber der Hund bewegte nur seine Schnauze zwischen seinem Herrn und Dobrynin hin und her; offensichtlich hatte er gar nicht vor zu bellen.

„Ahuu-ahuhuu, siehst du, weit gereister Gast bittet, jetzt bell!“, bat der Herr seine Hund noch einmal, der indessen weiterhin schwieg. Da holte der Alte aus und zog ihm mit dem leeren Krug schwungvoll eins über den Rücken. Der Hund heulte auf und der Alte freute sich und wiederholte das Ganze. Sei es aus Schmerz oder vor Schreck – der Hund bellte klangvoll und wunderbar und Dobrynin schloss, von den heimatlich vertrauten Lauten entzückt, die Augen und glitt hinüber in einen sanften und warmen Frühlingstraum, in dem er auf einer von Löwenzahn bedeckten Lichtung lag, und neben ihm spielte und bellte sein geliebter Hund Mitka und wälzte sich auf dem Rücken.

Der Alte schlug seinen Hund immer wieder, und der Hund bellte immer lauter und lauter, sodass der Komsomolze schließlich erwachte und unter den Rentierfellen hervorblickte.

„Warum machst du solchen Lärm?“, fragte er unzufrieden, da ihn abgesehen von dem unangenehmen Lärm im Balagan auch noch Kopfschmerzen plagten.

„Weit gereister Gast wollte, dass der Hund bellt“, erklärte der Alte und hörte auf, mit dem Krug auf den Hund einzuschlagen.

Der Komsomolze warf Dobrynin einen unwilligen Blick zu, dann drehte er sich zu dem Alten um und sagte:

„Er schläft doch! Jag den Hund hinaus!“

Dobrynin hörte diese Worte und sie gefielen ihm ganz und gar nicht, aber ihm fehlte die Kraft, die Augen zu öffnen und zum Komsomolzen zu sagen: „Nein, ich schlafe nicht, ich höre dem Hund zu!“

Also seufzte der Volkskontrolleur tief in seinem Traum. Da verstummte der Hund und es wurde plötzlich ganz still und schwermütig, und mit einem Mal verschwand auch der Frühlingstraum, in dem sich Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin gerade noch befunden hatte, und anstelle dieses Traums erschien ein anderer, der kalt und unangenehm war, in dem der Volkskontrolleur durch die Schneewüste lief und hinter ihm jagte der Einheimische mit dem Namen Waplach in böser Absicht auf dem Propellerschlitten her.

* * *

Das Aufwachen war ziemlich mühevoll gewesen. Zum Frühstück aßen Dobrynin und Zybulnik dünne Streifen von getrocknetem Fleisch, das so stark gesalzen war, dass es nur mit Mühe den Hals hinunterrutschte. Dazu tranken sie säuerlichen Milchtee, bei dem unklar war, woraus ihn Abunajka zubereitet hatte.

„Möge Russe Zybulnik zu Russe Kriwizkij sagen, dass Abunajka müde ist und nicht arbeiten kommt… Gut?“

Der Komsomolze nickte.

Als sie aus dem Balagan hinaustraten, stellte Dobrynin fest, dass die Polarnacht heller geworden war; sie war nun nicht mehr tiefblau, sondern von hellblauer Farbe. Mit Interesse sah er in den tief herabreichenden Himmel – die bunten, regenbogenfarbigen Schlieren des Polarlichts waren kaum zu sehen.

„Ist es schon Morgen?“, fragte er Zybulnik. Zybulnik sah sich ebenfalls um und sein Blick war immer noch vernebelt.

„Ja, sieht aus, als ob es hell werden würde…“, meinte er. „Die Eskimos schlafen noch, und wir sind schon auf dem Weg in die Arbeit…“

In der Stimme des Komsomolzen lag so viel Schwermut, dass Dobrynin sofort an seine eigene kleine Heimat denken musste, an das Dorf Kroschkino.

Sie gingen gemächlich in die Stadt, hielten vor der Tür zum Holzhaus des Vorsitzenden und traten ein.

Kriwizkij saß am Tisch unterhalb seines Selbstporträts aus Pelz und las in irgendwelchen Dokumenten.

Der Komsomolze räusperte sich und trat geräuschvoll von einem Bein aufs andere.

„Aah.“ Der Vorsitzende von Chulajba riss sich schließlich von den Unterlagen los. „Guten Morgen! Und ich dachte, Sie schlafen noch!“

Eine solche Annahme kränkte Dobrynin ein wenig. Kriwizkij dachte doch wohl nicht, dass der Volkskontrolleur nur hierher geflogen war, um Milch-Wodka zu trinken.

„Nein, Genosse Kriwizkij“, sagte Dobrynin schroff. „Wir sind aufgestanden, um zu arbeiten.“

„Also, dann setzen Sie sich!“ Der Vorsitzende lächelte kaum merklich und zeigte mit der Hand auf die beiden Besucherstühle auf der anderen Seite des Tisches.

„Ich werde jetzt besser nach dem Propellerschlitten sehen, er muss aufgetankt werden“, murmelte der Komsomolze mit schläfriger Stimme. Er schlüpfte aus dem Zimmer und ließ Dobrynin mit Kriwizkij allein.

Der Volkskontrolleur trat zum Tisch, setzte sich auf den ihm angebotenen Stuhl, betrachtete das wunderliche Porträt ein weiteres Mal und begriff endlich, worin sich das Porträt vom Original unterschied, was er im Gefühl gehabt, aber nicht auf dem Bild hatte erkennen können: Auf dem Porträt hatte Kriwizkij ein animalisch männliches Gesicht, willensstark und sogar ein wenig boshaft. In Wirklichkeit aber saß an dem Tisch ein Mann mit rein weiblicher Physiognomie, und das einzig Männliche an ihm, außer der Kleidung und des dünnen Schnurrbarts, war die Stimme, die zwar nicht rau, aber doch ziemlich fest war mit einer Spur von innerer Härte.

„Arbeiten?“, wiederholte Kriwizkij, ohne den Blick vom Volkskontrolleur abzuwenden. „Und was würden Sie hier gerne machen?“

Der Volkskontrolleur tastete mit der Hand seine Brust ab, langte in seine Brusttasche und holte daraus die zusammengefaltete Vollmacht hervor, die seine Machtbefugnisse in der gesamten UdSSR bestätigte. Er reichte sie Kriwizkij.

Der überflog das Dokument.

„Nun, das weiß ich bereits über Sie, und was würden Sie hier gerne überprüfen? Bei uns gibt es schließlich keine Fabriken oder Werke.“

Dobrynin dachte nach. In der Stadt gab es tatsächlich keine Fabriken oder Werke, aber aus irgendeinem Grund war er hierhergeschickt worden, das hieß, dass er etwas überprüfen musste, und die Tatsache, dass Kriwizkij ihm solche Fragen stellte, war verdächtig. Es konnte wohl nicht sein, dass der Vorsitzende einer Stadt nicht wusste, was man in seiner Stadt prüfen konnte?!

„Vielleicht erholen Sie sich einmal ein wenig, sehen sich die einheimischen Bräuche an. Wir organisieren eine Jagd mit dem Propellerschlitten für Sie und schießen einige Rentiere“, schlug Kriwizkij vor.

Dieser Vorschlag brachte den Volkskontrolleur endgültig dazu, Verdacht zu schöpfen, dass Kriwizkij etwas zu verbergen hatte.

„Vielleicht kann ich Ihr Leben überprüfen?!“, schlug Dobrynin unerwartet vor und freute sich selbst über diese spontane Idee.

In Kriwizkijs Gesicht zeigte sich Unzufriedenheit und Befremden.

„Wessen Leben?“, fragte er.

„Das Leben der Stadt, ganz allgemein…“

Der Vorsitzende von Chulajba dachte ernsthaft und gründlich nach. Und während er nachdachte, wirkte sein Gesicht gar nicht mehr so weiblich, weil er dabei die Stirn runzelte.

„Aber wie wollen Sie das Leben denn überprüfen?“, fragte er nach einer angespannten Pause.

„Na, indem ich alle befrage, was sie vom Leben halten, was daran gut und was schlecht ist…“

„Aber es spricht doch fast niemand Russisch!“, rief der Vorsitzende.

„Sie sprechen Russisch, Zybulnik, Abunajka ebenfalls und auch dieser, wie hieß er nochmal… Urku-Jemze… Ich bitte sie, mir zu erzählen, was die anderen Bewohner denken.“

Kriwizkij kratzte sich im Nacken, blickte den Volkskontrolleur finster und mit beinahe unverhohlener Feindseligkeit an, dann seufzte er.

