In einer der Schulen Moskaus, die sich in der Dajew-Gasse bei der Sretenka-Straße befand, läutete die Glocke zur siebenten Stunde fünf Minuten früher als sonst, und buchstäblich eine Minute später öffneten sich die Klassentüren und Jungen und Mädchen in weißen Hemdblusen mit sorgfältig gebundenen, tiefroten Halstüchern traten geordnet auf den breiten, hellen Korridor hinaus. Rasch stellten sie sich gruppenweise auf, wie das in solchen Fällen üblich war. Der Direktor der Schule, Wasilij Wasiljewitsch Banow, schritt die Reihen der Pioniere entlang, während er mit strengem Blick das Äußere der Schüler musterte. Dann kehrte er zurück zur Mitte des Korridors, und nachdem er vernommen hatte, dass die Klassengruppen zum Appell bereit seien, sagte er:
„Nun also: Beim Lernen und für andere Leistungen der letzten Woche hat die Pioniergruppe der 5A-Klasse den ersten Platz gemacht, und als Prämie darf diese Gruppe heute den Deputiertenkandidaten für den Obersten Sowjet der RSFSR Grigorij Markelowitsch Siljin treffen.“
Die Pioniere hielten den Atem an. Sie vermochten den Blick nicht von dem Schuldirektor abzuwenden. Dieser trug einen dunklen Anzug, der jedoch an ihm etwas plump wirkte, und auf dem Revers prangte ein Stern des Ordens der Roten Fahne, an dem die Blicke der Knaben immer wieder voll Neid und Bewunderung hängen blieben.
„Nun denn“, fuhr Wasilij Wasiljewitsch Banow fort. „Ich verstehe, dass es ungerecht wäre, die anderen Gruppen von einem Treffen mit dem Deputiertenkandidaten völlig auszuschließen, aber in jedem Fall ist Strenge angebracht. Deshalb schlage ich vor, dass jede Gruppe für ein Treffen ihre drei besten Pioniere bestimmt, die dann ihren Gruppen über alles, was sie dort hören, berichten können. Das ist alles, ihr könnt wegtreten. Und der Gruppe der 5A-Klasse befehle ich, sich in genau zwanzig Minuten vollzählig in der Roten Ecke der Schule einzufinden.“
Die Pioniere gingen in ihre Klassen, um über die Abgesandten für das Treffen offen abzustimmen. Nur die 5A, achtundzwanzig Jungen und Mädchen, die zu einem lebendigen, kollektiven Organismus zusammengeschweißt waren, ging einträchtig nach draußen, um die hin und wieder vorbeifahrenden Lastwagen zu bestaunen. Ihr Pionierführer Petja Kolzow übertrug Wanja Klimtschak die Verantwortung für die Zeit, da Wanja als einziger in der ganzen Klasse eine Uhr besaß.
In der Dajew-Gasse war es ruhig, Lastwagen fuhren keine vorüber. Die Mädchen bildeten einen eigenen Kreis und begannen etwas zu erörtern, während die Jungen zu zweit oder zu dritt zusammenstanden und gelegentlich recht unbedeutende Worte austauschten.
Plötzlich näherte sich geräuschlos ein Wagen und ein schwarzer „SIM“ hielt vor dem Eingang zur Schule, dem ein großgewachsener Mann mit kurz geschnittenem Haar entstieg. In der Hand hielt er eine Aktenmappe aus schwarzem Leder. Er richtete seinen Hemdkragen, griff mit der Hand nach dem Krawattenknoten, um zu prüfen, ob dieser richtig saß, und ging dann zum Schultor hinauf.
Die Rote Ecke befand sich am Ende des Korridors. Der Raum war ein wenig größer als ein normales Klassenzimmer und zeichnete sich stets durch beneidenswerte Sauberkeit aus. An jedem Schultag räumten dort plangemäß zwei Personen auf, und zwar tadellos. Nach diesem Plan wurden nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer, einschließlich des Schuldirektors, eingeteilt. Im Zuge der Aufräumarbeiten schrubbten die Beauftragten den Boden, putzten die Ecken, nahmen die Wandzeitungen und andere politische Materialien von den Wänden und befreiten sie sorgfältig von Staub. Auch an diesem Tag glänzte die Rote Ecke nur so. Die 5A saß bereits auf den besten Plätzen, und soeben füllten sich auch die hinteren Stuhlreihen mit den Abgesandten der restlichen Pioniergruppen.
Einer fand keinen Platz mehr, da stellten findige Jungen und Mädchen zwei Stühle zusammen und nahmen zu dritt darauf Platz.
Die Tür öffnete sich und herein kam der Direktor mit dem Deputiertenkandidat. Die gesamte Kinderschar erhob sich und erstarrte feierlich.
„Guten Tag, Genossen Pioniere!“ Der Deputiertenkandidat nickte den Kindern zu und blickte den Direktor an.
„Setzen!“, sagte der Direktor.
„Schau, was für ein Muttermal er auf der Wange hat!“, flüsterte ein Pioniermädchen seiner Freundin zu.
„Ja…“, nickte die andere. „Sieht aus wie der Polarforscher Schirschow!“
„Hast du den etwa schon mal gesehen?“, wunderte sich die erste.
„Ja, in der Zeitung…“
Und plötzlich verstummte das Mädchen, als es den Blick des Direktors auf sich spürte, und wurde rot.
„In der Zeitung?“, wiederholte ihre Freundin flüsternd, aber anstatt einer Antwort erhielt sie einen leichten Schlag auf das Knie.
„Nun denn“, begann der Direktor erneut zu sprechen, während er in die aufmerksamen Gesichter der versammelten Kinder blickte. „Ich darf euch den Deputiertenkandidaten für den Obersten Sowjet der RSFSR vorstellen, Direktor der berühmten Fabrik ‚Hammer und Sichel‘, Grigorij Markelowitsch Siljin. Ihr könnt ihm Fragen stellen… und auch mit ihm sprechen… Bitte!“
Der Direktor verließ das Zimmer und der Deputiertenkandidat nahm auf dem für ihn vorgesehenen Stuhl Platz. Es schien, als ob der Kandidat nervös sei. Wenigstens fühlte er sich nicht ganz wohl: Er kaute auf seinen dicken Lippen herum, als würde er sich mögliche Antworten überlegen.
In der ersten Reihe streckte sich eine Hand empor, und Grigorij Markelowitsch nickte einem kleinen Jungen zu, der eine Frage stellen wollte.
„Genosse Kandidat, erzählen Sie von Ihrer Kindheit!“, bat der Junge.
