Kapitel 5

Sie fuhren lange und schwiegen. Nur einmal warf der Chauffeur einen respektvollen Blick auf seinen Fahrgast, sah aber gleich wieder auf die Straße, die zu dieser Zeit bereits flacher wurde – das betraf die Oberfläche ebenso wie auch die Aussicht.

Pawel wollte mit dem Chauffeur ins Gespräch kommen, um etwas über die Stadt zu erfahren, in die sie fuhren, und ganz allgemein etwas über das Chauffeursleben, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht dazu durchringen, das Gespräch selbst zu beginnen. Der Chauffeur war ohnehin sehr damit beschäftigt, das Automobil zu steuern, und nach Pawels Ermessen durfte man ihn von dieser wichtigen Beschäftigung nicht ablenken.

Inzwischen war auch schon die Stadt vor ihnen aufgetaucht, und es vergingen keine fünfzehn Minuten, bis der Fahrgast den Chauffeur vergessen hatte und vom Fenster des Autos aus die echten zwei- und dreigeschoßigen Häuser aus Stein eingehend betrachtete, die er zuvor nur auf Fotografien in Zeitungen oder auf Ansichtskarten gesehen hatte. Aber diese Häuser unterschieden sich so sehr von denen auf den Fotografien, dass Pawel den Atem anhielt, während er sie betrachtete. Besonders überraschten ihn die Fenster, die alle gleich groß waren, jedoch unterschiedliche Gardinen hatten. Vor jedem dieser Häuser war ein Beet angelegt, und in der Mitte von einigen davon wuchsen die Porträts herausragender Persönlichkeiten der Epoche in Blumenform. Von all dem, was er sah, schwirrte Pawel nahezu der Kopf, und er konnte ihn nur noch völlig verblüfft schütteln, um auf diese Weise seine Begeisterung auszudrücken.

„Ja“, nickte der Chauffeur zustimmend, dem gerade solche Passagiere, die von seinem Automobil aus zum ersten Mal die Errungenschaften und die Schönheit des städtischen Lebens sahen, eine besondere Freude bereiteten. „Dabei haben Sie den Hauptplatz noch gar nicht gesehen…“

Dazu muss gesagt werden, dass sie den Hauptplatz dann auch nicht sahen, da sich, als sie zufahren wollten, herausstellte, dass die Straße dorthin aufgegraben war – weil ein Vakuum-Müllschacht angelegt wurde, durch den in Kürze der gesamte Müll der Stadt zur weit entfernten Peripherie gebracht werden sollte. Darüber gab ihnen ein Mann in Arbeitsuniform Auskunft, der an das Auto herangetreten war. Er beriet sie sogar, auf welchem Weg der vom Chauffeur angepeilte Ort zu erreichen war. Als das Auto von dem Arbeiter bereits ein Stück entfernt war, fluchte der Chauffeur leise und verglich den Mann mit einem natürlichen Düngemittel. Der Chauffeur war beleidigt, weil der Arbeiter gedacht hatte, dass er, der Chauffeur, die Straßen der Stadt nicht kennen würde.

Pawel jedoch, der sich die ganze Zeit über seinen Beobachtungen vom Fenster aus hingab, schenkte den Flüchen, die im Auto ertönten, gar keine Beachtung.

Bald kamen sie an. Der Wagen hielt vor einem schönen, herrschaftlichen Gebäude mit vier Geschoßen, das gewaltige Säulen zierte. Auf dem Dach flatterte eine riesige rote Fahne, obwohl Pawel auf der Straße gar keinen Wind bemerkte.

Der Chauffeur brachte Pawel in das Innere des Gebäudes, und dort erwarteten ihn bereits drei Männer in gut sitzenden, dunklen Anzügen mit Krawatten. Erfreut schüttelten sie Dobrynin die Hand und führten ihn nach oben über eine, wie es schien, endlose Marmorstiege, die von einem roten Läufer bedeckt war. Im zweiten Stock machten sie Halt.

Dort erwartete sie der Wachposten des Stockwerks, der eine Militäruniform trug und den Rang eines Leutnants innehatte.

„Eine Sekunde“, sagte er und bog um die Ecke des Korridors.

Nach etwa zwei Minuten kehrte er zurück.

„Genosse Pawljuk erwartet Sie“, meldete der Leutnant.

Pawel und seine drei Begleiter folgten dem Korridor und betraten ein riesiges Arbeitszimmer, wo sie Genosse Pawljuk empfing.