„Aah, mir ist etwas eingefallen!“, sagte er plötzlich und sein Gesichtsausdruck veränderte sich abrupt und wurde fröhlich und optimistisch. „Es gibt etwas zu überprüfen! Ich habe es einfach vergessen!“

Dobrynin freute sich ebenfalls und in seinem Gesicht blieb dieses Gefühl nicht verborgen.

„Wir wollen doch einen Kulturpalast bauen!“, erklärte Kriwizkij. „Aus speziellen Eisziegeln. Und das Eis dafür werden wir aus dem Fluss herausbrechen. Der Fluss ist ganz nahe von hier. Omola heißt er. Die Stärke des Eises muss überprüft werden, um festzustellen, ob man die Ziegel schon herausbrechen kann oder ob man noch ein wenig warten muss… Also, könnten Sie die Stärke überprüfen?“

„Ja, natürlich“, antwortete Dobrynin bereitwillig. „Erklären Sie mir nur, wie und womit ich sie überprüfen soll.“

„Dann bitte ich unseren Funker, Sie zu der Stelle im Fluss zu begleiten, wo in der Mitte ein gestreifter Messstab steht. Sie müssen nachsehen, bis zu welcher Markierung das Eis reicht, das dann aufschreiben und mir berichten.“

Der Auftrag war verständlich und Dobrynin hatte keine weiteren Fragen.

„Dann breche ich also gleich auf?!“, wandte er sich fragend an Kriwizkij.

„In Ordnung“, antwortete Kriwizkij. „Warten Sie nur noch eine Minute!“ Und er ging zur Wand, dorthin, wo das Bild des Zeitung lesenden Iljitsch hing, und machte mit der Faust ein Klopfzeichen.

Einen Augenblick später trat ein kleiner, untersetzter Mann in einer braunen Lederjacke und einer dicken, wattierten Hose ins Zimmer.

„Darf ich vorstellen, das ist unser Funker Wasja Poltoranin!“, sagte Kriwizkij. Dobrynin und der Funker schüttelten einander die Hand und machten sich miteinander bekannt.

„Zeig ihm, wo der Fluss ist. Er wird die Stärke des Eises prüfen!“, befahl der Vorsitzende Poltoranin.

Dieser nickte.

Dobrynin verabschiedete sich von Kriwizkij, warf seinen Sack über die Schulter und folgte dem Funker nach draußen. Seine Hände froren in den Taschen seines Pelzes. Die Luft war offenbar kälter geworden, obwohl seine Gesichtshaut nicht mehr so spannte wie unmittelbar nach seiner Ankunft.

Sie gingen schweigend dahin. Der Funker Poltoranin sah vor sich auf den Boden und hob nur manchmal den Kopf, um zu schauen, ob sie noch auf dem richtigen Weg waren.

„Es wird wohl kälter?“, begann der Volkskontrolleur als Erster zu sprechen, da er das unangenehme Schweigen nicht ertrug.

„Ja!“, nickte Poltoranin. „Man kann gar nicht mehr richtig ausspucken!“

„Wie spuckt man richtig?“, fragte Dobrynin verständnislos nach.

„Na wie schon?! Wenn man richtig spuckt, dann geht das so: Die Spucke fliegt aus dem Mund und landet auf einem Gegenstand oder auf der Erde, aber hier, vor allem bei einer solchen Kälte, wenn du da Lust bekommst zu spucken, die Spucke sammelst und ausspuckst, dann fliegt schon ein Stück Eis aus deinem Mund! So ist das.“

Dieser Gedanke interessierte Dobrynin. Er selbst hatte hier noch kein einziges Mal ausgespuckt, da er seinen Mund die ganze Zeit geschlossen hielt. Ihm war im Freien zu kalt, um ihn zu öffnen, da die frostige Luft sofort durch den Mund eindrang und den Körper von innen her zum Frieren brachte. Aber jetzt, da er die Worte des Funkers gehört hatte, entschloss sich Dobrynin zu einem Versuch. Aber kaum hatte er im Mund etwas Speichel gesammelt, kalte Luft in seine Lungen gesogen und seinen Mund geöffnet, als die Spucke schon gefror und sich in ein Stückchen Eis verwandelte, das der Volkskontrolleur nur noch mit der Zunge hinausstoßen konnte.

„Jaaa“, entfuhr es ihm, als er begriff, dass man im Norden nicht einmal normal spucken konnte.

„Hier ist schon der Fluss!“ Der Funker wies mit der Hand nach vorne.

„Wo?“, fragte Dobrynin nach, da er nur die immer gleiche schneeweiße Oberfläche vor sich sah.

„Sofort!“, sagte der Funker und nachdem sie noch etwa zehn Schritte gegangen waren, blieb er stehen und fuhr mit dem Stiefel über die Oberfläche, um den Schnee wegzuwischen.

Unter dem Schnee kam Eis zum Vorschein, das ziemlich durchsichtig war. Durch das Eis konnte man einen guten Meter nach unten sehen.

„Und der Stab?“, fragte Dobrynin. „Zum Messen?“

Mit den Augen suchte Poltoranin den erwähnten Messstab, fand ihn und zeigte ihn dem Volkskontrolleur. Bis zum Messstab waren es noch etwa vierzig Schritte.

„Ich muss zurück!“, sagte der Funker. „Ein dringender Auftrag, ich muss mit Jakutsk Verbindung aufnehmen!“

„Na dann geh“, nickte Dobrynin. „Ich schaffe das allein, auch der Rückweg ist kein Problem, ich habe mir den Weg gemerkt.“

„Alles Gute!“, sagte Poltoranin und stapfte zurück in die Stadt Chulajba.

Ohne Hast stapfte Dobrynin los in Richtung des vor ihm sichtbar gewordenen rot-weißen Messstabs. Im Gehen dachte er darüber nach, dass er nun endlich dem Vaterland nützlich zu werden und seine Verpflichtungen zu erfüllen begann. Und er stellte sich einen Kulturpalast vor, der wie echtes Glas glänzen und sich über die übrigen Gebäude der Stadt Chulajba erheben würde und dessen eisige Schönheit die Blicke der großen und kleinen Völker dieses kalten, geheimnisvollen Gebietes auf sich ziehen würde. Und all diese Völker, die in den Palast Zutritt hatten, würden leicht in ihm Platz finden und sich dort wohlfühlen wie in einer einträchtigen Familie, und im Zentrum des Palastes würde ein Ofen stehen und alle wärmen, und der wäre so groß wie das Haus des Vorsitzenden von Chulajba, und das Brennholz dafür, natürlich Birkenholz, würde mit einem Spezialflugzeug direkt aus Moskau eingeflogen werden.

Und irgendwann würde dann er, Pawel Aleksandrowitsch Dobrynin, mit diesem Flugzeug extra für einen Tag vorbeikommen, um den Palast zu betreten, die Völker zu begrüßen und ihnen zu erzählen, dass er, Volkskontrolleur der Sowjetunion, als es den Palast noch nicht gegeben hatte und noch kein einziger von seinen Ziegeln aus dem Eis des Flusses herausgebrochen war, die Stärke des Eises höchstpersönlich geprüft hatte, um die Entscheidung über den Baubeginn für diese Großbaustelle des Nordens zu treffen.

„Heee!“ Plötzlich drang ein leises, langgezogenes Rufen an Dobrynins Ohr.

Dobrynin blieb stehen, blickte in die Richtung des Rufes und sah ganz in der Nähe, ungefähr zwanzig Schritte neben ihm, den auf dem Schnee sitzenden Waplach in einem Rentierpelz, der vollkommen weiß und sehr lang war. Wäre sein Gesicht nicht so braun gewesen wie das aller Einheimischen, dann hätte Dobrynin ihn vor dem Hintergrund des Schnees gar nicht erkennen können.

„Na, was möchtest du denn?“, fragte er den Urku-Jemzen.

Waplach schaute in die Richtung, in die der Funker gegangen war, und als er ihn nicht mehr sehen konnte, stand er auf und näherte sich dem Kontrolleur.

„Zuerst begrüße ich dein glattes Gesicht und deine Weisheit, dann sprechen wir…“, sagte Waplach.