Siljin hörte auf, auf seinen Lippen herumzubeißen, führte seine rechte Hand zum Gesicht und berührte mit dem Finger nachdenklich das Muttermal auf seiner Wange.
„Nun, eine Kindheit, wie ihr sie habt, hatte ich natürlich nicht“, begann der Deputiertenkandidat zu erzählen. „Ich wurde im Dorf Panino im Moskauer Gouvernement geboren. Heute ist das der Bezirk Moschajskij. In einer Bauernfamilie. Mein Vater war ein Ofensetzer, und auch mir brachte man dieses Handwerk bei. Er starb früh, ich war damals fünfzehn Jahre alt. Solange er lebte, war ich mit ihm und mit dem Bruder meiner Mutter in der Umgebung von Moskau unterwegs, um auf den Datschen Öfen zu setzen. Als er dann starb, war es mit der Arbeit vorbei. Da war es gut, dass einer meiner Verwandten mich im Ingenieursbüro Gillert unterbrachte, das sich damals auf der Basmannaja-Straße befand. Ich wurde dort Ofensetzer-Lehrling. Als Lohn erhielt ich achtzehn Rubel im Monat ohne Verpflegung… Das war also meine Kindheit…“
„Erzählen Sie uns doch bitte, wie die Ofensetz-Arbeiter im alten räuberischen System gelebt haben!“, bat ein stupsnäsiges Mädchen aus der ersten Reihe.
„Na, wie haben wir gelebt?“, fragte sich der Deputiertenkandidat selbst. „Morgens trank ich heißes Wasser ohne Tee und aß eine Semmel dazu, zum Mittagessen gab es anderthalb Pfund Weißbrot, ausschließlich altbackenes – es war billiger und hielt außerdem länger. Am Abend, wenn man den Rücken nicht mehr gerade halten konnte vor lauter Müdigkeit, ging man in eine schmutzige Garküche und holte sich eine dünne Kohlsuppe und Brei. Die Arbeiterration sozusagen. Nur an Sonntagen erlaubte ich mir eine Art Luxus… Nein, kein Fleisch!… Ein Pfund frisches Weißbrot aus Grießmehl. Schließlich war ich noch ein Junge, und ach, wie sehr sehnte ich mich nach etwas Feinem, das gut schmeckte. Was soll man noch sagen, es war ein schreckliches Leben. An den Sonntagen zwang uns der Vorarbeiter, in die Kirche zu gehen, und am Abend mussten wir laut aus der Zeitschrift ‚Das russische Wort‘ vorlesen. Manchmal ging er mit Freunden in ein Teehaus, bestellte dort Tee – fünf Kopeken für zwei Tassen – und spielte Karten, sein Lieblingsspiel ‚Kosjol‘. Dabei war es noch gut, dass der Vorarbeiter nicht trank und auch mich zur Nüchternheit erzog. Die anderen tranken alle – ja, wie soll man auch nicht trinken bei so einem Leben!“
Zwei alte Lehrerinnen hatten sich leise in den Raum gezwängt, standen unauffällig an der Wand und lauschten Siljins Erzählung.
Wieder hob sich eine Kinderhand – dieses Mal in der dritten Reihe rechts neben dem Fenster.
„Bitte, bitte!“, ermunterte der Deputiertenkandidat einen Pionier, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, so klein war dieser.
Der Junge stand auf und geriet ein wenig in Verwirrung, als sich alle nach ihm umdrehten.
„Sprich nur ruhig!“, lächelte ihm Siljin freundlich zu.
„Äh… waren Sie an der Front?“, fragte der kleine Pionier schließlich.
„Natürlich“, nickte Grigorij Markelowitsch. „Auch im Ersten Weltkrieg, aber länger bei der Roten Armee. Und ich kann euch sagen, die Rote Armee, das ist eine ganze Universität. Wir haben häufig auf ehemaligen Gutshöfen Halt gemacht. Zuallererst wurde die Bibliothek gesucht. Während des Bürgerkrieges schaffte ich es, fast alle Klassiker zu lesen. Und immer führte ich zwei oder drei noch nicht gelesene Bücher im Munitionswagen mit…“
Drei weitere Lehrer betraten leise den Raum: ein alter Geograf und zwei zwanzigjährige Sportler. Sie baten die beiden alten Damen, etwas nachzurücken, und nahmen ihren Platz an der Wand ein.
„Erzählen Sie von der Fabrik!“, bat jemand, der gar nicht aufgezeigt hatte.
Aber der Deputiertenkandidat schenkte dem Verstoß gegen die Pioniersetikette keine weitere Beachtung.
„Von der Fabrik?“, wiederholte er und fing gleich an zu erzählen. „Die Fabrik ‚Hammer und Sichel‘ hieß früher Guschon-Fabrik… Ich kam 1921 dorthin, nach der Demobilisierung. Sie erinnerte damals an einen Friedhof – so still und verlassen war alles. Das war das typische Bild einer Fabrik der damaligen Zeit: Die Ausstattung verrostete und ging kaputt, gearbeitet wurde nur in den Betriebswerkstätten. Das war die Zeit der ‚Feuerzeuge‘, wie man damals sagte. Die Arbeiter stellten Feuerzeuge her, Zündhölzer gab es schließlich fast gar keine in dieser Zeit des allgemeinen Zusammenbruchs! Es wurden auch andere gängige Waren hergestellt, die man bei den Bauern gegen Brot und Kartoffeln tauschen konnte. Im Siemens-Martin-Werk ‚Hammer und Sichel‘, wohin es mich verschlug, war nur ein vier Tonnen schwerer Ofen in Betrieb. Dass er überhaupt funktionierte, war ein Wunder. Mir, der aus der Roten Armee kam und an Disziplin und Ordnung gewöhnt war, kam das, was ich im Werk sah, barbarisch vor: Die Arbeiter verhielten sich der Fabrik gegenüber fordernd, um nicht zu sagen ausbeuterisch. Sie erzeugten Äxte, Bandeisen und anderes, das man gegen Lebensmittel tauschen konnte. Das Eisen wurde geplündert und verschwand durch die Tore. Die große Masse bestand durchgehend aus Egoisten und Spießbürgern. Aber es waren auch einige wenige ehrliche, pflichtbewusste Arbeiter in der Fabrik geblieben. Eine Gruppe solcher Genossen lauerte diesen Selbstsüchtigen auf und konnte sie schnappen, als diese Eisen aus der Fabrik hinausschleppten. Und jetzt noch einige Zahlen, die das Wachstum unserer Fabrik zeigen.“
Und Siljin öffnete die schwarze Aktenmappe aus Leder, die bis zu diesem Moment auf seinen Knien geruht hatte, holte ein Blatt Papier daraus hervor und las laut vor:
