Kapitel 24

Nachdem Banow und Klara Rojd auf dem Boden des Tuschinskij-Flugplatzes eine kurze Unterweisung erhalten hatten, begaben sie sich gemeinsam mit einem Trainer der Organisation Dobrolet ins Flugzeug, das gleich darauf anrollte und die unebene, löchrige Startbahn entlangholperte. Im Heck, wo Banow, Klara und der Trainer an die Wand gelehnt saßen, war es nicht sehr hell. Zwei seit langem nicht mehr geputzte Fenster ließen kaum Tageslicht herein. Irgendein Eisenteil rollte geräuschvoll über den Boden. Als es sich neben Banow befand, stellte dieser seinen Fuß darauf und drückte es fest gegen den Duralboden. Für einen Augenblick war es still, da heulte plötzlich der Motor auf. Offenbar hatte der Propeller die höchste Drehzahl etrreicht und die Maschine erbebte noch stärker und riss sich endlich von der Erde los. Der Trainer war ein recht kleiner, etwa fünfundvierzigjähriger Mann in einer Fliegerjacke, er saß Klara und Banow gegenüber. Immer wieder sah er auf seine Uhr. Dann beugte er sich mit dem Oberkörper vor und erinnerte die Fallschirmspringer an die wichtigsten Regeln. Klara und Banow nickten.

Nach weiteren fünf Minuten stand der Trainer auf und blickte aus dem Fenster.

„Es ist soweit!“, sagte er laut und drehte sich um.

Klara stand bereitwillig auf. Sie verhielt sich so, als wäre sie bereits hunderte Male gesprungen – der Fallschirm stand ihr gut und sie schien mit allem zufrieden. Banow beneidete sie.

Der Trainer öffnete die Tür im Heck des Flugzeugs, indem er sie nach innen zog, sodann winkte er den Fallschirmspringern mit der Hand.

Klara ging als Erste, und hinter ihr der ein wenig nervöse Schuldirektor.

„Merken Sie sich unbedingt: Bis fünfundvierzig zählen und dann ziehen!“, erinnerte sie der Trainer noch einmal.

Klara Rojd nickte.

„Also los!“, rief der Trainer und trat von der Tür zurück, hinter der der Himmel begann.

Klara machte zwei Schritte nach vorn und stürzte nach unten.

Banow stockte der Atem – so plötzlich war Klara verschwunden! Er hatte gedacht, dass ein Mensch, der mit einem Fallschirm sprang, noch eine gewisse Zeitlang hinter dem Flugzeug herfliegen würde oder dass man zumindest mitverfolgen könnte, wie er langsam hinabflog. In Wirklichkeit verhielt es sich so: Eben noch war sie hier gestanden, und dann – ein einziger Schritt und sie war nicht mehr zu sehen.

Da berührte Banow eine Hand an der Schulter und vor Schreck, oder auch, weil es so unerwartet geschehen war, stürzte er ebenfalls hinab in den blauen, kalten Himmel.

Da wurde er nun herumgedreht und -gewirbelt und nur in kurzen Momenten gelang es ihm, das sich entfernende Flugzeug zu erspähen.

Ihm wurde speiübel. Zudem war er beleidigt – man hatte ihn aus dem Flugzeug geworfen wie unnötigen Ballast. Und nun flog er abwärts, genauer gesagt, er flog nicht, sondern fiel wie ein Stein oder ein anderer Gegenstand. Währenddessen flogen der Pilot und der Trainer in aller Ruhe weiter, wahrscheinlich zurück zum Flugplatz, wo sie eine große Tasse Tee und Erholung erwarteten, im Grunde unverdienterweise, denn was hatte der Trainer schon Großartiges geleistet? Ein paar Mal hatte er einige Worte gesprochen, das war alles.

Das Flugzeug verschwand bereits aus seinem Blickfeld. Es flog hinter die Wolken, während Banow immer weiter hinabfiel. Und da erinnerte er sich, dass er bis fünfundvierzig hätte zählen müssen, um dann die Leine zu ziehen. Doch er hatte gar nicht erst zu zählen begonnen und das bedeutete: Wenn er jetzt zu zählen anfing, dann würde er bei „fünfundvierzig“ bereits auf dem Boden aufgeprallt sein. Auch die kalte Himmelsluft konnte die Unruhe, die den Schuldirektor erfasst hatte und die nun weiter anwuchs, nicht übertünchen. Seine Hand ergriff die Reißleine und zog mit aller Kraft daran.

Sogleich geschah im Fallen eine Veränderung. Noch einmal wirbelte es ihn herum, dann machte es einen Ruck und über seinem Kopf ertönte ein lauter Knall. Und gleich darauf wurden die Luftströme um Banows fliegenden Körper sanfter. Unten stand die grüne Erde plötzlich still.