„Grüß dich!“, antwortete Dobrynin. „Also, worüber sprechen wir? Sag schnell, ich muss arbeiten.“

„Der Russe Dobrynin soll nicht zum Messstab gehen“, sagte der Urku-Jemze leise, beinahe flüsternd. „Es wird ein Unglück geben! Ich habe es gesehen: Der russische Funker führt den Russen Dobrynin zum Fluss, und ich bin mitgegangen, weil ich dachte – geh nicht – es wird ein Unglück geben!“

„Was für ein Unglück?“ Dobrynin sah Waplach bestürzt an. „Welches Unglück?“

„Wozu reden?“, antwortete Waplach darauf. „Besser das Volk der Urku-Jemzen zeigt es dem Russen Dobrynin…“

Und Waplach packte Dobrynin am Ärmel seines Mantels und zog den Volkskontrolleur hinter sich her, wobei er vorsichtig voranschritt und kurze Pausen vor jedem neuen Schritt machte.

Eine ungute Vorahnung brachte Dobrynin dazu, dem Urku-Jemzen voll und ganz zu vertrauen, und er folgte ihm. Dabei hörte er, wie das Eis unter ihren Füßen leise knackte, und er dachte bei sich, dass es wahrscheinlich noch etwas früh wäre, Ziegel aus dem zugefrorenen Fluss zu brechen, da das Knacken des Eises schließlich bedeutete, dass es noch nicht sehr dick und fest zugefroren war.

„Hier!“, hauchte der Urku-Jemze, nachdem er stehen geblieben war. „Jetzt zeige ich es dem Russen Dobrynin…“

Und Waplach beugte sich hinunter, wischte mit der Hand über das Eis und befreite es von einer dünnen Schneeschicht. Vor den Augen des Urku-Jemzen und des Volkskontrolleurs wurde ein schmaler Streifen von durchsichtigem Eis sichtbar, und dort unten, in einer aufgrund der optischen Verzerrung ungewissen Tiefe, schimmerte es bläulich.

„Waplach zeigt es jetzt…“ Der Urku-Jemze kroch auf allen vieren weiter und wischte dabei den Schnee vom Eis.

Dobrynin ging in die Hocke und schaute aufmerksam in die Tiefe: Direkt unter ihm im Eis lag in einer seltsam schwebenden Pose ein Mensch, der eine blaue Hose und eine dunkle Lederjacke trug, und neben ihm, näher an der Oberfläche des Eises, hing eine gelbe Aktentasche.

„Wer ist das?“, entfuhr es Dobrynin, und plötzlich fühlte er, wie ihm eine Welle des Entsetzens über den Rücken lief. Er begriff schlagartig, dass der im Eis eingefrorene Mann selbstverständlich tot war und dass sein Tod furchtbar und unerwartet eingetreten sein musste, als er mit seiner Aktentasche unterwegs gewesen war.

„Waplach sah diesen Russen in Chulajba. Er ging zum Russen Kriwizkij und dann schickte man ihn die Stärke des Eises messen… Waplach zeigt noch etwas!“

Der Urku-Jemze kroch ein wenig zur Seite, säuberte ein weiteres Stück der Eisoberfläche und als Dobrynin herangetreten war, sah er noch einen Mann, der im Eis eingeschlossen war. Dieser Mann lag mit dem Gesicht nach oben, und aus irgendeinem Grund hatte er keine Mütze auf, obwohl er einen Rentierpelz trug. Wie ein Fächer standen ihm die wirren roten Haare auf beispiellose Weise vom Kopf ab, und sein Gesicht, von Sommersprossen übersät, die man sogar durch das Eis sehen konnte, war in einem flehenden Ausdruck erstarrt.

„Diesen hat Waplach auch in Chulajba gesehen“, sprach der Urku-Jemze.

Dobrynin hatte es den Atem verschlagen, und ihm waren unwillkürlich Tränen aufgestiegen, aber sogleich schmerzten und brannten ihm die Augen, weil die Tränen gefroren waren und nun kratzten.

„Der Russe Kriwizkij hat sie zum Sterben hierhergeschickt…“, sagte Waplach mit trauriger Stimme. „Sie haben sich mit dem Russen Kriwizkij ein wenig gestritten.“

Ein schrecklicher Verdacht beschlich Dobrynin, während er die beiden im Eis eingeschlossenen Männer ansah: Hatte ihn etwa der gleiche Tod erwartet? Hat ihn der Kommunist Kriwizkij etwa aus irgendeinem Grund umbringen wollen?

„Der Russe Dobrynin kann unmöglich nach Chulajba zurückkehren“, sagte Waplach und sah dem Volkskontrolleur respektvoll in die Augen.

„Und wo soll ich hin?“, fragte Dobrynin fassungslos und buchstäblich in Furcht um sein Leben.

„Waplach hat ganz in der Nähe ein gutes Zelt mit Ofen… es ist warm und es gibt etwas zu essen…“

Dobrynin wandte sich von den im Eis erstarrten Männern ab und versuchte, sich zusammenzureißen und alles ernsthaft zu überdenken, aber ihm wollte nichts einfallen. Die Angst, die den Volkskontrolleur im Innersten umklammert hielt, verließ ihn nicht. So saß er also da, starrte mit traurigem Blick in den nichtssagenden Schnee, nur um das ganze Ausmaß des Grauens nicht sehen zu müssen, das ihm das Bild im Eis unter ihm geboten hatte.

„Der Russe Dobrynin soll mit mir kommen“, rief der Urku-Jemze, kam näher und blieb vor dem Volkskontrolleur stehen.

„Nein“, sagte Dobrynin und ballte die Hände zu Fäusten. In ihm stieg Wut auf, die das Gefühl von Angst und Hilflosigkeit verdrängte. „Das muss geklärt werden…“, sagte Pawel langsam, aber seine Stimme klang schon anders, entschiedener. „Es muss geprüft werden, warum sie umgekommen sind… und aus welchem Anlass.“

Dobrynin nahm den Sack von seiner Schulter, holte die Axt daraus hervor und hieb mit Schwung ins Eis direkt oberhalb des Kopfes von dem Mann mit der gelben Aktentasche.

„Wir müssen sie doch auf anständige Art begraben“, meinte Dobrynin, während er das Eis mit dem schweren Werkzeug zersplitterte, „entweder in einem Sarg oder in einer Truhe, sie wenigstens ins Lager überführen, wie Menschen…“

Unter den Hieben der Axt splitterten Eisstückchen ab, jedoch der Widerstand des Eises war groß. Dobrynin hatte innegehalten, um Atem zu holen, weil er schon fühlte, wie seine Arme ermüdeten, als er sah, dass er ein Loch von der Tiefe einer Zündholzschachtel herausgeschlagen hatte. Er begriff, dass es ihm nicht gelingen würde, die Verstorbenen aus ihrer eisigen Gefangenschaft zu befreien. Wieder ergriff ihn Bestürzung, allerdings nicht mehr Angst, sondern eine unbegreifliche Kränkung wie bei einem Kind. Er blickte auf die gelbe Aktentasche und dachte, dass er wenigstens diese aus dem Eis herausschlagen musste, da sie möglicherweise Dokumente und Unterlagen enthielt.

Dobrynin machte sich also daran, mit der Axt auf das harte Eis oberhalb der Aktentasche einzuschlagen.

Waplach hatte sich ein paar Schritte weit entfernt und beobachtete von dort aus Dobrynin, der mit dem schweren und scharfen Werkzeug und mit neuer Kraft das Eis zerhackte. Dabei sagte er etwas Böses und für den Urku-Jemzen Unverständliches, was aber dem Tonfall nach der Beschwörung des bösen Geistes Kappa sehr ähnlich war.

„He, Waplach, hilf mir!“, rief Pawel, als er nach einiger Zeit innehielt.

Der Urku-Jemze kam näher und sah, dass der Volkskontrolleur das ganze Eis oberhalb der Aktentasche und seitlich auch ein wenig davon weggehackt hatte, sodass das Eis die Tasche nur noch von unten hielt. Aber Dobrynin, der mit Sicherheit schon ordentlich müde war, konnte die Tasche nicht allein aus dem Eisloch reißen.

Gemeinsam packten sie die Tasche und zerrten mit vier Händen daran.

„So, noch einmal!“, kommandierte Dobrynin. „Und noch einmal!!“

Nach einigen Versuchen gab die Aktentasche schließlich nach und mit einem Knacken rissen Dobrynin und Waplach sie von der unteren Eisschicht los.