„ ‚1921 war in der Fabrik nur ein Ofen in Betrieb, an den besseren Tagen schmolz er zwanzig Tonnen pro Tag, und das galt als viel. Jetzt haben wir vier neue Öfen, die siebenhundertfünfzig Tonnen Stahl pro Tag produzieren, und es wurde bereits ein Rekord verzeichnet – neunhundertachtundvierzig Tonnen Stahl pro Tag.‘ Was ist noch zu sagen?“ Siljin blickte hoch. „Damals, im 21er-Jahr, stellte die Fabrik drahtgebundene Nägel, Haken, Bandeisen und anderes so genanntes ‚Handelseisen‘ her, und jetzt schmelzen wir hochwertigen Stahl, der zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Republik dient. Aber mir scheint, dass das noch nicht alles ist, was man produzieren kann. Es muss immer weiter vorwärts gehen!“
Nachdem er seine Antwort auf die letzte Frage beendet hatte, seufzte der Deputiertenkandidat und sah auf seine Armbanduhr, dann blickte er die Pioniere an. Da sah er auch schon drei erhobene Hände: zwei Jungen und ein Mädchen, die etwas fragen wollten. Er nickte dem Mädchen zu, das stand auf und fragte:
„Und wie wurden Sie Direktor der Fabrik?“
„Nun, dafür muss man lernen, lernen und lernen…“, Siljin wedelte mit den Armen. „Ich habe also die Abendschule für Arbeiter besucht, dann wurde ich Meister, und zu Beginn des 27er-Jahres wurde ich in das Betriebs-Gewerkschaftskomitee gewählt. Und 1929, erinnere ich mich, gab es einen schweren Unfall mit dem erst kurz zuvor neu in Stand gesetzten Siemens-Martin-Ofen. Ein Teil der Kuppel über den Regenerationskammern stürzte plötzlich ein. Das ist ein sehr enger und vor allem ungewöhnlich heißer Ort, dort kann man nicht hineinklettern. Alle waren außer sich. Den Ofen für die Reparatur außer Betrieb zu setzen, war undenkbar, ihn weiter in Betrieb zu haben, unmöglich. Durch den Unfall drohte der Ofen für einen Monat auszufallen – das sind viereinhalbtausend Tonnen Stahl! Der Werksleiter kam angelaufen. Ich schlug vor, trotz der hohen Temperatur in der Kuppel hineinzukriechen, ein Blech anzubringen und den Durchbruch zu verdecken. So etwas hatte man in der Praxis noch nicht gehört, ich bestand jedoch darauf, dass sich nach dem Aufhängen des Blechs die Temperatur in der Kuppel senken würde. Und tatsächlich: Sobald das Blech aufgehängt war, wurde es kühler, ich verdeckte also das Loch nach meinem Verfahren. Der Ofen konnte normal weiterarbeiten. Dieser Vorfall beförderte mich in die Reihe der besten Ofensetzer im Lande… Na, und da gab es noch viel Ähnliches… Ich muss mich entschuldigen, Genossen Pioniere, aber leider habe ich heute noch zwei Treffen mit Wählern.“
Grigorij Markelowitsch Siljin erhob sich. Die Pioniere schnellten ebenfalls in die Höhe und klatschten so lange, bis ihre Handflächen rot wurden. Auch die beiden alten Lehrerinnen applaudierten und auch jene Lehrer, die gegen Ende des Treffens gekommen waren.
Zum Abschied schenkte die Pioniersgruppe der 5A dem Deputiertenkandidaten einen Abbauhammer als Souvenir, der trotz seiner kleinen Größe ziemlich schwer war. In der linken Hand das Souvenir, in der rechten die Aktenmappe verließ Grigorij Markelowitsch die Rote Ecke, um sich vom Schuldirektor zu verabschieden, aber die Direktion war abgeschlossen, sodass sich der Deputiertenkandidat direkt auf den Weg nach draußen begab, wo ihn sein Dienstwagen, der schwarze „SIM“, erwartete.
Währenddessen saß Wasilij Wasiljewitsch Banow auf dem Dach des dreigeschoßigen Schulgebäudes und sah traurig zu, wie zwischen der Schule und einem fernen, aber doch noch sichtbaren Kremlturm langsam, aber unaufhaltsam ein Koloss von Hochhäusern emporwuchs, an denen gebaut wurde. Schon jetzt war von dem entfernten Turm kaum noch die Spitze mit dem rubinroten Stern zu sehen, und schon das nächste Stockwerk des Neubaus würde diesen Stern für immer verdecken. Das gab dem Direktor der Schule in der Tat Anlass zur Sorge. Es war üblich, zwei Mal im Jahr, nachdem die Rangen bei den Pionieren aufgenommen wurden, diese auf das Dach zu führen und ihnen den sichtbaren Teil des Kremls zu zeigen. Diese Tradition musste nun untergehen, da es ja nichts Interessantes mehr vom Schuldach aus zu sehen gab. Zwar gab es noch den Sonnenuntergang hinter den weit entfernten Häusern, aber den konnte man den Pionieren nicht zeigen, schließlich ging die Sonne immer abends unter, wenn Banows Schützlinge zu Hause saßen und ihre Hausübung machten. Und so blieb dem Schuldirektor nichts anderes übrig, als hin und wieder allein auf sein geliebtes Dach zu steigen und auf den manchmal überwältigend schönen, blutroten Sonnenuntergang zu warten. Inmitten seiner traurigen Grübelei erinnerte sich Banow an seine ruhmreiche revolutionäre Vergangenheit, als er ein echter Maschinengewehrschütze gewesen war und Dächer und Glockentürme gleichfalls leidenschaftlich geliebt hatte, von welchen sich ihm eine unglaubliche Aussicht eröffnete. Ja, damals hatte Banow sowohl eine Aussicht gehabt, als auch ein Maschinengewehr besessen, und alles war einfacher und verständlicher gewesen, obwohl dem Schuldirektor eigentlich auch jetzt nichts sonderlich Unverständliches begegnete. Vielleicht lag es daran, dass diese Zeit mit Wasilij Wasiljewitschs wilder Jugend zusammenfiel, während er sich gegenwärtig aufgrund eines Unwohlseins nicht gerade glänzend fühlte und darüber hinaus im Leben häufig aus dem Konzept geraten war wegen dessen maßloser Kompliziertheit und wegen eines Übermaßes an unterschiedlichsten Erfolgen: Jedenfalls empfand er immer weniger Lebensfreude. Wie immer man es auch drehen und wenden mochte, ganz offensichtlich rückte das Alter langsam und unausweichlich näher, so als wüsste es, dass er kein Maschinengewehr mehr besaß, und es ihn deshalb auch gar nicht mehr fürchtete. Manchmal zeigte es sogar sein Antlitz im kleinen rechteckigen Spiegel mit dem abgebrochenen Eck, der an der Rückseite des kaputten Weckers lehnte und schon eine Ewigkeit auf dem Tisch in seinem engen Kämmerchen stand, dem kleinsten der Kommunalwohnung, die er damals, als er seine geliebte „Maxim“[2] besaß, noch allein bewohnt hatte. Erst später, als es „Maxim“ nicht mehr gab, waren andere Bewohner hinzugekommen, die ihn erst bedrängt, und schließlich vollständig verdrängt hatten, als ob er jemand Unbedeutender und auf dieser Erde nutzlos wäre.
