Kapitel 25

Dem Urku-Jemzen Dmitrij Waplachow war in der allgemeinen Kaserne ein Bett zum Schlafen zugewiesen worden. Aber Dmitrij war es nach Dobrynins Abflug nicht vergönnt, sich auszuschlafen. Ein kleiner Soldat mit einer Glatze rüttelte ihn wach.

„Genosse Bürger“, sagte der Soldat. „Der Kommandant ruft Sie. Es ist dringend!“

Waplach stand lustlos von seinem überaus gemütlichen, weichen Bett auf. Wie gut, dass er schlafen gegangen war, ohne sich auszuziehen – nur den Rentierpelz hatte er auf den Boden neben das Bett gleiten lassen –, so musste er jetzt keine Zeit darauf verwenden, sich anzuziehen. Er ging also gleich mit dem Soldaten in den mit glattem Schnee bedeckten Hof hinaus.

„Ah! Komm herein!“ Fröhlich erklang die Bassstimme des Oberst, als er den schlaftrunkenen Urku-Jemzen in der Tür seines Zimmers sah. „Ich habe deinem Vorgesetzten versprochen, dass du dich hier nicht langweilen wirst, deshalb will ich dir das Kartenspielen beibringen.“

Der Urku-Jemze war einverstanden und er hörte aufmerksam zu, wie die militärisch knappen Bezeichnungen der Karten und die vielen Regeln lauteten, aber verstehen konnte er davon nichts.

Nachdem der Oberst eine halbe Stunde lang mit Erklärungen verbracht hatte, sah er Dmitrij scharf an und fragte ihn zuletzt:

„Nun, hast du denn irgendetwas begriffen?“

„Ein wenig habe ich schon verstanden, aber wie man spielt, weiß ich nicht“, antwortete der verwirrte Urku-Jemze.

„Nun gut, dann werden wir etwas anderes für dich finden…“

Und der Oberst stützte sein mächtiges Haupt auf seine kräftige Faust, überlegte und ging in Gedanken alle ihm bekannten Möglichkeiten zur Bekämpfung von Langeweile durch.

„Oh!“, rief er plötzlich aus. „Kannst du denn jagen, gefällt dir das?“

„Natürlich!“, antwortete Dmitrij.

„Dann werden wir eine Jagd für dich veranstalten, die du in alle Ewigkeit nicht vergisst! Hast du schon einmal auf Russisch gejagt?“

„Wie geht denn das?“

„Ah, na dann wirst du das heute sehen! Setz dich her, ich werde die nötigen Befehle erteilen!“

Und damit ging der Oberst hinaus und ließ Dmitrij in dem warm geheizten Zimmer allein, in dem an einer Wand eine große Landkarte und an der anderen das Bild eines Mannes hing, der dem Urku-Jemzen bekannt vorkam.

Als Dmitrij es näher in Augenschein nahm, erkannte er den Mann. Er verneigte sich und flüsterte dabei: „Ekwa-Pyris!“ Richtig, das war doch jener Mann, dessen hölzerner Kopf auf dem Holzpfahl an dem heiligen Ort thronte, dort, wo sie vor kurzem den bösen Russen Kriwizkij verbrannt hatten.

Der Oberst war inzwischen zurückgekehrt und sah dem Urku-Jemzen interessiert zu, wie dieser das Bild so eingehend musterte.

„Weißt du denn, wer das ist?“ fragte er.

„Natürlich!“, antwortete Dmitrij und diese Antwort bereitete Iwaschtschukin Freude.

„Also, Genosse Waplachow, die Soldaten machen sich bereits für die Jagd fertig“, sagte der Oberst, wobei er die Worte sehr deutlich aussprach. „Wir werden jetzt hier die Taktik besprechen, und ich denke, wir werden damit Erfolg haben!“

Ein Leutnant, der klein und sehr dünn war, betrat das Zimmer und hielt eine zusammengerollte Karte in der Hand. Er rollte die Karte auf dem Tisch aus und beschwerte sie am Rand mit gewichtigen Bänden, die Dienstvorschriften enthielten.