Genosse Pawljuk, der ein kariertes Sakko und braune Hosen trug, war ein Ordensträger. Wie der Sekretär Kowalenkow hatte er einen stämmigen Körperbau, er sah jedoch strenger aus, sogar wenn er lächelte.

Zuallererst zeigte er Pawel seine Samowarsammlung und betonte dabei, dass „ein vernünftiger Patriotismus sich irgendwie äußern muss“. Dann lud er zum Tee an seinen breiten Tisch.

„Beim Tee werden wir Sie dann gleich im Amt bestätigen!“, sagte Genosse Pawljuk wohlwollend, während er sich auf seinem Sessel an der Stirnseite des Schreibtisches niederließ.

Pawel warf einen verwirrten Blick auf ihn, den der Chef des Büros sofort verstand und deshalb erklärte:

„Es geht darum, Genosse Dobrynin: Sie wurden sozusagen auf unterster Ebene gewählt, dann waren Sie im Bezirk bei Genosse Kowalenkow, und man muss sagen, Sie haben ihm gefallen. Er hat Sie also bestätigt und Ihnen das wahrscheinlich gar nicht gesagt. Jetzt müssen wir Sie im Namen des Verwaltungsgebiets bestätigen, und dann gibt es noch die letzte Instanz… Nun, Sie wissen schon welche…“ Pawel nickte.

„Aber denken Sie nicht, dass wir der Entscheidung Ihrer Kolchosversammlung misstrauen! So ist das Prozedere, verstehen Sie?! Wir stellen Ihnen nicht einmal irgendwelche Fragen… Übrigens, hat man Ihnen mein Geschenk gegeben?“

„Welches?“, fragte Dobrynin.

„Nun, das Leninbüchlein mit meiner Unterschrift?“

„Ja, natürlich, vielen Dank…“, stammelte Dobrynin.

„Nun, ich war noch nicht fertig… Also, das ist das Prozedere, verstehen Sie?“, fuhr Genosse Pawljuk fort. „Ich frage jetzt in Ihrer Anwesenheit die Mitglieder des Parteibüros: Gefällt Ihnen Genosse Dobrynin?“ Und Genosse Pawljuk sah die drei in den Anzügen der Reihe nach mit forschendem Blick an.

Diese nickten.

„Da sehen Sie!“, freute sich Genosse Pawljuk. „Mir haben Sie auch sofort gefallen. Ich sehe einen russischen Menschen, ein offenes Gesicht, ein gutes, gewinnendes Lächeln. Also einfach einen idealen Kontrolleur. So, damit haben wir Sie jetzt bestätigt. Und nun Tee und Gebäck!“

Ein junger Bursche, dem Aussehen nach ein Komsomolze, brachte ein Tablett mit gebräunten Weißbrotkringeln und einem großen Teekessel aus Kupfer mit kochendem Wasser ins Zimmer. Hierauf leerte Genosse Pawljuk eigenhändig ein wenig Teeaufguss in jede Tasse auf dem Tisch.

„Berichten Sie mir über den Stand der Erntearbeiten!“, wandte sich Genosse Pawljuk an die Mitglieder des Parteibüros, während er seinen Tee schlürfte.

„Bei uns ist alles in Ordnung“, antwortete einer von ihnen. Das wiederholten auch die anderen.

„Gut so“, nickte der Vorgesetzte zufrieden. „So muss man arbeiten!“

Dann sprach Genosse Pawljuk mit den Mitgliedern des Parteibüros über die Aussichten, in der Stadt ein Ziegelwerk zu bauen. Pawel hörte ihnen mit halbem Ohr zu, um Kenntnisse zu erwerben, während er sich gar nicht von den köstlichen braunen Kringeln losreißen konnte, die einfach auf der Zunge zergingen. Es kam ihm vor, als ob ihm das neue, verantwortungsvolle Leben, das vor zwei Tagen begonnen hatte, noch viele solcher Kringel in Aussicht stellen würde. Außerdem glaubte Pawel, dass, je größer die Verantwortung eines Menschen war, das Vaterland desto besser für ihn und seine Gesundheit sorgte, und das schien ihm gerechtfertigt.

„Also dann“, wandte sich Genosse Pawljuk plötzlich an Pawel, nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. „Ihr Zug fährt in einer Stunde. Dass Sie sich nur nicht verspäten…“

„Zug?“, wiederholte der erstaunte Pawel fragend, der nichts von einem Zug wusste.