Und Banow erinnerte sich an Klara.

In den Seilen hängend, blickte er um sich und sah etwa hundert Meter von sich entfernt einen weißen Fallschirm.

Nun fühlte er sich besser. Man konnte sogar sagen, er fühlte sich so behaglich wie in seinem Büro.

Nun erblickte er auch Klara, auch sie schwebte ruhig dahin und sah offenbar in seine Richtung.

„Klara!“, rief Banow.

„Jaaa!!!“, drang die Antwort der in seiner Nähe schwebenden Frau an sein Ohr.

Banow lächelte. Er hatte sich diesen Flug etwas anders vorgestellt. Er hatte gedacht, sie würden näher beisammen fliegen, wenn nicht sogar ganz nah, natürlich nicht in einer Umarmung, aber doch wenigstens Schulter an Schulter. Sie würden fliegen und reden, von der Zukunft träumen und neue Flugzeugtypen diskutieren. Und in einem passenden Moment würde er offen und ehrlich zu ihr sagen, dass sie ihm viel bedeute… Genau so wollte er es sagen. Nicht: „Ich liebe Sie!“ oder „Lassen Sie uns heiraten“, sondern einfach und verständlich: „Sie bedeuten mir sehr viel!“ Und daraufhin würde sie verständnisvoll und froh lächeln und ihn gleich hier im Himmel auf die Wange küssen. Und dann würden sie einige Zeit schweigend dahinschweben und nach dem Schweigen wieder zu träumen beginnen.

„Klara!“, rief Banow wieder und winkte ihr zu, so als ob er sie auffordern wollte, näher heranzufliegen. „Klaraaa!“

Sie winkte zurück. Auch sie schrie etwas, aber der Schuldirektor konnte ihre Stimme nicht hören.

Und da kam es ihm vor, als ob sie sich einander nähern würden. Entweder drehte sich der Wind im Kreis, oder etwas anderes geschah mit der Himmelsmaterie, aber Klara und Banow kamen einander wirklich näher, und da drang auch schon ihre weibliche Stimme an sein Ohr:

„Genosse Banow! Hallo!“

Banow freute sich wieder. Zwischen ihnen lagen nur noch zwanzig Meter.

Die Erde kam langsam auf sie zu, aber die beiden in der Luft schenkten ihr keine Aufmerksamkeit.

„Haben Sie bis fünfundvierzig gezählt?“, schrie Banow.

„Nei-ein!“, antwortete Klara lachend. „Und Sie?“

„Nein!“ Der Schuldirektor schüttelte den Kopf, und nachdem er begriffen hatte, dass sie einander ausgezeichnet hören konnten, rief er:

„Klara, Sie bedeuten mir sehr viel! Verstehen Sie?“

„Ja!“ Klara und lächelte über das ganze Gesicht. „Sie mir auch! Sie bedeuten mir auch sehr viel!!“

Plötzlich wurde Banow von der Sonne geblendet, er verzog das Gesicht, als er die Wärme der Sonnenstrahlen darauf spürte. Es war das Gefühl von Glück. Er wollte die Augen gar nicht mehr öffnen. Einfach immer so weiterfliegen…

„Genosse Banow!“, rief Klara. „Sehen Sie mal!“

Banow füllte seine Lungen mit Luft. Sie war süß wie Eisdessert.

Unter ihnen war die Erde schon ganz nah. Felder und Straßen, über die Menschen ihrer Wege gingen. Winzige Menschen, die man aus dieser Höhe mit dem Maschinengewehr nicht hätte treffen können, nur verjagen. Und dort funkelte ein Bach in der Sonne, dessen beiden Ufer unterschiedlich hoch waren. Über den Bach beugten sich die Trauerweiden. In der Tat, die russische Erde war von gewaltiger Schönheit! Banow konnte sie fühlen. Er hatte Klara noch etwas Wichtiges sagen wollen, aber was? Das Wichtigste hatte er ihr doch schon gesagt!

„Genosse Banow!“, rief sie wieder. „Vielen Dank für alles! Vielen, vielen Dank!“

Banow nickte.

Der Bach, der die beiden Fallschirmspringer bezaubert hatte, kam näher und zwar mit einer solchen Geschwindigkeit, dass Banow schon dachte, sein Fallschirm hätte ein Loch. Er blickte nervös nach oben, aber dort war alles in Ordnung.

Wieder pfiff der Wind in den Ohren des Schuldirektors, und da riss dieser schon an den Seilen in der Absicht, das Fallen abzubremsen. Aber die Erde war bereits zu nah, und aus Furcht davor zog Banow die Beine an und flog so weiter hinab und er landete am niedrigeren, sandigen Bachufer. Da bedeckte ihn auch schon die weiße Seide des Fallschirms und er verhedderte sich darin, als er versuchte, sich von dem Stoff zu befreien.

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