Kapitel 2

Nachdem die Sonne über dem Zifferblatt des Himmels einen Halbkreis beschrieben hatte, tauchten ihre Strahlen hinter den Horizont hinab, dorthin, wo der Abgrund begann. Eingehüllt in die abendliche Dunkelheit gähnte auf der Erde alles Leben, bereitete sich auf den Kraft spendenden Schlaf vor; und sogar die Pflanzen schlossen ihre Blüten, damit die summenden Insekten, die wegen ihrer Schnelllebigkeit keine Müdigkeit kannten und keinen Schlaf brauchten, sie nicht umkreisten. Alles hielt inne, alles war friedlich, außer der Luft, die der Atem von Mensch und Tier in Bewegung hielt.

Inmitten der Stille kam ein Engel auf die Erde herab. Er blickte sich nach allen Seiten um und legte sich ins Gras, nachdem er sich von der Ruhe der Welt ringsum überzeugt hatte. Sofort verspürte er Müdigkeit – der Weg herab war weder leicht noch schnell gewesen. Als der Engel die Augen schloss, hatte er einen Traum, der eigentlich kein Traum war, sondern eine Erinnerung an jenen schweren Tag, an dem er sich endlich entschlossen hatte, seine Brüder und Schwestern zu verlassen, die dieselben weißen Gewänder trugen wie er, also das Paradies zu verlassen, um in dieses rätselhafte Land herabzukommen, das riesig war und voller Geheimnisse und über das keiner von seinen inzwischen schon ehemaligen Mitbrüdern mehr wusste, als dass dessen Bewohner nach dem Tod nicht ins Paradies gelangten. Vielleicht hatte mit diesem seltsamen Wissen sein Traum von einer Reise hierher begonnen, aber es war keine gewöhnliche Neugier, die ihn dazu gebracht hatte, einen dermaßen schwierigen Weg anzutreten: Er wollte einfach nicht glauben, dass es in einem so großen Land keine Gerechten gab, beweisen konnte er es allerdings nicht. Wenn es nämlich Gerechte gegeben hätte, dann wären die Pforten des Paradieses für sie immer offen gewesen. Da er also das, was für die anderen Bewohner des Paradieses unumstößlich war, nicht glauben mochte, hatte er beschlossen hierherzukommen, um einen wirklich Gerechten zu finden, diesen auf dessen irdischem Weg bis zum Ende zu begleiten, ihn dann durch die weiße, mit Perlen und Diamanten verzierte Pforte zu führen und von seinen Brüdern und Schwestern Vergebung dafür zu erlangen, dass er das Paradies eigenmächtig und heimlich verlassen hatte.

Die Sterne erstrahlten nun heller, sie machten sich die Abwesenheit des Tagesgestirns zunutze, das auch nicht stillstand, sondern bereits bis zur Mitte des unteren, von hier aus nicht sichtbaren Zifferblattes des Himmels fortgeschritten war.

Der Traum, der eigentlich gar kein Traum war, war vorbei und hatte den Engel noch tiefer in sich hinabtauchen lassen, sodass er den Schlägen seines Herzens und dem Rauschen seines Blutes lauschen konnte, das gemächlich durch seine reinen Adern strömte. Plötzlich war da das Geräusch eines heißen, fremden Atems, und ein Flüstern drang an seine Ohren und weckte den Engel.

„Genosse…“, flüsterte jemand. „Genosse, wach auf!“ Der Engel öffnete die Augen, richtete sich auf und setzte sich im Gras zurecht. Er betrachtete denjenigen, der ihn angesprochen hatte. Vor ihm hockte ein junger Bursche mit gelocktem Haar.

„Genosse“, flüsterte er wieder. „Lass uns Kleider tauschen! Ich gebe dir noch einen Laib Brot dazu. Einverstanden?“

Der Engel wunderte sich über einen solchen Vorschlag. Er musterte die Kleidung des Burschen: eine grüne Hose, ein ebensolches Hemd und an den Füßen Stiefel.