Der Volkskontrolleur öffnete sie sogleich, steckte seine Hand hinein, zog sie aber sofort wieder heraus und bemerkte:

„Alles zugefroren…“

„Wir müssen sie am Herd wärmen, dann taut sie auf“, schlug der Urku-Jemze vor.

„Also gehen wir!“ Dobrynin richtete sich auf, klemmte sich die Aktentasche unter den Arm und steckte die Hände in die Manteltaschen – sie waren schon blau-violett vor Kälte.

Der Urku-Jemze führte ihn zu einem nahen Hügel, aber nicht in die Richtung, in der sich die Stadt Chulajba befand. Obwohl sie sich nicht beeilten, gingen sie nicht lange.

„Dort gibt es Stellen“, erklärte der Urku-Jemze, „wo das Eis ganz dick ist, aber gleich daneben, etwas näher zum Ufer hin, ist es so dünn wie eine Rentierhaut… Und den Stab hat der Russe Schenderowitsch dort aufgestellt, damit man nicht hingeht. Dort ist das Eis am dünnsten!“

„Und was ist das für ein Schenderowitsch?“, fragte Dobrynin, der sich schon ein wenig beruhigt hatte und sich von den düsteren Gedanken ablenken wollte, die nach der soeben durchlebten Angst in seinem Kopf kreisten.

„Es gab einen solchen Mann vor dem Russen Kriwizkij“, erzählte der Urku-Jemze im Gehen. „Er war ein guter Mensch, sammelte keine Parteibeiträge ein, hat mich von einer Krankheit geheilt… alle haben ihn geachtet.“

„Und wo ist er jetzt?“, wollte der Volkskontrolleur wissen.

„Jetzt gibt es ihn nicht mehr.“ Waplach stieß einen Seufzer aus. „Ein Bär hat ihn getötet.“

Waplachs Zelt stand in der Vertiefung zwischen zwei winzigen Hügeln. Es war klein, nur halb so groß wie der Balagan, dafür aber konnte Dobrynin, sobald sie hineingegangen waren, sogleich die Wärme dieser dunklen, fensterlosen Behausung spüren, in deren Mitte ein Ofen prangte, der wie bei allen aus einem Benzinfass bestand. Durch das seitlich ausgeschnittene Loch fiel ein rötlicher Schein auf den Rentierpelzboden.

„Aaah.“ Waplach beugte sich zum Ofen. „Gut, dass er nicht erloschen ist… ich muss noch Flechten nachlegen…“ Und er hob ein Rentierfell vom Boden hoch und holte darunter einige braune Stücke hervor. Er warf sie in den Ofen und wandte sich dann erst Dobrynin zu, um ihm eine ähnliche Liege wie bei Abunajka zum Sitzen anzubieten.

„Möchte der russische Gast etwas essen?“, fragte der Urku-Jemze. Der Volkskontrolleur nickte. Daraufhin stellte Waplach einen kleinen Kessel mit Essen auf den Herd.

„Wir müssen die Aktentasche auftauen…“, sagte Dobrynin nachdenklich und sah den Urku-Jemzen sehr freundlich und respektvoll an.

Waplach nahm dem Volkskontrolleur die gelbe Aktentasche aus der Hand und stellte sie neben den Ofen.

„Sie wird bald aufgetaut sein“, sagte er. Dann setzte er sich neben Dobrynin und fragte:

„Und warum ist der Russe Dobrynin hierhergekommen?“

„Ich bin zum Überprüfen gekommen“, erwiderte der Volkskontrolleur kurz und dachte wieder über das schreckliche Schicksal der im Eis erstarrten Männer nach.

„Und was wird der Russe Dobrynin überprüfen?“

„Ich habe das Recht, alles zu überprüfen: die Arbeit, das Leben, die Ordnung…“

„Aaah…“, zog Waplach in die Länge. „Einer der Toten ist auch zum Überprüfen hergekommen. Ich habe ein bisschen was bei einem Gespräch mitgehört. Sie haben sich wegen der Japaner gestritten…“

„Wegen welcher Japaner?“ Dobrynin spitzte die Ohren.

„Na die, die die Parteibeiträge abholen“, antwortete der Urku-Jemze. „Dieser Russe wollte sie sehen, aber der Russe Kriwizkij sagte, dass es hier keine Japaner gäbe.“

„Was denn nun, gibt es hier welche oder nicht?“, fragte Dobrynin sehr ernst.

„Hier gibt es keine, aber sie kommen die Parteibeiträge abholen. Ich habe es selbst gesehen. Sie fahren mit einer Schneemaschine zum Speicher, laden alle Felle auf, dann übergeben sie dem Russen Kriwizkij irgendein Kästchen, verbeugen sich und fahren weg bis zum nächsten Mal.

Da sieh mal einer an!, dachte Dobrynin und wurde noch verdrossener.

Er hatte keinesfalls erwartet, dass er hier im hohen Norden mit einer solchen Unordnung zu tun bekommen würde, die man noch nicht einmal so nennen konnte, denn in der Tat sah alles noch weit ernster aus.

Das alles war ein schreckliches Verbrechen und der Verbrecher war der leitende Kommunist der Stadt Chulajba. Dieser Gedanke erschreckte Dobrynin, sein gerechter Zorn war allerdings stärker als der Schreck, und nachdem er weiter überlegt hatte, verstand der Volkskontrolleur, dass ein Kommunist kein Verbrecher sein konnte, was bedeutete, dass man Kriwizkij nicht als Mitglied der Partei Lenins gelten lassen durfte. Es war ganz undenkbar, dass Kriwizkij und Genosse Kalinin derselben Partei angehörten.

Und Dobrynin begriff, dass Kriwizkij eben einer dieser Feinde war, über die oft in der Zeitung geschrieben wurde und die unter dem Deckmantel der Parteimitgliedschaft ihre dunklen Machenschaften ausübten. In Hinblick auf Kriwizkij war Dobrynin alles klar, aber zugleich tauchten viele Fragen auf: Wer wusste von dem Vorfall, warum hatte der Komsomolze Zybulnik dem Volkskontrolleur nichts gesagt, warum hatte der Funker Wasja Poltoranin, der Dobrynin zum Fluss geführt hatte, ihn nicht vor der Lebensgefahr gewarnt? Hatte er es denn etwa nicht gewusst?

Der Volkskontrolleur seufzte tief. War das Leben wirklich so grausam?

„Das Essen ist fertig“, sagte Waplach und berührte mit dem Finger die Wand des Kessels, der auf dem Ofen stand.

Dobrynin sah den Urku-Jemzen an. Pawel war die Lust zu essen vergangen, aber er wollte seinen Retter auf keinen Fall kränken.

„Etwas später“, sagte er und wieder versank er in Gedanken.

„Der Russe Kriwizkij ist ein böser Mensch“, nickte Waplach, als ob er die Gedanken des Volkskontrolleurs gelesen hätte und ihnen laut zustimmen wollte.

„Weißt du was, Waplach“, sagte Dobrynin. „Nenn ihn bitte keinen Russen. Was ist er denn für ein Russe?! Er hat ja das Gesicht einer Frau.“

„In Ordnung“, war der Urku-Jemze einverstanden. „Und wie soll man ihn dann nennen?“

„Nenn ihn einfach Kriwizkij, obwohl er natürlich ein Dreckskerl ist. Und er muss hart bestraft werden für alles, was er getan hat.“

Der Gedanke an Bestrafung gefiel Dobrynin und er fuhr fort, sich eine solche auszumalen, aber sein Respekt vor Ordnung bremste ihn ein, schließlich wusste er, dass man nur von einem Richter oder einem Menschen bestraft werden konnte, der dafür eine besondere Genehmigung hatte. Dobrynin selbst jedoch verfügte nur über eine Bewilligung zur Überprüfung und Kontrolle, das bedeutete, dass er nichts tun konnte, was nicht in dieser Vollmacht stand. Diese Gedanken stimmten den Volkskontrolleur traurig.

„Möchte der Russe Dobrynin vielleicht Tarasun trinken?!“, schlug Waplach vor, als er Pawels finsteres Gesicht sah.

„Hör zu“, stieß Dobrynin hervor. „Sag nicht Russe zu mir!“

„Aber warum, ist Dobrynin kein Russe?“

„Doch, ich bin Russe, aber nenn mich einfach Pawel. Du bist Waplach, ich bin Pawel. Verstanden?“

„Ja“, nickte der Urku-Jemze. „Und möchte Pawel Tarasun?“

„Nein“, erwiderte Dobrynin scharf. „Wir müssen etwas tun anstatt Wodka zu trinken! Wir müssen den Verbrecher bestrafen, aber hier gibt es ja gar keinen Richter oder etwas Ähnliches. Und ich selbst, verstehst du, Waplach, habe nicht das Recht ihn zu bestrafen…“

„Abunajka ist ein kluger Mann, wir müssen mit ihm sprechen!“, schlug der Urku-Jemze vor.