Der Direktor warf einen wehmütigen Blick nach unten, sah den „SIM“ vom Schultor wegfahren und begriff, dass das Treffen mit dem Deputiertenkandidaten zu Ende war. Das bedeutete, dass auch die Schüler und Lehrer bald nach Hause gehen würden und dass er dann die Schule bis Montag würde schließen müssen. Davor würde Banow jedoch noch ein wenig in seinem Büro in der leeren Schule sitzen, Tee trinken und dabei immer wieder Dserschinskij in die Augen blicken, dessen Porträt über seinem Tisch hing. Er würde ihn lange und streng anschauen und an den Eisernen Felix denken, und dabei würde ihm so mancherlei einfallen, denn einmal hatte ein inzwischen dahingeschiedener Genosse Banow viel Schlechtes über diesen Recken der Revolution erzählt. Ohne also zu wissen, was davon wahr war und was nicht, da er ja gar nicht in der Lage war, das herauszufinden, würde Banow in seinem Büro in der leeren Schule bleiben und mit fragendem Blick dem Gesicht auf dem Bild in die Augen schauen, so als ob er sich davon irgendwelche Erklärungen erwarten könnte.
„Sie haben mich mit ihrer Wissbegier gequält!“, beschwerte sich Siljin unterwegs bei seinem Chauffeur. „Erzählen Sie von Ihrer Kindheit, erzählen Sie von der Fabrik!“
Zum Glück war der Weg nicht weit. Zuerst fuhren sie zur Fabrik, wo Grigorij Markelowitsch sich davon überzeugte, dass alles in Ordnung war, danach setzte er sich wieder in den „SIM“ und der Chauffeur führte ihn in die Scheljabowstraße, wo der Deputiertenkandidat in einem Haus mit sieben Stockwerken wohnte.
„Warte hier, wir sind in fünf Minuten wieder da!“, sagte Siljin, als er aus dem Wagen kletterte.
Der diensthabende Hausmeister verbeugte sich etwas altmodisch und öffnete dem Fabriksdirektor das Eingangstor.
„Ist meine Frau zu Hause?“, fragte Siljin den Hausmeister, als er eintrat.
„Vermutlich, sie ist nicht ausgegangen…“, antwortete der Hausmeister.
Eilig betrat er die Wohnung und durchquerte sie, ohne die Schuhe auszuziehen, geradewegs bis zum Wohnzimmer. Dort blieb er stehen und starrte ungläubig auf seine Frau, die vor dem geöffneten Schrank stand, in dem das gesamte Arsenal ihrer Kleider hing. Sie selbst trug einen langen grünen Morgenmantel.
„Du bist noch nicht fertig?!“, sagte Grigorij Markelowitsch, halb fragend, halb als Vorwurf. „Hast du auf die Uhr geschaut?“
„Ach, Grischa, ich habe mich noch nicht entschieden, was ich anziehen soll!“, antwortete seine Frau mit verdrießlichem Gesicht und wedelte dabei bedeutungsvoll mit ihrer Hand. „Gib mir noch fünf Minuten.“
„Na gut!“, stieß Siljin hervor und ging in sein Büro.
Auf der linken Seite seines großen Schreibtisches lag ein dickes Paket mit lauter gleich aussehenden Büchern. Siljin nahm eines davon und legte es in seine Aktenmappe aus schwarzem Leder. Er setzte sich in den Sessel, dachte über etwas nach, sah auf die Uhr, sprang sogleich wieder auf und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Seine Frau war bereits angekleidet. Ein langes, smaragdgrünes Kleid, das mit einer großen Eidechsenbrosche geschmückt war, unterstrich anmutig ihre etwas füllige Figur.
„Grischa, ich kann mein Parfum nicht finden. Hast du es gesehen?“
Grigorij Markelowitsch zuckte mit den Achseln.
„Ich frage dich doch auch nicht, wo ich mein Rasierwasser hingetan habe!“, antwortete er und horchte auf, da er ein Geräusch hörte, das aus dem Zimmer seiner Frau kam.
„Das ist Klawa“, erklärte seine Frau.
„Hat sie denn nicht frei?“
„Ich habe sie gebeten, heute zu kommen, dafür hat sie am Montag frei.“
„Na, dann frag sie doch nach deinem Parfum, vielleicht hat sie es gesehen!“, riet Grigorij Markelowitsch schon ein wenig freundlicher.
Seine Frau rief nach der Haushaltshilfe. Diese trat mit einer Bürste zum Teppichputzen in der Hand ins Wohnzimmer – eine alte, bucklige, grauhaarige Frau, die bereits seit fünfzehn Jahren bei ihnen arbeitete.
„Das hat wahrscheinlich Ihr Sohn irgendwohin getragen!“, antwortete sie auf die Frage nach dem Parfum und dem Rasierwasser. „Einem Fräulein hat er es vielleicht geschenkt, Sie geben ihm ja kein Geld, und über die heutigen Geschenke wissen Sie ja selbst Bescheid.“
Siljin dachte nach und stimmte der Vermutung der Haushaltshilfe zu. Und dann hatte er es plötzlich wieder eilig, da er einen Blick auf die Wanduhr geworfen hatte.
„Also, Poljetschka“, bat er. „Wir sind schon entsetzlich spät dran, das ist eine wahre Katastrophe mit dir!“
„Also gehen wir!“, Polja schoss auf den Gang hinaus, bückte sich, um ihre Schuhe zu suchen oder welche auszuwählen, während ihr Mann die Tür zum Treppenhaus bereits geöffnet hatte, wartend dastand und seine Frau mit Blicken antrieb.