„Aber ich habe nur dieses Gewand!“, sagte der Engel und hob den weißen, dünnen Stoff empor. „Darin wird dir nicht warm sein.“

„Das macht nichts“, winkte der Junge ab. „Also, tauschen wir?“

Der Engel zuckte die Achseln. Dann nickte er. Der Bursche zog das Hemd über den Kopf, dann schlüpfte er aus den Stiefeln und der Hose.

Der Engel legte sein Gewand ab.

„Wie zieht man das an?“, fragte der Junge verständnislos, als er das weiße Kleidungsstück in seinen Händen hielt.

„Hier gibt es einen Ausschnitt für den Kopf“, erklärte der Engel. Der Bursche fand den Ausschnitt, steckte den Kopf hindurch und strich das weiße Engelsgewand an sich glatt. Dann schlüpfte er rasch in die Stiefel.

„Und die Stiefel?“, fragte der Engel.

„Nein“, sagte der Lockenkopf gedehnt. „Das war nicht ausgemacht. Wir haben Kleidung gegen Kleidung getauscht, aber Stiefel sind Stiefel, die gehören nicht zur Kleidung…“

„Also gut“, stimmte der Engel zu. „Aber sag mal, sind hier alle so gekleidet?“

„Fast alle“, nickte der Bursche. „Ich hab nur vom Hemd die Kragenspiegel abgerissen…“

„Und was ist das – Kragenspiegel?“, wollte der Engel wissen.

„Ach, das weißt du gar nicht! Dann ist es auch besser, wenn du es gar nicht erfährst. Hier ist dein Brot. Alles Gute!“

Er legte einen kleinen runden Laib Brot vor den Engel auf den Boden, stand auf und ging davon. Lange blickte ihm der Engel nach und sah, wie der weiße Fleck seines Gewandes leuchtete, als er sich zwischen den Bäumen und Sträuchern entfernte. Als der Bursche vollständig in der Nacht verschwunden war, ergriff der Engel das Brot, brach ein Stück ab und führte es zum Mund. Er biss davon ab, kaute ein wenig und ihm wurde schwer ums Herz. Das Brot schmeckte nicht gut, der Geschmack war in keiner Weise mit dem des weißen Weizenbrotes zu vergleichen, das im Paradies gebacken wurde. Es zerfiel im Mund in einige Klumpen, die man nicht mehr zerkauen konnte. Schließlich spuckte der Engel das unzerkaute Brot auf den Boden und hatte Mitleid mit den Menschen, die dieses Brot aßen. Dann seufzte er so tief, wie er noch nie geseufzt hatte, und legte sich mit dem Gesicht zum Himmel. So lag er und wartete auf den Morgen, um das geheimnisvolle Land im Sonnenlicht betrachten zu können.

Bald brach der Morgen an, weckte die Vögel und alles Lebendige. Der Engel stand auf und blickte sich um: Er sah nun, dass er sich in einem kleinen Wäldchen befand, in dem die Bäume nicht dicht wuchsen, aber von niedrigen Sträuchern umsäumt waren. In der Nähe erblickte er drei schmale Pfade, die in unterschiedliche Richtungen führten. Er begriff, dass irgendwo in der Nähe Menschen leben mussten, die auf diesen Pfaden gingen. Und so beschritt der Engel einen von ihnen, um zu den Menschen zu gelangen.

Die Vögel sangen so wunderbar, es war, als schreite er durch den Paradiesgarten. Plötzlich tauchten vor ihm Reiter auf. Es waren nicht mehr als zehn: Sie waren jung und schön und trugen die gleiche grüne Kleidung, die er in der Nacht gegen sein weißes Gewand getauscht hatte.

Der Engel trat beiseite, um die ihm entgegenkommenden Reiter vorbeizulassen. Aber als sie auf seiner Höhe waren, umkreisten sie den Wanderer und sahen ihn feindselig an.

„Wer bist du?“, herrschte ihn einer von ihnen an und zwirbelte mit der rechten Hand seinen langen Schnurrbart.

„Ein Engel…“, antwortete der Wanderer verlegen.