„Dein Abunajka ist der Stellvertreter von Kriwizkij!“

„Das macht nichts!“, lächelte Waplach. „Dafür ist er klug! Ich gehe zu ihm und bringe ihn her. Pawel kann inzwischen etwas essen!“


Der Urku-Jemze ging los und ließ Dobrynin in dem kleinen behaglichen Zelt allein. Die trockenen Flechten prasselten im Ofen; Pawel wurde warm und er knöpfte sogar seinen Rentierpelz auf, den er wegen des rauen Klimas schon lange nicht mehr abgelegt hatte. Dann beugte er sich über die gelbe Aktentasche und öffnete sie. Die Papierblätter darin waren feucht, aber der Volkskontrolleur fühlte mit den Fingern, dass man sie nun schon voneinander lösen konnte, und so zog er das ganze Päckchen heraus, setzte sich auf den Boden neben den Ofen und legte es auf seine Knie. Vorsichtig löste er das oberste Blatt, rückte näher an das Feuerloch des Ofens und versuchte im rötlichen Schein der schwelenden Flechten zu lesen, was auf dem Blatt geschrieben stand. Aber so sehr er seine Augen auch anstrengte, er konnte nichts erkennen, denn die Tinte auf dem aufgeweichten Papier war zerronnen und nur einzelne Wortteile ließen sich unterscheiden, die aber keinen Sinn ergaben. Für alle Fälle legte Dobrynin das erste Blatt auf den Boden neben den Ofen in der Annahme, dass es, wenn es erst ganz trocken war, vielleicht doch besser zu entziffern sein werde. Er nahm das nächste Blatt zur Hand und hob es an das schwache Licht des Ofens.

„Durch die Worte des einheimischen Bewohners Barulaj“, las Dobrynin den gut erhaltenen Text, der mit einem Kopierstift geschrieben war, „erfuhr ich vom bestialischen Mord an Schenderowitsch, Parteimitglied der SDAPR, abgesandt zur Einführung der Sowjetmacht in der jakutischen Stadt Chulajba. Der Mord wurde von Genosse Kriwizkij in Auftrag gegeben, der zur Unterstützung des Genossen Schenderowitsch abgesandt worden ist und der in eine Verschwörung mit japanischen Imperialisten verwickelt ist. Es gibt auch Grund zur Annahme, dass Genosse Kriwizkij schuld ist am mysteriösen Verschwinden des gesamten nordischen Volkes der Urku-Jemzen, das sich durch einen hohen Bildungsgrad auszeichnet und bei dem jeder Einzelne gut Russisch spricht. Dieses Volk ist nach dem Mord an Genosse Schenderowitsch spurlos verschwunden. Vor seinem Verschwinden zählte das Volk der Urku-Jemzen laut Aussagen Einheimischer anderer Volkszugehörigkeiten hundertzwanzig Menschen inklusive Frauen und Kinder. Ich halte es für unumgänglich, eine Spezialkommission hierherzusenden zur vollständigen Aufklärung der von Genosse Kriwizkij und seinen Handlangern vollzogenen Verbrechen. Unterschrift:

Jegorow Jegor Fjodorowitsch, Volkskontrolleur der Sowjetunion.“

Da haben wir’s!, dachte Dobrynin besorgt, als er zu Ende gelesen hatte. So verfährt man hier also mit Volkskontrolleuren… Und Dobrynin war zum Weinen zumute, aber nicht klagend wie eine Frau, sondern so wie echte Bolschewiken auf dem Begräbnis ihrer Genossen weinen – ohne Tränen und lautlos, ein innerliches Weinen, das das Leid mit jedem Tropfen seines Blutes fühlt. Und es überkam ihn die Lust, sich zu betrinken, aber Dobrynin vermochte diesen Wunsch zu unterdrücken. Wieder dachte er daran, dass man Kriwizkij vor Gericht bringen musste und zwar in aller Öffentlichkeit. Und wieder kam die Frage auf: Wie? Und vor welches Gericht?

Angesichts seiner Hilflosigkeit biss sich Pawel auf die Lippen und schmeckte auf der Zunge den Geschmack seines eigenen Blutes.

Das Flechtenfeuer prasselte gemächlich und fröhlich vor sich hin.

Da näherte sich jemand dem Zelt – das Knirschen des lockeren Schnees war zu hören.

Erwartungsvoll blickte Dobrynin zum niedrigen Eingang der Behausung, der zwei- oder dreifach mit Rentierfellen verhängt war.

Sie traten zu zweit ein – Waplach und Kriwizkijs Stellvertreter Abunajka. Der Alte verbeugte sich höflich vor dem Volkskontrolleur.

„Ich begrüße dein glattes Gesicht und deine Weisheit!“, sagte er und ließ sich neben Dobrynin auf dem weichen, pelzigen Boden nieder. „Urku-Jemze Waplach hat mir viel erzählt… und Russe Kriwizkij hat eben erst gesagt: Weit gereister Gast ist im Fluss ertrunken. Ich dachte – ein Unglück, aber Waplach kommt und holt mich hierher…“

„Ja…“, sagte Dobrynin und unterbrach die unzusammenhängende Rede des Alten. „Waplach hat gesagt, dass Sie ein kluger Mann sind. Wissen Sie, was Kriwizkij für ein Mensch ist?!“

„Abunajka ist klug“, nickte der Alte. „Abunajka kennt schlechten Russen Kriwizkij, Abunajka weiß von Japanern, Abunajka weiß viel…“

„Aber warum wusste Genosse Abunajka Bescheid über diese Gesetzwidrigkeiten und hat nichts getan?“, fragte der Volkskontrolleur streng.

„Und was hätte Abunajka tun können? Abunajka ist nicht stark, sondern alt und kein Russe. Es muss Russe kommen und Russen bestrafen, aber Abunajka kann nicht sagen, dass Russe schlecht ist, niemand glaubt Abunajka…“

„Ist schon gut.“ Dobrynin winkte ab, erschöpft vom Wortschwall des Alten. „Sagen Sie, Genosse Abunajka, gibt es hier ein eigenes Gericht?“

„Gericht?“, erwiderte der Alte.

„Ja, wenn jemand etwas stiehlt oder jemanden tötet, bestraft ihr ihn dann?“

„Jaaa…“, antwortete der Alte.

„Heißt das, dass es Regeln dafür gibt und Sie wissen, wie bestraft wird?“, verdeutlichte Pawel.

„Natürlich, Abunajka weiß es!“, bestätigte der Alte.

„Dann kann euer Gericht auch Kriwizkij bestrafen?“, fragte Dobrynin und blickte dem Alten direkt in die Augen.

Abunajka überlegte, fuhr mit seiner trockenen, gelblichen Hand zu seinem Mund und berührte damit seinen spitzen, kurzen Bart.

„Wahrscheinlich ist es möglich“, meinte er schließlich.

„Na dann, ergreift ihn und richtet über ihn!“, erwiderte Dobrynin im Befehlston.

„Abunajka geht zu Volk, wird Gericht vorbereiten und Russe Dobrynin wird zu Gericht geholt!“

Der Alte stand auf, verbeugte sich vor dem Kontrolleur und ging fort.

„Der Russe hat noch nicht gegessen?“, fragte Waplach. „Er muss essen, sonst wird ihm kalt…“

„Also gut, gib schon her“, seufzte Pawel müde. Der Urku-Jemze nahm den Kessel vom Ofen, leerte Suppe in zwei Tonschüsseln und reichte eine dem Volkskontrolleur. Er gab ihm auch einen weißen, knöchernen Löffel. Ach, und jetzt noch Brot dazu!, dachte Dobrynin kummervoll. Die Suppe war stark gesalzen, aber durchaus genießbar. Pawel aß sie schnell auf und erinnerte sich an die erste Lenin-Erzählung und an die darin vorkommende schlecht schmeckende Nationalsuppe. Das war wahrscheinlich nicht hier, dachte Dobrynin.