Endlich kamen sie unten an und stiegen in den Wagen.
„Ich habe doch versprochen, um halb fünf dort zu sein!“, wiederholte Siljin an seine Frau gewandt und sah unzufrieden auf seine Uhr, die unnachgiebig fünf Minuten nach fünf anzeigte. „Und fahren müssen wir auch noch!“
„In zehn Minuten sind wir dort, Grigorij Markelowitsch!“, versuchte der Chauffeur ihn zu beschwichtigen.
Siljin verstummte.
Und so verflogen die zehn Minuten, die sie unterwegs waren.
Der Wagen hielt vor dem Restaurant „Stoliza“.
Ohne ein Wort an den Chauffeur zu richten, stieg Siljin aus dem „SIM“ und reichte seiner Frau die Hand. Sie gingen die Stufen hinauf und kamen ins Foyer, in dessen Mitte eine fünfblättrige Palme wuchs. Auf der linken Seite war hinter einer dunklen Holzabsperrung eine leere Garderobe zu sehen – in dieser warmen Zeit gab es keine Verwendung dafür.
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, ging Siljin zum Saaleingang, fand mit einem Blick den Oberkellner und winkte ihn herbei.
„Wie kann ich Ihnen dienen?“, fragte dieser in schmeichelndem Ton, nachdem er herangetreten war.
„Ich habe einen Tisch für ein Festessen zu sechst auf den Namen Siljin bestellt.“
„Eine Sekunde…“ Der Oberkellner war ein etwas rundlicher und zugleich auf seltsame Art wohlproportionierter Mann mit einem dünnen, wie aufgemalten Bärtchen. Er zog ein Notizbuch aus der Tasche, blätterte darin, bis er eine mit feinsäuberlicher Handschrift beschriebene Seite fand. „Siljin, sechs Personen, da haben wir’s, kommen Sie, ich zeige Ihnen den Tisch!“
Mit beinahe trippelnden Schritten führte der Oberkellner Siljin und seine Gattin in den Saal.
Der ungewöhnliche, etwas längliche, achteckige Tisch befand sich im dunkelsten Winkel des Restaurants. Er war von drei Töpfen mit jungen Dattelpalmen abgeschirmt, die zu dieser Zeit in Moskau überaus modern waren.
„Hier, sehen Sie“, flötete der Oberkellner und blieb am Tisch stehen. „Es ist bereits gedeckt. Gehen wir das bestellte Menü zusammen durch! Aber setzen Sie sich doch, setzen Sie sich!“
Dienstbeflissen ließ der Oberkellner das Paar am Tisch Platz nehmen, dann sah er wieder in sein Notizbuch.
„Also…“ Er machte eine Pause, dann begann er vorzulesen. „Kalte Vorspeise: Kartoffelsalat mit Krabben, Oliven, richtig?“
Grigorij Markelowitsch nickte.
„Fahren wir fort. Warme Vorspeisen: Zander ‚Orly‘, Nieren, in Butter gebraten… Dann, beim zweiten Gang gibt es leider eine Änderung… Sie haben gedämpften Silberlachs bestellt, aber leider… der Lachs ist von nicht sehr guter Qualität, und deshalb empfehle ich Ihnen gebratenen Muksun-Fisch mit Kartoffelkroketten als Beilage… Was meinen Sie?“
Achselzuckend wandte sich Grigorij Markelowitsch an seiner Frau.
„Gut“, sagte Polja sanft, die den Oberkellner nicht lange in dieser unangenehmen Lage lassen wollte.
„Ausgezeichnet“, freute sich dieser. „Zu den Suppen: dreimal Soljanka mit Fleisch nach Leningrader Art, zwei Kartoffelsuppen mit Stör und eine Suworow-Suppe mit Piroggen, das ist wahrscheinlich für Sie?“
Grigorij Markelowitsch nickte dem Oberkellner zu, und nachdem dieser seine bescheidene Neugier befriedigt hatte, fuhr er fort:
„…und als Dessert – Kaffee nach Warschauer Art und ein Oktober-Eis…“
„Ist das Eis mit Nüssen?“ Plötzlich lebte Polja auf.
„Ja, mit Nüssen, Himbeer-Erdbeer-Sirup und Ananas-Scheiben“, antwortete der Oberkellner, während er der Fragenden in die grünen Augen sah und in Gedanken ihren guten Geschmack bewunderte – das smaragdgrüne Kleid passte unglaublich gut zu ihren Augen.
„Ist alles so in Ordnung?“ Mit Mühe wandte der Oberkellner seinen Blick wieder dem Mann mit dem interessanten Muttermal auf der Wange zu.
„Ja“, antwortete Siljin bestimmt.
Der Oberkellner nickte höflich und entfernte sich vom Tisch. Das Restaurant war noch recht leer, das ließ sich jedoch leicht erklären – noch war es nicht Zeit für die üblicherweise eher späten Mahlzeiten. Siljin sah auf die Uhr und blickte erwartungsvoll zur Tür, die ins Restaurant führte, und da belebte sich auch schon sein Gesicht: Er hatte diejenigen erblickt, die er ungeduldig erwartet hatte: seinen langjährigen Bekannten, den Direktor der Möbelfabrik „Rotes Holz“, mit dessen Frau Schenetschka sowie Poliwanow, den Parteisekretär seiner Fabrik, mit dessen „ewiger“ Verlobten Sonja. Sie standen im weitläufigen Eingangsbereich und suchten ihn mit ihren Blicken, konnten ihn aber im von Palmen umsäumten Versteck nicht sehen. Siljin erhob sich und eilte auf sie zu. Da endlich bemerkten sie ihn, lächelten erfreut und kamen ihm entgegen.
Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, atmete Siljin erleichtert auf.
„Also…“, Grigorij Markelowitsch wollte ein Gespräch beginnen, aber irgendwie fiel ihm nicht ein, wie er anfangen sollte. „Und wir dachten, dass wir uns verspäten… Dabei waren wir die ersten…“
„Ja, entschuldige, du weißt selbst, wie das bei uns ist“, sagte der Direktor des „Roten Holzes“, Eduard Beketow, mit seiner Bassstimme. „Ich selbst war schon fertig, dann hat Schenetschka irgendetwas verloren und“, er blickte sich nach seiner Frau um, „da hieß es dann warten.“
Siljin lächelte und warf seiner Gattin einen leicht boshaften Blick zu.
Der Oberkellner eilte an den Tisch.