„Kannst du Karten lesen?“, fragte Iwaschtschukin den Urku-Jemzen.

„Nein“, gab Dmitrij zu.

„Egal, schau her!“ Der Oberst tippte mit dem Finger auf einen roten Punkt inmitten einer grünen Fläche. „Hier ist eine Bärenhöhle markiert, und hier“, er presste den Zeigefinger der linken Hand auf einen zweiten roten Punkt, „noch eine. Wenn wir in einer halben Stunde mit dem Panzer losfahren, dann werden wir in drei Stunden bei der Höhle sein, die näher liegt. Ist das korrekt, Genosse Leutnant?“

„Jawohl!“, brüllte der Dünne.

„Ausgezeichnet“, fuhr Iwaschtschukin, plötzlich nachdenklich geworden und etwas sanfter, fort. „Hast du auch befohlen, drei Knallkörper mitzunehmen?“

„Jawohl, Genosse Oberst!“, antwortete der Leutnant und spannte dabei seinen Körper wie eine Feder.

„Nun gut! Das heißt also, wir haben drei Knallkörper, und sobald wir auf Schussdistanz herangekommen sind, schicken wir einen Soldaten mit den Knallkörpern in Richtung Höhle. Und was bewirken die?“ Der Oberst sah den Urku-Jemzen scharf an.

„Ich weiß es nicht“, murmelte Dmitrij verwirrt.

„Also, verstehst du unsere Taktik im Großen und Ganzen?“, fragte Iwaschtschukin.

„Im Großen und Ganzen ja.“ Der Urku-Jemze nickte wenig überzeugt.

„Dann los!“, kommandierte der Kommandant.

Die beiden Offiziere und Dmitrij Waplachow verließen das Stabshaus. Direkt gegenüber stand der Panzer, an dem sich drei Soldaten zu schaffen machten. Sie befestigten ein eisernes Gitter zwischen den Kraftstoffbehältern.

„Aufgesessen!“, rief ihnen der Oberst fröhlich zu.

Die Soldaten wie auch alle Übrigen bestiegen die Kampfmaschine. Wieder hielt der Leutnant die zusammengerollte Karte in der Hand, und nachdem der Oberst mit strengem Blick die Ordnung im Inneren überprüft hatte, rief er einem der Soldaten zu:

„Soldat Sablin, wie viele Granaten haben Sie erhalten?“

„Zwei Granaten, Genosse Oberst!“, rief der Soldat und seine Stimme klang dumpf im Metallgehäuse des Panzers.

„Und warum so wenige?!“, wunderte sich Iwaschtschukin.

„Fähnrich Nogtew hat mir nicht mehr gegeben, er sagte, dass in der Einheit nur mehr drei Granaten übrig seien“, berichtete der Soldat. „Er sagte, dass er die Einheit nicht ohne Munition zurücklassen dürfe.“

„Geizhals!“, äußerte der Oberst kurz und bündig seine Meinung dazu und befahl loszufahren.

Der Motor des Panzers heulte auf, brummte und bebte, und eine grüne Munitionskiste wanderte langsam über den Boden aus Eisen.

Sie fuhren lange, blieben von Zeit zu Zeit stehen und warfen einen Blick auf die Karte mit den militärischen Zeichen. Beim letzten Halt endlich wurde der Soldat Sablin auf Erkundung hinausgeschickt. Er kehrte mit guten Neuigkeiten zurück.

„Genosse Oberst!“, berichtete er. „Habe die Höhle gesichtet, der Feind schläft!“

„Ausgezeichnet!“, lobte der Kommandant gut gelaunt. „ Soldat Sablin, ich befehle dir, den Knallkörper zu nehmen und den Feind aufzuwecken. Und dann entfernst du dich sofort auf fünfzehn Meter und gehst in Deckung! Klar?“

„Jawohl, Genosse Oberst!“

„Und du, Unteroffizier Warnabin, führst eine vorläufige Zieleinstellung durch, sodass die Granate fünf Meter vor dem festgelegten Ziel einschlägt, und sobald der aufgeschreckte Feind aus seiner Deckung kommt, schießt du. Klar?“