Der Urku-Jemze aß langsam und schmatzte dabei laut. Als er fertig gegessen hatte, stellte er die leere Schüssel auf den Boden neben den Ofen und schlug erneut vor, Tarasun zu trinken. Dieses Mal lehnte Dobrynin nicht ab. In seinem Mund machte sich sofort ein angenehmes Gefühl breit, aber auf seinem Herzen lasteten die Eindrücke dieses Tages immer noch wie ein schwerer Stein, und Pawel konnte an nichts anderes denken.

„Abunajka macht alles“, sagte Waplach, der wieder Pawels Gedanken erriet. „Er spricht mit dem Volk, das Volk hört auf ihn.“

Danach saßen sie schweigend da. Sie tranken Tarasun und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.


Es war nicht viel Zeit vergangen, vielleicht zwei Stunden, vielleicht drei, da war wieder das Knirschen des Schnees zu hören. Abunajka trat mit geschäftigen, schnellen Schritten in das Zelt. Auf seinem runden, gebräunten Gesicht lag ein so ernster Ausdruck, dass Dobrynin sofort aufstehen wollte. Schließlich rufen ernste Menschen immer Respekt hervor.

„Gericht ist bereit“, sagte der Alte. „Hunde warten. Wir müssen fahren.“

Sie gingen hinaus und setzten sich in den Schlitten. Der Alte rief den Hunden etwas zu und knallte mit einer kurzen Peitsche. Unterwegs knöpfte Pawel seinen Pelz zu, obwohl ihm nach dem Tarasun warm geworden war.

„Wo findet das Gericht statt? In Chulajba?“, fragte er den Alten, der vor ihm saß.

„Warum in Chulajba?“ Der Alte zuckte mit den Schultern. „Gericht wird an gutem Ort sein, dort, wo es immer ist.“

Die Hunde liefen flink. Der Schnee unter den Schlittenkufen sang beinahe, und das gefiel Dobrynin und beruhigte ihn.

Neben ihm saß der Urku-Jemze. Er hatte die Augen geschlossen und sang ebenfalls leise, so als würde er in den Schneegesang einstimmen. Er sang etwas in seiner urku-jemzischen Sprache. Das Lied war schwermütig und traurig und Pawel schloss daraus, dass Waplach in diesem Lied wohl das tragische Schicksal des Volkes der Urku-Jemzen besang. Pawel wollte ihn genauer befragen, was mit seinem Volk passiert war, aber er konnte sich nicht entschließen, das Lied zu unterbrechen.

Die Hunde liefen schnell, und Dobrynin beobachtete mit Vergnügen, wie sie liefen. Sie waren schön und flaumhaarig, nur eines fehlte Pawel – er wünschte sich, dass diese Hunde beim Laufen bellten, aber sie liefen schweigend, und Dobrynin konnte ihr Schweigen verstehen. Schließlich hielt auch er selbst bei diesem Aufenthalt unter dem Himmel des Nordens den Mund geschlossen, um die stechende, frostige Luft nicht in sich hineinzulassen. Und vermutlich bellten die Hunde aus ebendiesem Grund nicht.

Um sie herum hoben und senkten sich schneebedeckte Hügel, alles war eintönig und unwirtlich.

Nachdem sie auf der Kuppe des nächsten Hügels angelangt waren, hielt Abunajka die Hunde mit einem Zuruf an und blickte nach allen Seiten. Dann rief er wieder etwas und die Hunde zogen den Schlitten den sanft abfallenden Abhang hinab.

Dobrynin blickte nach vorn und sah einen Platz von bräunlicher Farbe, der vom Schnee befreit war, sowie noch einige andere Hundegespanne und einen Rentierschlitten. Auf dem Platz standen Menschen, die mit irgendetwas beschäftigt waren, mit was genau, war aus dieser Entfernung nicht zu erkennen.

Nach kurzer Zeit hieß Abunajka die Hunde am äußersten Rand des Platzes stehenbleiben, und die Hunde freuten sich, als sie ihre Artgenossen sahen, und wedelten einander mit ihren flaumhaarigen Schwänzen zu.

Pawel trat näher zu den Einheimischen heran und erkannte, dass er schon einmal auf diesem Platz gewesen war – der Komsomolze Zybulnik hatte ihn auf dem Weg nach Chulajba mit dem Propellerschlitten hierhergebracht. Und genau so wie damals stand der Holzpfahl mit der an der Spitze befestigen Iljitsch-Büste, auf deren Schulter etwas eingeritzt war. Ja, das war derselbe Ort, der „Leninwinkel“, wie ihn der Komsomolze genannt hatte.

Wie sich herausstellte, hatten die Einheimischen Brennholz mitgebracht und waren gerade damit beschäftigt, das Holz auf einer besonderen quadratischen Feuerstelle anzuordnen, das Feuer brannte aber noch nicht.

„Und wo ist Kriwizkij?“, erkundigte sich Pawel bei Abunajka.

„Gleich-gleich da“, antwortete der Alte. Waplach ging zum Holzpfahl und sagte etwas in seiner Sprache, während er hinauf zum Gesicht des Führers blickte.

„Heee!“, ließ sich von irgendwoher vernehmen und Pawel drehte sich um und sah, wie einige Hundegespanne näher kamen. Als sie am Platz angekommen waren, hielten sie an. Auf einem davon lag bäuchlings Kriwizkij.

Pawel trat heran und betrachtete den Vorgesetzten von Chulajba. Der war von Kopf bis Fuß mit dünnen Riemen aus Rentierleder gefesselt. Er stammelte etwas, das aber schwer zu verstehen war.

Waplach unterhielt sich inzwischen mit den Leuten, die soeben gekommen waren. Dann drehte er sich zu Dobrynin um.

„Sie sagen, dass der Russe Zybulnik auf der Schneemaschine entkommen ist, und den Russen Poltoranin haben sie gefesselt und in der Stadt gelassen. Er ist ein guter Mensch, er hat kein einziges Mal ‚Burajsy‘ gesagt.“

„Burajsy?!“, wiederholte Dobrynin und dachte nach – das war doch die Parole, die ihm der Komsomolze für den Markt gegeben hatte. „Und was heißt dieses Wort?“

„Ich bringe dich um“, antwortete Waplach.

Pawel machte einige Schritte rückwärts und sah den Urku-Jemzen zögernd an.

„Was sagst du da?“, fragte er.

„Ich meine damit: ‚Burajsy‘ bedeutet in der einheimischen Sprache ‚Ich bringe dich um‘“, erklärte Waplach. „Das ist dieses Wort, das der Mann Kriwizkij sehr geliebt hat.“

„Und das als Parole!“ Dobrynin schüttelte den Kopf und blickte mit einer gehörigen Portion gerechten Zorns auf den liegenden Kriwizkij.

Der Alte Abunajka, der sich in der Nähe des Idols gemeinsam mit den anderen zu schaffen machte, tauchte plötzlich hinter Dobrynin auf.

„Wir können anfangen“, sagte er. „Gericht ist bereit.“

„Dann fangt also an!“, bestimmte Pawel.

Einige der einheimischen Männer, die alle ausgesucht klein, untersetzt und dem Anschein nach ziemlich stark waren, gingen zum Schlitten, hoben Kriwizkij herunter und trugen ihn zum Pfahl, wo sie ihn auf die vorbereitete quadratische Feuerstelle legten.

Erst jetzt begriff Dobrynin, welche Strafe Abunajka für Kriwizkij vorgesehen hatte, und er trat an den Alten heran.

„Wollen Sie ihn etwa verbrennen?“, fragte er.

„Ja“, nickte der Alte. „Russe Kriwizkij hat sehr viel Böses getan, sieben Menschen umgebracht, ein Volk ist wegen ihm verschwunden… wir müssen ihn verbrennen…“

Natürlich, dachte Dobrynin, solche Verbrecher muss man töten. Aber etwas in Pawel protestierte gegen diese Art von Todesstrafe, und wieder suchte er den Alten am Feuer, ging zu ihm und fragte:

„Habt ihr vielleicht eine andere Strafe, also auch eine Todesstrafe, nur ohne Feuer?“

„Ja, natürlich“, nickte Abunajka. „Im Sommer, jetzt geht es nicht. Erde ist hart, ganz gefroren.“

„Und was macht ihr im Sommer?“, wollte der Volkskontrolleur wissen, mehr aus Neugier als aus Notwendigkeit.