„Oh, verzeihen Sie, ich habe Sie nicht bemerkt!“ Sein Gesicht drückte aufrichtige Betroffenheit aus. „Sofort, nur eine Sekunde“, aufmerksam musterte er noch einmal das Tischgedeck und schlug die Hände zusammen, während er sich betreten fragte: „Wo sind denn die Madeiragläser?!“
Und dabei sah er Siljin an.
„Die Damen werden doch Madeira trinken, und Sie – einen Wodka vielleicht? Zwei ‚Kubaner‘ und zwei ‚Perzowka‘? Ja?“
„Ja!“ Parteisekretär Poliwanow tat erfreut einen tiefen Atemzug. „Es gehört sich doch, mit Wodka zu beginnen…“
Der Oberkellner verschwand, erschien sogleich wieder mit einem Tablett und stellte offene Karaffen auf den Tisch – eine aus blauem Glas, die andere aus Kristall.
„In der blauen ist ‚Kubaner‘, und hier der ‚Perzowka‘“, erklärte er und stellte, ohne einen Blick darauf zu verwenden, das leere Tablett auf dem seitlich stehenden Beistelltischchen ab. Schon erschien in seinen Händen eine Flasche Madeira und mit geschmeidiger Geste, in einer ausgeklügelten Verrenkung des Arms mitsamt der Flasche, füllte er die Aperitifgläser der Damen, dann schenkte er den Herren Wodka ein – jedem das, was er wünschte. Hierauf verschwand er wieder.
„Also, Kandidat“, begann Beketow und erhob sein Glas. „Auf deinen Wahlsieg! Mögest du uns im Obersten Sowjet vertreten!“
Sie stießen freundschaftlich miteinander an, tranken aus und sahen sich suchend nach der Vorspeise um.
„Hier, es ist schon alles da…“, geschwätzig beantwortete der Oberkellner die stumme Frage in den Augen seiner Gäste und stellte ein Tablett mit kleinen Tellern, Salaten sowie kleinen Schälchen mit Oliven auf den Tisch.
Ohne eine Atempause nach dem Wodka einzulegen, machten sich die Gäste über die Vorspeisen her, verschlangen mit Appetit den Kartoffelsalat und freuten sich besonders, wenn sie darin ein Stückchen Krabbe erwischten.
Es entspann sich ein Gespräch, das von Zeit zu Zeit zu dem Kandidaten Siljin zurückkehrte, wonach jedes Mal die Gläser aufs Neue gefüllt wurden. Aber die Toasts berührten inzwischen nicht mehr das eigentliche Thema, sondern wurden immer abwechslungsreicher.
„Kürzlich habe ich daran gedacht, wie wir zusammengearbeitet haben“, begann Beketow und sah ernst in die Augen von Grigorij Markelowitsch. „Du erinnerst dich doch, Grischa… Weißt du noch, jener Unfall?“
Siljin wurde bekümmert. An diesem ruhmreichen Tag wollte er nicht an die schwierigen Arbeitstage in der Vergangenheit denken. Natürlich erinnerte er sich an jenen Unfall. Damals brannte in einer Kammer ein Pfosten durch, aus dem heiße Luft entwich. Danach gab es einen Einsturz. Wie viel Mühe und Nerven hatte das gekostet, nur Siljins richtige Entscheidung und die Unterstützung durch den Werksleiter Korolew hatten die Lage gerettet. Beketow war damals der Parteisekretär des Werks gewesen und hatte die volle Unterstützung des Parteikomitees versprochen – er vertraute ebenfalls Siljins Idee, die Kammer voll heißer Luft abzusperren und sie für einige Stunden mit Wasser zu füllen, um sie, sobald sie abgekühlt war, im laufenden Betrieb, wie man sagte, zu reparieren. Ja, dachte Siljin, das waren schwierige Zeiten…
Die Suppen wurden gebracht. Das Gespräch verstummte. Auf der Bühne erschien ein kleines Orchester – fünf Personen. Das Restaurant füllte sich allmählich mit Besuchern. Gesprächsfetzen hingen in der Luft und bereicherten die Atmosphäre des Abends mit Freude und Leid von irgendwelchen Menschen. Gleich hinter den Palmen feierte eine Gruppe von Konditormeistern mit ihren Familien das Jubiläum ihrer Fabrik. Immerzu erwähnten sie Fachbegriffe, und Polja, die mit dem Rücken zu ihnen saß, schien es, als schmeckte sowohl die Luft, die sie atmete, als auch die Kartoffelsuppe mit Stör, die sie aß, ein wenig süßlich, so als ob ringsum alles unmerklich von einer Schicht feinster Vanille überzogen wäre.
Die ewige Verlobte Poliwanowa, die Lehrerin an einer Abendschule war, drehte, während sie Suppe aß, ihren Kopf einmal nach links, einmal nach rechts ins Halbprofil, da sie auf diese Art ihren Tischnachbarn die neuen Goldohrringe mit den tropfenförmigen Rubinen zeigen wollte. Das ärgerte Polja ein wenig, aber sie ließ sich nichts anmerken und tat sogar so, als ob sie Sonjetschkas Ohrringe gar nicht bemerken würde.
Wieder erschien der Oberkellner, füllte höchstpersönlich die Gläser, beugte sich dann zu Siljin hinunter und flüsterte:
„Entschuldigen Sie vielmals, war das Ihr Bild, das gestern in der ‚Prawda‘ abgedruckt war? Eine Kellnerin hatte die Zeitung in der Arbeit mit…“
„Ja, das war meines“, antwortete Grigorij Markelowitsch zwar nicht flüsternd, aber doch leise.
Der Oberkellner, der seitlich vom Kandidaten stand, fuhr sich über die Lippen, als ob er über die nächste Frage nachdenken würde. Aber da erschien ein etwas klein geratener Mann in Lackschuhen und schwarzem Smoking auf der Bühne.
„Ich bitte Sie um eine Minute Aufmerksamkeit!“, sagte er laut und mit ein wenig dünner Stimme, reckte dabei das Kinn höher als üblich empor und überblickte den Saal.
Es wurde still. Der Mann, der die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, klatschte in die Hände und eine mädchenhafte Frau in einem Zirkuskostüm, offenbar seine Assistentin, brachte einen Käfig mit einem großen blaugrünen Papagei auf die Bühne.
„Bitte sehr!“, rief der Mann laut aus und öffnete die Käfigtür.
Der Papagei kletterte heraus, hielt sich mit seinen Krallen am Arm des Mannes fest und drehte den Schnabel nach allen Seiten.