„Jawohl, Genosse Oberst.“

„Die Operation beginnt jetzt!“, ertönte Iwaschtschukins laute Bassstimme und sogleich begann eine unglaubliche Hektik, die den Urku-Jemzen, der das Militärleben nicht gewohnt war, ganz und gar überrumpelte. Der Soldat Sablin ergriff den Knallkörper und stieg aus dem Panzer, der Unteroffizier begann, an irgendwelchen Hebeln zu drehen, und beugte sich immer wieder zu dem schmalen Sehschlitz hinunter. Der Leutnant breitete die Karte auf dem Boden aus und studierte sie, wobei er sie mit beiden Händen niederhielt. Der Oberst beugte seinen Kopf ebenfalls über die Karte, und da stürzte plötzlich der Unteroffizier, der die Hebel fertig eingestellt hatte, zum Munitionskasten und warf da^bei den in der Hocke sitzenden Leutnant um. Der Leutnant rückte schweigend zur Seite, bedachte den Unteroffizier aber mit einem missbilligenden Blick. Der Unteroffizier nahm eine Granate, legte sie in die Ladevorrichtung und beugte sich wieder zum Sehschlitz.

Es erfolgte eine leise Explosion. Dmitrij sah, wie sich die Hand des Unteroffiziers auf einen Hebel legte und zu zittern begann.

Der Oberst ging zum zweiten Sehschlitz.

„Na, was ist mit ihm…“, murmelte der Kommandant nervös. „Wie tief kann man denn schlafen?!“

Anscheinend kam tatsächlich niemand heraus, und die Anspannung im Panzer wuchs.

Der Unteroffizier nahm die Hand vom Hebel. Der Oberst spuckte auf den Eisenboden und beugte sich wieder zum Sehschlitz.

Dmitrij war ebenfalls angespannt und dachte daran, dass man Bären nicht einfach so töten durfte. Schließlich waren das heilige Tiere, und bevor man sie tötete, musste man sie um Verzeihung bitten und ihnen etwas Schmackhaftes in die Höhle werfen. Sie so zu jagen, wie es die russischen Soldaten taten, gehörte sich nicht.

Plötzlich brüllte der Oberst mit unerträglich lauter Stimme:

„Looos!!!“

Der Unteroffizier fasste mit seiner Hand blindlings nach dem Hebel, griff aber daneben, löste für einen Moment seinen Blick vom Sehschlitz, fand den Abzugshebel und drückte ihn hinunter.

Dmitrij kam es so vor, als ob der Panzer einen Sprung gemacht hätte. Es gellte in seinen Ohren und seine Augen waren für einen Augenblick getrübt.

„Du Esel!!“, schrie der Oberst inmitten des Getöses. „Lade die zweite!“

Wieder stürzte der Unteroffizier zur Munitionskiste.

„Na, bist du etwa wie Iwan Susanin?!“, schrie ihm der Kommandant zu. „Wenn du ihn verletzt hast, dann gib ihm jetzt den Todesstoß! Oder willst du, dass er deinen Genossen in Stücke reißt?!“

Wieder donnerte ein Schuss und im Kopf des Urku-Jemzen gellte es noch lauter.

„Das war’s, gut gemacht“, sagte Oberst Iwaschtschukin, der sich etwas beruhigt hatte. „Mit dem zweiten Schuss endlich erwischt. Meine Anerkennung!“

„Ich diene nur der Sowjetunion!“, murmelte der Unteroffizier müde.

Sie fuhren noch ein Stückchen und hielten dann den Panzer neben dem Braunbären an, der ausgestreckt im Schnee lag. Die Soldaten und der Urku-Jemze kletterten aus dem Gefährt und umkreisten die Beute.

„Sehr schön!“, sagte der Oberst zufrieden. „Unser Koch wird ihn so zubereiten, dass wir uns alle zehn Finger abschlecken werden! Los, Soldaten, aufladen!“

Mit einer Vorrichtung, die einer Seilwinde glich und die zwischen den Behältern angebracht war, zogen die Soldaten den schweren Körper auf den hinteren Teil des Panzers hinauf.