„Wenn jemand Menschen oder heiligen Bären umbringt, dann muss er gemeinsam mit Getötetem lebendig in Grube begraben werden.“

„Ja“, sagte Dobrynin und sah auf die harte, braune Erde unter seinen Füßen. „Das geht nicht. Na gut, fangt an.“

Abunajka rief seinen Leuten etwas zu und diese entfernten sich von der Feuerstelle, auf der der gefesselte Kriwizkij lag.

Dann führte ein sehr junger Bursche einen Krug mit Milch-Wodka an den Mund des Vorsitzenden von Chulajba, flößte ihm ein wenig davon ein und goss dann den Tarasun über Kriwizkijs Haar.

„Wartet!“, rief Pawel plötzlich. Abunajka sah Pawel abwartend an und sagte etwas zu dem Burschen.

Der Bursche trat zur Seite.

„Ich möchte ihn etwas fragen!“, erklärte Dobrynin und er trat selbst zu Kriwizkij, der auf dem Rücken lag.

„Warum hast du den Volkskontrolleur Jegorow umgebracht?“, fragte Dobrynin und beugte sich dabei zu Kriwizkijs Gesicht hinab. „Und wer ist der Zweite?“

Kriwizkij blickte den Volkskontrolleur mit solcher Abscheu an, dass Pawel zurückwich. Ihm wurde klar, dass Kriwizkij ein hinterhältiger Feind war, der nicht nur Dobrynin, sondern das ganze Sowjetland hasste. Es war also zwecklos, mit ihm zu sprechen, aber Pawel versuchte, dem Feind noch eine letzte Frage zu stellen. Er fragte ihn nach dem Schicksal des Volkes der Urku-Jemzen, aber auch auf diese Frage folgte nur ein verächtliches Schnauben, und Kriwizkij wandte sich sogar demonstrativ ab.

Dobrynin seufzte schwer und trat beiseite. Dann fand er mit seinem Blick Abunajka und gab ihm ein Zeichen mit dem Kopf, dass sie anfangen könnten.

Abunajka zündete das Feuer höchstpersönlich an. Es war dafür viel Holz vorbereitet, das in einer Höhe von anderthalb Metern aufgeschlichtet war. Kriwizkij versuchte sich umzudrehen oder gar auf den Boden hinunterzurollen, aber es gelang ihm nicht – die Fesseln lagen zu fest an.

Der Alte sang etwas, richtete seinen Blick auf die Führerbüste und verbeugte sich vor ihr. Bald stimmten die anderen in Abunajkas Gesang mit ein.

Die Flammen loderten auf, das Holz knackte laut und melodisch. Dobrynin gefiel dieses Knacken, das ihn an den Ofen in seiner Hütte erinnerte, aber da störte Kriwizkij das Geräusch, indem er einen Fluch ausstieß.

Dem wurde jedoch keine Beachtung geschenkt, die Einheimischen unterbrachen nicht einmal ihr Lied.

Dobrynin gefiel die Art des Richtens nicht sehr, aber er begriff, dass alles nach den örtlichen Nationalgesetzen ablief, die man, wie Lenin gelehrt hatte, respektieren musste. Jedoch beschloss Pawel, nun von hier fortzugehen. Und er ging zum Urku-Jemzen, der bereitwillig zustimmte, Dobrynin nach Chulajba zu bringen.

Mit dem Schlitten brauchten sie nicht lange bis zur Stadt. Als Erstes fuhren sie zum großen Holzhaus, in dem sich das Büro des Vorsitzenden befand. Dobrynin ging hinein, blieb knapp vor dem Tisch stehen, betrachtete das Pelzporträt und warf dann einen Blick in das andere Zimmer, wo er den Funker auf einen Stuhl vor dem Funkgerät gefesselt fand.

„Also?“, fragte ihn Dobrynin.

„Was kann denn ich dafür?!“, jammerte Poltoranin ganz leise und heiser. „Ich bin der Funker. Woher soll ich denn wissen, wer diese Felle abholen muss: die Japaner oder die Chinesen?“

„Und hast du von den Morden gewusst?“, fragte Pawel mit strenger Stimme.

„Von welchen Morden?“, wimmerte der Funker. „Ich bin erst vor kurzem hierhergesandt worden, in der vorletzten Nacht…“

Vielleicht wusste er wirklich nichts?, dachte Pawel und betrachtete das Gesicht des Funkers noch einmal aufmerksam.

Er war ein einfacher Bursche, und die Tatsache, dass er so überaus erschrocken war, erschien dem Volkskontrolleur als ein Beweis seiner Unschuld.

„Na gut.“ Dobrynin trat näher und begann, die langen Lederriemen, mit denen Poltoranin gefesselt war, aufzuknüpfen. „Kriwizkij ist schon bestraft.“

„Und wie hat man ihn bestraft?“, fragte der Funker.

„Mit der Höchststrafe“, antwortete ihm Pawel. „Und ich muss jetzt nach Moskau, dem Genossen Kalinin von allem berichten… aber wie soll ich dorthin kommen?“

„Sie müssen zum Militär, die haben ein Flugzeug“, schlug Poltoranin vor, während er seine steifen Hände rieb.

Das Militär hatte Dobrynin ganz vergessen, aber tatsächlich – wenn es in der Nähe des Flugplatzes ein Militärlager gab, bedeutete das, dass auch das Militär selbst nicht weit sein konnte.

„Und wie kommt man dorthin?“, fragte Pawel.

„Mit dem Hundeschlitten“, erklärte Poltoranin. „Man könnte natürlich hinfunken, dass sie ein eigenes Fahrzeug herschicken.“

„Nicht nötig, wozu die Umstände!“, winkte der Kontrolleur ab. „Also, bleib du anstelle von Kriwizkij hier, und ich ersuche den Kreml, jemanden für Chulajba auszuwählen, der ein ehrlicher Mensch ist. Verstanden?“

„Ja, zu Befehl…“, antwortete der Funker.

„Komm, hilf mir, das Porträt von Kriwizkij von der Wand zu nehmen!“

Sie gingen gemeinsam in das Zimmer, schoben den Tisch an die Wand und Poltoranin nahm das Pelzporträt vom Nagel.

„Wofür brauchen Sie das?“, fragte der Funker.

„Ich möchte es Genosse Kalinin zeigen, als Beweis für das Verbrechen.“


Waplach saß auf dem Schlitten direkt vor dem Haus, als Dobrynin mit dem Porträt in Händen auf die Schwelle trat.

„Kennst du den Weg zum Militär?“, fragte Pawel. Der Urku-Jemze nickte.

„Dann fahren wir, aber zuerst bleiben wir bei dir stehen, um meinen Sack und die Aktentasche zu holen.“

„Zu zweit können wir nicht fahren, wir müssen Abunajka mitnehmen.“

Dobrynin fragte nicht nach, warum man nicht zu zweit fahren konnte. Er vertraute dem Urku-Jemzen. Wenn Waplach das sagte, dann gab es ernsthafte Gründe dafür. Sie fuhren zu Waplach, warfen noch ein paar Flechten in den Ofen, wärmten sich ein wenig und tranken jeder einen Krug Tarasun.

„So, jetzt können wir zu Abunajka fahren, er ist wahrscheinlich schon zu Hause“, meinte Waplach nach einiger Zeit. Abunajka war tatsächlich zu Hause.

„Es wird schon Morgen!“, war das Erste, was er zu den Ankommenden sagte, und er lächelte müde.

Pawel rümpfte die Nase – an dem Alten haftete ein schlechter Geruch nach Verbranntem und dazu kam noch der Geruch von Rentierurin, aus dem Abunajka nach den Worten des geflüchteten Komsomolzen irgendwelche Arzneien herstellte.

„Wir müssen zum Militär fahren!“, erklärte der Urku-Jemze dem Alten. „Der Russe Dobrynin hat es sehr eilig.“

Der Alte hatte ganz offensichtlich keine Lust, sich auf den Weg zu machen, aber er nickte dennoch.

„Wir fahren mit meinem Schlitten“, sagte Waplach, als er bemerkte, dass der Alte sich zu der kurzen Peitsche hinunterbeugte, die auf dem Boden lag.

„Gut“, war Abunajka einverstanden.