„Bitte sehr!“, wiederholte der Mann. „Sie werden staunen über diesen hochgebildeten Vogel, den ich hier für Sie habe… Also, Kusma, trag vor, was du für uns gelernt hast!“
Die Restaurantgäste begannen gutmütig zu lachen und zu klatschen. Der Mann im Smoking verneigte sich und ließ auch seinen Papagei sich verbeugen, dann verließ er die Bühne und verschwand in dem schmalen Gang, aus dem unentwegt adrette Kellner mit Tabletts voller Speisen herausschwärmten.
Siljin wandte sich um, da er sich an den Oberkellner hinter seinem Rücken erinnerte, aber dieser war nicht mehr da.
Wieder schenkte Beketow Wodka nach, aber aus irgendeinem Grund kam es ihm nicht in den Sinn, sich um die Damen zu kümmern. Grigorij Markelowitsch beschloss, diesen Fehler wieder gutzumachen.
„Olala, Edja“, drohte er seinem Genossen scherzhaft mit dem Finger, „du denkst wohl nur an uns und vergisst das schöne Geschlecht!“
Edja, der schon etwas angeheitert war, wollte die linke Hand nach dem Madeira ausstrecken, aber Siljin ergriff mit einer gewandten Bewegung die Flasche am Tisch und machte sich selbst daran, gute Sitten unter Beweis zu stellen.
Poliwanow, der seinen Muksun-Fisch aufgegessen hatte, langte mit der Gabel nach den Oliven.
„Robert Anatoljewitsch“, flüsterte Sonja ihm zu, „trinken Sie nichts mehr, Sie dürfen doch nicht!“
Poliwanow nickte, zerkaute die Olive und beförderte den Kern mit den Lippen auf den bereits leeren Teller.
Bald kam der nächste Gang.
Auf der Bühne spielte das Orchester etwas Leichtes.
„Na, was waren deine letzten Rekorde?“, fragte Beketow Siljin, das Wodkaglas in der Hand.
„Neunhundertachtundvierzig Tonnen am Tag“, antwortete Grigorij Markelowitsch.
„Dann lass uns auf die Rekorde trinken!“, schlug der Direktor des „Roten Holzes“ vor.
Polja stimmte dem Toast zu ebenso wie auch Poliwanow, obgleich Sonja diesen am Ärmel zupfte, weswegen er beinahe seinen Wodka verschüttet hätte.
„Auf die Rekorde!“, wiederholte der Parteisekretär, atmete angestrengt aus und trank.
„Kannst du auch anderthalb Tausend Tonnen am Tag schaffen?“ Beketow fixierte Siljin mit herausforderndem Blick. „Na, ist das was?“
Im Nu war Siljin geradezu wieder nüchtern. Sein Gesicht wurde ernst.
„Ich denke, dass es möglich ist“, sagte er überzeugt.
„Nei-ein…“, lallte Poliwanow. „So viel kriegst du nicht aus unseren Öfen heraus.“
Siljin sah den Parteisekretär erstaunt an, runzelte die Stirn und dachte weiter nach.
„Und ich denke, dass es möglich ist“, sagte er schneidend.
„Wollen wir wetten?!“ Der Direktor der Möbelfabrik hielt seine Hand hin.
„Gut“, stimmte Grigorij Markelowitsch zu. „Worum wetten wir?“
„Um einen guten Schrank, ein Fass Kaviar und eine Kiste georgischen Kognak.“
„In Ordnung.“ Der Kandidat war einverstanden und drückte Beketows Hand so fest er konnte, dann bat er Poliwanow, durchzuschlagen.
Poliwanow schlug durch, schüttelte aber den Kopf und sagte, indem er seine Worte undeutlich artikulierte:
„Allein mit Stoßarbeit ist das nicht zu schaffen…“
„Ach, Robert Anatoljewitsch“, Siljin sah ihn an. „Kannst du mal deinen Direktor unterstützen? Ich sage doch nichts, ohne vorher nachzudenken. Ich hab da schon lange eine Idee: Wenn man bei unseren Öfen die Schieber gegen die kalte Luft isoliert und Abdeckungen anbringt – dann wird sich die Leistung sogleich verbessern, und weißt du, was das heißt?!“
Poliwanow nickte wie zum Einverständnis.
Der Oberkellner brachte das Oktober-Eis und den Kaffee nach Warschauer Art.
Offenbar hatte er einen Teil des Gesprächs mitgehört, genauer gesagt die Meinungsverschiedenheit. Nachdem er alles ordentlich abgestellt hatte, wandte er sich an Siljin und sagte:
„Ich habe mich mit meinen Genossen Kollegen beraten und wir haben beschlossen, zehn Prozent der Rechnung für Ihr Abendessen zu bezahlen… Das ist sozusagen unsere Unterstützung für den Deputiertenkandidaten… Und dann möchte ich noch sagen, dass es in jedem Beruf schwierige Wörter und Begriffe gibt. Sie haben zum Beispiel ‚Schieber‘ gesagt. Ich weiß natürlich nicht, was das ist. Aber auch bei uns gibt es Wörter, die richtige Zungenbrecher sind. Zum Beispiel Plat coquille oder Kasserolle, oder etwa konisches Glas… Und das sind noch nicht einmal die Bezeichnungen für Gerichte. Für die gibt es Namen, da sind Ihre ‚Schieber‘ nichts dagegen…“
„Setzen Sie sich doch zu uns, unterhalten wir uns ein wenig, vielleicht möchten Sie mit uns trinken, Genosse Oberkellner!“, wandte sich Beketow dem Angestellten des Restaurants zu. „Wir würden uns sehr freuen.“
„Na, wenn Sie Genosse zu mir sagen, dann kann ich nicht nein sagen“, nickte der Oberkellner, holte noch einen Stuhl und nahm neben dem Deputiertenkandidaten Platz.
Sie unterhielten sich noch eine halbe Stunde und von Zeit zu Zeit kippten sie ein Gläschen. Dann tranken sie auch den Madeira der Frauen aus, da die Damen bereits beim Kaffee waren.
Bei dieser Gelegenheit fragte Sonja:
„Genosse Oberkellner, warum sagt man Kaffee ‚nach Warschauer Art‘? Nur einfach deshalb, weil es so schön klingt?“
„Aber wo denken Sie hin!“, protestierte der Oberkellner. „Kaffee nach Warschauer Art bereitet man mit gedämpfter Milch zu, dazu Zucker und obendrauf Milchschaum. Denken Sie bloß nicht, dass das alles dasselbe ist und sich nur die Namen unterscheiden. Kaffee kann man auf unterschiedlichste Art zubereiten. Es gibt auch Kaffee nach Wiener Art, nach türkischer Art… Das sind alles unterschiedliche Getränke…“
Zur Sperrstunde des Restaurants war die Freundschaft zwischen dem Oberkellner und Siljins Gesellschaft schon einigermaßen bekräftigt und der Oberkellner verlangte beim Abschied, dass seine Gäste ihr ganzes Leben lang kein anderes Moskauer Restaurant mehr besuchen mögen als das „Stoliza“.