„Ach, entschuldigen Sie, ich habe es Ihnen gar nicht gesagt!“, besann sich Genosse Pawljuk. „Ihr Zug in die Hauptstadt… Man hat Ihnen doch gesagt, dass man Sie dort erwartet?“ Pawel nickte.

„Also dann…“, Pawljuk breitete die Arme aus. „Schade, dass Sie nur so kurz bei uns in Manajenkowsk waren, aber wer weiß, vielleicht führt Sie das Schicksal noch einmal her… Wir würden uns freuen.“

Hierauf bestellte Genosse Pawljuk per Telefon einen Wagen und begleitete Dobrynin höchstpersönlich die Marmorstiege hinunter.

Auto und Chauffeur waren dieselben. Dieses Mal begrüßten Pawel und der Chauffeur einander bereits wie alte Bekannte.

Wieder fuhren sie schweigend dahin. Aber dieses Mal hatte Pawel selbst keine Lust zu reden. Immer noch war er damit beschäftigt, die Stadt zu betrachten, und staunte über ihr Aussehen.

„Gleich fahren wir an unserem Theater vorbei!“, sagte der Chauffeur voller Stolz.

Pawel hielt sich bereit.

Aber das Theater sahen sie auch nicht, da die Straße vor ihnen wieder aufgrund der Arbeiten an dem Vakuum-Müllschacht aufgegraben war. Der Chauffeur stieß ein weiteres Mal einen kurzen Fluch aus und brachte Pawel auf Umwegen zum Bahnhof, wo er ihn in den Zug setzte, der zur Abfahrt bereitstand.

Der Zug gefiel Pawel: Er bestand aus einer Lokomotive und nur zwei Passagierwaggons. Unmittelbar vor der Abfahrt wurde allerdings ein weiterer Waggon angehängt, aber er konnte ihn nicht genau sehen.

Die Räder ratterten gemütlich, und Pawel saß in seinem Abteil und sah aus dem Fenster in den zu Ende gehenden Tag.

Morgen würde ein neuer Tag beginnen, und die Tatsache, dass Pawel diesen neuen Tag unterwegs beginnen würde, schien bemerkenswert und bedeutungsvoll.

Eine junge Frau mit Eisenbahnkappe kam ins Abteil und brachte Tee.

„Hätten Sie denn vielleicht auch Weißbrotkringel?“, fragte Pawel sie.

„Wo denken Sie hin, Genosse!“, wunderte sich die Frau. „Woher sollen wir hier Kringel nehmen?“

Pawel nickte, bedankte sich für den Tee, trank einen Schluck und fand heraus, dass der Tee nicht süß war, wollte diese Frau aber nicht um Zucker bitten.

Nach einer halben Stunde kam die Frau mit einem Stapel Zeitungen wieder.

„Möchten Sie lesen?“, fragte sie.

„Ja, bitte“, antwortete Pawel.

„Sind drei genug?“, fragte die Frau.

„Ja“, sagte Pawel.

Die Schaffnerin zählte drei Zeitungen ab, legte sie auf das Tischchen und ging fort.

Im Schein des matten Lämpchens, das aus unbekannter Quelle Strom bezog, las Pawel aufmerksam die Zeitungen, die man ihm gebracht hatte, und erfuhr aus ihnen eine derartige Fülle von allem Möglichen, dass sich seine Vorstellung vom Leben und von seinem Vaterland mit jedem gelesenen Wort erweiterte. In ihm entstand das Gefühl, als ob er mit dem Zug mitten durch eine riesige Gigantenstadt fahren würde, die sich erst im Aufbau befand und in der zwar noch keine Menschen lebten, aber wo bereits aus Leibeskräften gearbeitet wurde und alle möglichen Weltrekorde, in den Bereichen der Bohrarbeiten, der Kohleförderung, im Brotbacken und im Schmelzen verschiedenster Metalle, gebrochen wurden.

Vom Lesen ein wenig ermüdet beschloss er, in einer der Zeitungen die Gesichter der neuen Ordensträger zu betrachten, die im Kreml ausgezeichnet worden waren, aber kaum hielt er das Gruppenfoto vor seine Augen, als das Lämpchen im Abteil erlosch. Draußen war es schon dunkel, und so legte Pawel die Zeitungen auf das Tischchen und machte es sich auf der unteren Liege bequem. Nachdem er sich mit der warmen Wattedecke zugedeckt hatte, schlief er ein.

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