Sie verließen den Balagan. Erst in diesem Moment wurde Dobrynin bewusst, dass es um sie herum erstaunlich hell war. Das bedeutete, dass sowohl die Nacht als auch die Dämmerung zu Ende waren, und jetzt ringsum der Tag weiß und freudig regierte. Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte Pawel. Kriwizkij gab es nicht mehr, was gleichzeitig hieß, dass Dobrynin gewissermaßen für Ordnung und Gerechtigkeit gesorgt hatte. Aber er wusste, dass es bis zur endgültigen Ordnung noch weit war und dass es gar nicht in der Macht seines Bauernverstandes lag, eine solch tiefgreifende Ordnung mit all ihren Feinheiten einzuführen. Dafür würden gebildete Menschen hierherkommen müssen, und zwar mit Sicherheit aus großen Städten oder aus Moskau.

Sie nahmen auf dem Schlitten Platz. Der Urku-Jemze richtete sich vorne ein und ließ seine Peitsche über die flaumhaarigen Hunde knallen. Sie zogen die Riemen straff, bewegten den Schlitten von der Stelle und liefen leichtfüßig den Weg entlang, der mit dem Auge nicht zu sehen war und den nur die Bewohner dieser Gegend kannten.

Waplach, der den Hunden den Weg überließ, drehte sich um und sah Abunajka ernst und, wie es Dobrynin schien, erregt an. Obwohl sich der Alte im Halbschlaf befand, bemerkte er seinen Blick.

„Was möchtest du sagen?“, wandte er sich an den Urku-Jemzen. Links und rechts sausten die Hügel und der Schnee vorbei und die Kufen sangen ihr leises, sanft pfeifendes Lied.

„Das war nicht gut“, begann Waplach. „Ekwa-Pyris wird nicht zufrieden sein.“

„Warum nicht?“, fragte der Alte verwundert.

„Ein schlechter Mensch wurde geopfert. Ekwa-Pyris wird denken, dass er nicht mehr geliebt wird…“, erwiderte Waplach.

Dobrynin konnte nicht verstehen, worüber seine Weggefährten sprachen. Deshalb sah er sich nach allen Seiten um und zu seiner Freude entdeckte er vor sich Bäume, die spärlich wuchsen, vorwiegend zwischen den Hügeln. Die Hügel selbst, besonders ihre Kuppen, waren nackt.

„Nei-ein“, widersprach der Alte Waplach. „Er wird zufrieden sein.“

„Wovon sprecht ihr?“, fragte Pawel.

„Die Allerbesten gehören geopfert, aber wir haben heute den Allerschlechtesten verbrannt. Der Gott wird nicht zufrieden sein.“

„Aha.“ Dobrynin verstand, worum es ging. „Aber ich glaube, dass es richtig war. Die Guten müssen leben und die Zukunft formen, und die Schlechten muss man verbrennen.“

Auf Dobrynins Worte folgte Schweigen. Abunajka und der Urku-Jemze schienen über das, was der Volkskontrolleur gesagt hatte, nachzudenken. Dann nickte Waplach für sich und sagte:

„Der Russe ist klug, der Russe weiß, wen man verbrennen muss und wen nicht.“

„Ja“, ergänzte Abunajka. „Weise Menschen kommen immer von weither, Dumme wohnen in der Nähe.“


Der Schlitten flog nur so dahin. Liebevoll sah Dobrynin auf die vorbeiziehenden Bäume, die klein und dünnstämmig waren, ihn aber doch ein wenig an seine Heimat erinnerten. Er dachte an die Zukunft, wie er mit einem Orden nach Kroschkino zurückkehren, am Tisch sitzen und Manjascha und den Kindern von diesen schrecklichen Tagen und Wochen erzählen würde, die er in einem für menschliches Leben gänzlich ungeeigneten kalten Gebiet verbracht hatte; wo man Menschen weder anständig beerdigen, noch menschenwürdig bestrafen konnte, sondern wo alles nach einheimischen nationalen Gesetzen ablief, die völlig anders waren als die russischen Gesetze, nach denen sowohl in Moskau als auch im Dorf Kroschkino gelebt wurde.

„He!“, drehte sich Waplach wieder um. „Dort steht etwas!“

Der Alte und Pawel sahen nach vorne, aber anscheinend hatten sie nicht so scharfe Augen wie der Urku-Jemze. Erst zehn Minuten später erblickten sie einen auf der Seite liegenden Propellerschlitten. Sie fuhren näher heran und gaben den Hunden den Befehl zu halten.

Im Propellerschlitten war niemand.

„Wir müssen im Kreis gehen!“, schlug Dobrynin vor und seine Gefährten traten gehorsam an die Maschine heran und begannen, sie im Gehen zu umkreisen.

„Nein, hier gibt es zu wenig Schnee“, schüttelte Waplach den Kopf. „Wir müssen uns einfach umschauen, unter diesem Schnee ist nichts.“

Sie gingen in verschiedene Richtungen. Abunajka erklomm den Hügel, Waplach hingegen begann, in die Niederung hinabzusteigen, wo einige ziemlich verhungerte Bäume wuchsen, und wenn sie auch nicht größer werden wollten, so standen sie zumindest einmal da.

Dobrynin ging im Kreis um die Maschine herum und fixierte dabei aufmerksam die Schneeoberfläche.

„He!“, rief Abunajka von der Hügelkuppe aus. „Ich habe ihn gefunden!“

Nachdem Pawel und Waplach zum Alten auf die Spitze des Hügels hinaufgeeilt waren, erblickten sie das Skelett eines Mannes im Schnee – die Knochen waren sauber abgenagt und nur ein gewisses Organ, vom Frost lila gefärbt, war gänzlich unberührt geblieben. In der Nähe lagen die Reste einer zerrissenen Pelzjacke herum.

„Ei-jei-jei…“, sagte Abunajka. „Ojasi war hier.“

„Ist das etwa ein Tier?“, fragte Pawel nach.

„Der böse Geist Ojasi-kamuj!“, erklärte Waplach. „Nur er frisst Menschen und Tiere auf diese Weise auf.“

Pawel begann der Bauch zu schmerzen. Er fasste mit der Hand an die schmerzende Stelle und verzog den Mund.

„Wir müssen von hier weg!“, stieß Abunajka hastig hervor. „Er kann wiederkommen! Er ist sehr böse!“

Sie liefen den Hügel hinunter und jagten auf dem Schlitten in die Richtung der weit entfernten Militärstadt.

Allmählich ließ der Schmerz nach. Pawel legte sich hin und bettete dabei den Kopf auf seinen Reisesack. Waplach trieb die Hunde an und sang sein Lied. Abunajka döste im Sitzen und bewegte dabei manchmal seine blutleeren, weiß-gelben Lippen.

Lange fuhren sie durch den Schnee des Nordens.

„Dieser Ojasi ist ein sehr böser Geist“, erzählte der Urku-Jemze dem ausgestreckten Dobrynin. „Er ist ganz klein, reicht mir nur bis zur Schulter, sein Kopf ist flach und gelb-grün und seine Augen sind rund mit roten Pupillen. Seine Haut ist voller Pickel und er geht ganz lautlos. Einmal kam er zu meinem Zelt und fraß einen Hund auf. Es war ein guter Hund… Und die anderen Hunde bellten nicht, sie hatten wahrscheinlich Angst vor ihm…“

Diese schreckliche Erzählung schläferte den Volkskontrolleur seltsamerweise ein, und während er bereits in einen warmen und behaglichen Schlaf hinüberglitt, kam ihm vor, als ob jemand neben seinem Bett sitzen und ein Märchen erzählen würde. Durch den über ihn einfallenden Schlaf hindurch hörte Pawel Waplachs Stimme, und es lief ihm so lange kalt den Rücken hinunter, bis die Stimme des Urku-Jemzen in anderen Geräuschen eines Traums unterging, der sich rasch verdichtete. Darin tauchte ein guter alter Großvater auf, der durch Moskau wanderte und von allen, die er unterwegs traf, Pralinen für die Kinder sammelte. Die Passanten und selbst die Soldaten blieben bereitwillig stehen, als sie den Alten sahen, und warfen eine Vielzahl von allerlei Dingen in seinen Sack, die sie aus den verschiedenen Taschen ihrer Kleidung hervorholten. Dobrynin freute sich für den Alten und er ging weiter durch die Straßen und Gassen seines Traums hinter dem Großvater her, um ihm zu helfen, wenn es nötig würde, oder auch nur, um den Sack für ihn zu tragen, sollte der Alte nicht mehr die Kraft haben, die schwere Last zu heben. Es war schön, durch die breiten Straßen der Stadt zu gehen, und nur manchmal wurde Dobrynin von der Stimme des Urku-Jemzen abgelenkt, der seinen Hunden etwas in der unverständlichen urku-jemzischen Sprache zurief.

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