Siljin bat, die Rechnung gut lesbar auszustellen, da die Gewerkschaft versprochen hatte, die Hälfte zu bezahlen, und deshalb musste die Rechnung als Finanzbeleg an irgendeinen Gewerkschaftsbericht angeheftet werden.
Bevor sie nach draußen gingen, suchten Grigorij Markelowitsch und sein langjähriger Bekannter Beketow aus offensichtlichen Gründen die Toilette des Restaurants auf. Vor dem Spiegel stehend, der über die gesamte Breite der Wand reichte, wuschen sie ihre Hände und trockneten sie am dort hängenden Frottierhandtuch ab.
„Markelytsch“, wandte sich Beketow an den Freund. „Ich wollte vor den Anderen nichts sagen…“
Und er griff mit der Hand in die Innentasche seines Sakkos.
„Du hast letztes Mal bei mir… offenbar ist das irgendwie abgerissen…“ Und der Direktor der Möbelfabrik reichte Siljin einen Orden der Roten Fahne.
„Na, Gott sei Dank…“ Siljin zwang es fast in die Knie, vor Aufregung verspürte er eine Schwäche in den Beinen. „Und ich habe schon gedacht, dass ich ihn auf der Straße verloren habe, und den Pionieren hab ich nicht einmal gesagt, dass ich mit dem Orden ausgezeichnet worden bin. Ich hatte Angst, dass sie mich bitten könnten, ihn herzuzeigen… Also danke, mein Freund, allergrößten Dank… Ich werde ihn gleich anstecken…“
Und der Deputiertenkandidat befestigte den Orden an dem dafür vorgesehenen Platz seines Sakkos, betrachtete sich prüfend im Spiegel und sagte, während er Beketow kameradschaftlich auf die Schulter klopfte:
„Lass uns gehen, unsere Damen wollen sicher nicht mehr länger warten!“
Draußen angekommen war Siljin ganz bestürzt, als er die Abwesenheit des „SIM“ und seines Chauffeurs entdeckte. So gern hätte er alle nach Hause gebracht, jetzt aber musste er, das lag auf der Hand, selbst zu Fuß gehen oder ein Taxi nehmen.
Man verabschiedete sich hierauf vor dem Eingang des Restaurants und versprach einander, sich in nächster Zeit wieder zu melden. Es verstand sich, dass Poliwanow an seinen bevorstehenden Geburtstag erinnerte, und so gab es tatsächlich einen ernsthaften Grund, um wieder zusammenzutreffen.
Schweigend gingen Siljin und Polja durch die leeren, aber gut beleuchteten Straßen Moskaus. Beide waren sie müde und angeheitert. Polja dachte an Sonjas Ohrringe und seufzte im Wissen darum, dass ihr Mann einen solchen Wunsch nicht billigte. Grigorij Markelowitsch seinerseits entwarf im Gehen eine gedankliche Skizze seiner Rationalisierungsidee, dank derer er einen neuen Rekord in der Stahlproduktion aufzustellen gedachte. Die Wette machte ihm keine großen Gedanken, er war davon überzeugt, dass er sie mühelos gewinnen würde – das Wichtigste war, das war ihm bereits klar, die Schieber gegen die kalte Luft zu isolieren.
Irgendwo in einer Parallelstraße ertönte das lebhafte Rattern einer nächtlichen Straßenbahn. Sie lenkte sowohl Polja als auch Grigorij Markelowitsch von ihren Gedanken ab. Vor ihnen überquerten zwei berittene Milizionäre auf Nachtpatrouille die Straße.
Alles war alltäglich und friedlich. Die Stadt schlief tief und fest, und wenn man aus der Höhe eines Luftschiffes herabgesehen hätte, so wären nur die Fabriken und Werke mit durchgehendem Betrieb, dazu noch die Bäckereien und Zeitungsdruckereien als helle Lichtpunkte der Arbeit erschienen, die sich den biologischen Gesetzen der Nachtruhe lebender Organismen nicht unterwarfen.
Da gellte plötzlich ein feines, unangenehmes Pfeifen in Poljas Ohren und sie spürte, wie die Hand ihres Mannes unter ihrer Hand unglaublich schwer wurde, und als sie sich umwandte, sah sie, wie er zu Boden sank und dabei mit der anderen Hand seinen Arbeiterorden bedeckte.
„Was ist mit dir? Was ist los?“, fragte Polja und beugte sich hinab. Dabei dachte sie, dass ihrem Mann wohl schlecht geworden sei, weil er Wodka und Madeira gemischt hatte. „Was ist los, Grischa?“
Aber Grischa lag bereits plump auf dem Gehsteig und seine Augen waren starr nach oben zum Moskauer Himmel gerichtet.
Kalter Schweiß trat auf Poljas Stirn, als sie sah, wie die Hand ihres Mannes vom Orden herabglitt. Sie kniete nieder und sah mit verzweifeltem Blick, dass im Mittelstück des Ordens ein Loch war. Rund um den Orden war alles voller Blut, und der schwarze Fleck breitete sich aus und wurde immer größer und größer…
„Genossen!“, schrie Polja. „Zu Hilfe! Genossen! Ist da irgendjemand?!“
Und schon schwieg sie wieder und presste die Hände vor den Mund, um ein Schluchzen, das sich ihr entringen wollte, zu unterdrücken, aber das Echo ihrer Worte war noch zu hören und hallte durch die nächtlichen Moskauer Straßen. In den Fenstern ging Licht an und jemand kam schon aus einem Eingangstor gelaufen und blickte suchend in die Nacht, nach demjenigen, der um Hilfe rief.
Die patrouillierenden Milizionäre ritten bereits auf ihren Pferden die Straße entlang, in der der tote Siljin lag.
„Nein, das war kein Held…“, dachte die Kugel verärgert und erhob sich über die riesige Stadt, die unter ihr heller und heller wurde und die wohl dachte, dass sie mit dem Licht ihrer Lampen irgendjemanden vor einem Unglück bewahren könne. Was für eine arme Stadt… Dieses Mal war es zu spät, und das inzwischen angekommene Rettungsauto musste gleich wieder abfahren. Dem Mann, der auf dem Gehsteig lag, war nicht mehr zu helfen.