Dmitrij stand währenddessen etwas abseits und murmelte fast unhörbar, aber nicht im Flüsterton, sondern im Singsang mit einer Art inneren Stimme:

„Satar inenmen umundu biget

Sururukis bakaldyrit echin sawra

Toktokol-Boigolkol Gunitten iwit er aja achi

Antage ureldun anam tokin.“

Die Soldaten befestigten den Bären mit Draht auf dem Gitter zwischen den Kraftstoffbehältern an der Hinterseite des Panzers.

„He, Genosse Waplachow!“, rief der Oberst Dmitrij zu. „Es ist Zeit, in die Einheit zurückzukehren, wir haben den Norden schließlich ohne Verteidigung zurückgelassen – das Flugzeug ist weggeflogen, der Panzer ausgefahren, die Heimat wird nur vom geizigen Fähnrich Nogtew mit einer einzigen Granate bewacht!“ Und der Oberst lachte schallend.

Auch die Soldaten waren guter Laune, sie lachten und scherzten leise untereinander. Und sogar die Miene des dünnen Leutnants hatte sich erhellt und sein Blick war aufgetaut, obgleich er immer noch seine zusammengerollte Karte in der Hand hielt.

Sie stiegen in die Kampfmaschine und machten sich auf den Rückweg.

Dmitrij schob die leere Munitionskiste in die hintere Ecke des Panzers und setzte sich darauf. Er schloss die Augen und wurde traurig, als er an seine Kindheit im Kreise seiner Angehörigen zurückdachte. Er erinnerte sich an die Bärenfeste, die sie jeden Frühling in den urku-jemzischen Siedlungen gefeiert hatten. Ging man mit einem Bären etwa so um?! Nein, man wusste, dass ein Bär einen solchen Mord nicht verzieh und sein Geist sich bestimmt rächen würde. Was aber musste man tun?! Man musste alles ganz anders machen. Doch woher sollten die Russen das wissen? Man musste einer Bärin einen kleinen Bären stehlen. Diesen übergab man zunächst der besten jungen Frau im Dorf, damit sie ihn anstelle der Bärin an ihrer Brust nährte. Dann musste man einen Käfig aus Holz für ihn bauen, ihn dort hineinsetzen und füttern, ohne ihn jemals aus dem Käfig zu lassen. Nach zwei Jahren holte man ihn dann heraus, setzte ihn auf die Erde, legte ihm eine Schlinge um Brust und Bauch und zog diese stramm. Sodann musste man den Großvater des Tieres zu dem der Länge nach gespaltenen Stamm einer beidseitig niedergebeugten Lärche führen und ihn unterwegs laut beweinen. An diesem Ort angekommen, steckte man seinen Kopf in den großen Spalt des Stammes und hierauf mussten die Leute, die den Baum festhielten, die Hälfte des Stammes herablassen, und so würde der Bär ersticken und schnell sterben. Sodann musste der Älteste nach vorn treten und sich bei dem großen Tier entschuldigen, dann legte man den Bären neben die Lärche auf die Erde und solange er warm war, mussten die ehrenvollsten Bewohner des Dorfes sich auf ihn legen und ihn abermals beweinen. Erst dann durften die Menschen seinen fetten Körper in Stücke zerteilen, und den Kopf des Großvaters des Tieres würden sie auf den höchsten Baum emporheben und dort zwischen zwei starken Ästen bestatten.

Schade, dass der Russe Dobrynin weggeflogen ist, dachte Dmitrij abschließend. Er ist klug, er hätte ihnen erklärt, wie man es machen muss, und auf ihn hätten sie gehört…

Dröhnend fuhr der große grüne Panzer durch den Wald des Nordens, presste dabei unbarmherzig den unberührten Schnee nieder, erschreckte die wenigen Tiere und Vögel und streifte den schneeweißen Raureif von den Zweigen der hohen Lärchen.

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