„Wie? Habt ihr das gehört?“ Der Schnurrbärtige brach in schallendes Gelächter aus. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck abrupt und wurde böse. „Jetzt aber Hände hoch, du Dreckskerl! Ich werde dich gleich in den Himmel befördern, dann wirst du wirklich ein Engel!“

Der Reiter zog eine schwere Mauserpistole aus dem Gürtelholster, zielte und ließ sie dann zur Seite sinken, während er den Engel höhnisch ansah, um sich zu überzeugen, ob dieser auch wirklich erschrocken war.

„Warum wollen Sie mich töten?“, fragte der Engel bestürzt.

„Und warum trägst du eine Militäruniform mit abgerissenen Kragenspiegeln? Bist du selbst ein Deserteur oder hast du einen von uns umgebracht und sie ihm dann abgenommen? Na? Sag schon, aber schnell!“

„Das Gewand hab ich in der Nacht getauscht“, antwortete der Wanderer. „Ein junger Bursche mit Locken hat mich inständig darum gebeten… Er gab mir noch einen Laib Brot dazu.“

„Einer mit Locken?!“ Der Reiter mit dem Schnurrbart wurde plötzlich mürrisch wie ein Stein. „Gib mal dieses Brot her!“

Der Engel reichte dem Reiter eine Scheibe davon. Der biss ab, kaute mit Appetit und sah mit zusammengekniffenen Augen in die Runde.

„Sergunkow?“, fragte ein sommersprossiges Bürschchen auf einem kohlrabenschwarzen Pferd.

„Ja…“, stieß der Schnurrbärtige hervor. „Dieser Feigling! Wo zum Teufel soll man ihn jetzt noch finden? Nein, Freundchen“, drehte sich der Reiter zum Engel um. „Genug geschwätzt! Sag dem Leben Ade! Du bist ja offensichtlich selbst ein Deserteur und hast einem Deserteur geholfen!“

Und der bärtige Reiter richtete seine Mauserpistole wieder auf den Wanderer.

„Sie können mich nicht töten“, sagte der Engel. „Es ist unmöglich mich zu töten…“

„Jeden kann man töten“, presste der mit dem Schnurrbart kalt zwischen den Zähnen hervor.

Und er drückte ab. Der Schuss donnerte los, der Engel jedoch streckte eine Hand aus und hielt die Kugel an. Sie erstarrte in der Luft, direkt vor der weißen Handfläche. Die Reiter starrten mit offenem Mund auf sie. Der Engel sah die Kugel an und sein Blick wurde kalt.

„Wenn du schon in die Welt ausgebrochen bist“, sagte er mit dem Blick auf die Kugel gerichtet, „dann sollst du keinen Menschen retten, der einem anderen Böses wünscht, und wenn in diesem Land alle im Bösen vereint sind, dann sollen alle umkommen, und wenn nicht alle umkommen, dann werden nur die am Leben bleiben, die einander Gutes wünschen. Und wenn du genug hast vom Töten, dann bring einen Gerechten um, und er soll der Letzte sein, und du wirst in ihm bleiben.“

Als er geendet hatte, ließ der Engel die Hand sinken, und die Kugel geriet wieder in Bewegung und schwebte über den Erdboden hinweg und flog durch Blätter und Baumstämme hindurch davon.

Die verblüfften Reiter standen bewegungslos da, und sogar die Pferde schienen den Atem anzuhalten.

Der Engel wandte sich um und machte sich mit hängendem Kopf in dieselbe Richtung auf den Weg, die er schon vor der Begegnung mit diesen Menschen eingeschlagen hatte. Er folgte der Kugel.

Was vorgefallen war, ließ ihn Bitterkeit empfinden, und er bereute schon, dass er die Kugel, die ihm gegolten hatte, mit seiner Kraft dazu gebracht hatte, Gericht zu halten. Aber nun konnte er ihr nicht mehr Einhalt gebieten, ebenso wenig hätte er Wort für Wort wiederholen können, was er einmal gesagt hatte, oder zum zweiten Mal das durchleben, was er bereits einmal durchlebt hatte.

Загрузка...