Kapitel 28

Die Meeresluft versetzte Mark, der auf den Balkon hinaustrat, in Hochstimmung. Wie herrlich! Das Schwarze Meer direkt zu seinen Füßen – nur vom zweiten Stock hinuntergestiegen und dann noch den Weg nach unten, wie viele Minuten waren das? Vielleicht fünf oder sieben…

Endlich einmal war er auf Urlaub, das erste Mal seit drei Jahren. Und wo?! Im besten Sanatorium der ganzen Sowjetunion!

Unter seinem Balkon standen ein paar Feriengäste. Alle waren sie weiß gekleidet. Auch ihre Haut war weiß – Neuankömmlinge, genau wie er.

Und diese Palmen! Und die Zypressen!

Wenn er doch nur für immer hierbleiben könnte! Wenn auch nur als Gruppen-Animateur oder in irgendeiner anderen Funktion! Es musste nicht einmal unbedingt das Erholungsheim „Ukraina“ sein. Irgendein drittklassiges Sanatorium würde es auch tun…

Nachdem Mark in sein kleines, gemütliches Zimmer zurückgekehrt war, packte er seinen Koffer aus und hängte die Kleidungsstücke auf die Bügel im Schrank. Dann füllte er die Tränke des Käfigs mit Wasser. Er gab Kusma Kekse und einige Erdnüsse, die schon lange im Koffer gelegen hatten.

„Guten Morgen, werte Feriengäste!“, verkündete das Radio an der Wand und Mark erschrak davon. „Hier spricht die Sendezentrale des Erholungsheims ‚Ukraina‘! In fünfzehn Minuten laden wir alle Neuankömmlinge zum Einführungsvortrag über die Erholung an diesem Kurort ein, den Genosse Semaschko für Sie halten wird. Der Vortrag findet in der Aula des Hauptgebäudes statt. Dort können Sie sich auch mit dem Kulturprogramm für Ihren Aufenthalt vertraut machen!“

Mit der Eile eines Zuspätkommenden sah Mark hastig seine eben erst aufgehängten Hemden durch und entschied sich selbstverständlich für ein weißes. Hierauf wählte er eine Krawatte aus und nahm einen hellbeigen Sommeranzug vom Kleiderbügel, den er sich einen Tag vor der Abreise gekauft hatte. Er kleidete sich an und kämmte sich das Haar. Ihm entging nicht, dass die braunen Sandalen nicht besonders gut zum Anzug passten, aber er hatte keine anderen.

„Also, Kusma, erhol dich gut! Ich komme bald zurück!“

Die Tür schnappte ins Schloss und der Papagei blieb allein zurück.


Die Aula war ziemlich groß, aber zu Marks Verwunderung bereits randvoll mit Feriengästen. Der Künstler entdeckte noch einen freien Platz in der vierten Reihe und stürzte auf diesen zu, dabei kam er offensichtlich einem Dickwanst in einem grauen, kurzärmeligen Hemd und einer breiten Leinenhose zuvor, der ebenfalls darauf zustrebte.

An der Wand war ein Rednerpult für den Vortragenden vorbereitet. Eine ältere Frau in einem weißen Kittel brachte einen Krug Wasser sowie ein Glas und stellte beides auf das Pult. Mark sah sich um. Er fand es interessant, die Menschen zu beobachten, die jetzt einen Monat lang um ihn sein und sich an seiner Seite erholen würden. Vielleicht würde er sich sogar mit einigen von ihnen anfreunden.

Ein ganz gewöhnliches Publikum. Es gab wesentlich mehr Männer, und sie sahen so aus, als würden sie vor Gesundheit strotzen. Frauen gab es wenige, doch da, zwei Reihen hinter Mark, saß eine hübsche Brünette, neben ihr jedoch noch so ein gesund aussehender Kerl, glatt rasiert und mit hervorstehenden Wangenknochen. Obwohl, vielleicht gehörte er ja gar nicht zu ihr…

Mark drehte sich um, um die andere Saalhälfte zu überblicken.

„Genossen!“, ertönte vom Rednerpult her eine angenehme Baritonstimme. „Genossen, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!“

Am Rednerpult stand der Vortragende – ein stämmiger, kleiner Mann in einem grauen Anzug und mit einer wuchtigen Brille auf der Nase. Nun nahm er die Brille jedoch noch einmal ab, um das Publikum zu mustern.

„Guten Tag!“, sagte er zur Begrüßung.

Eine wirklich erstaunlich angenehme Stimme!, dachte Mark.

„Ich möchte mit Ihnen über die Sonne und das Meer sprechen.“ Der Vortragende hob das Kinn, um dadurch diese beiden Worte zu betonen. „Jetzt sagen Sie mir einmal: Warum lieben wir alle den Sommer so sehr? Warum träumt jeder davon, seinen Erholungsurlaub gerade im Sommer zu nehmen? Ist das ein Vorurteil, eine Mode? Oder stecken dahinter etwa triftige Gründe? Die Liebe zum Sommer ist biologisch tief verwurzelt…“

Die Stimme des Vortragenden fesselte Mark und es wurde ihm so heiß, als würde er nicht einem Vortrag zuhören, sondern unter dem Einfluss eines mächtigen Hypnotiseurs stehen. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte und knöpfte den obersten Knopf seines weißen Hemdes auf. Sodann nahm er eine bequemere Haltung auf seinem Stuhl ein, indem er die Arme auf die weichen, mit braunem Wachstuch bezogenen Armlehnen stützte.

„…ihr liegt die Liebe zur Sonne als Ursprung des Lebens zu Grunde.“ Die Baritonstimme fuhr im Singsang mit dem Vortrag fort. „‚Die Natur ist der beste Arzt!‘, das wussten schon die alten Römer. Und das ist die Wahrheit. Schauen Sie sich doch nur die Triebe von Kartoffeln im dunklen Keller an: Sie sind bleich und kränklich. Schauen Sie sich die Kinder an, die in Kellerbehausungen wohnen: Auch sie sind bleich und blutarm, wie die Kartoffeltriebe im Keller. Aber man braucht nur die Kartoffeltriebe mit dem Sonnenlicht aussetzen oder die Kinder aus den dunklen und feuchten Kellern an die Sonne lassen – dann haben wir plötzlich ein ganz anderes Bild: Die wundertätige Sonne erfüllt sie mit Lebensenergie. Das ist der Grund, warum alle, denen nicht der Kopf verdreht ist von der idiotischen Mode der Blässe und des matten Teints, danach streben, im Sommer braun zu werden. Sonnenbräune ist ein äußeres Zeichen für die Verbesserung der Gesundheit eines Menschen. Daher zieht es alle zur Sonne, von den Bäumen bis zu den Menschen. Und deshalb müssen wir alle den Sommer nutzen…“

Mark hörte inzwischen mit geschlossenen Augen zu. Die Vorfreude auf den Urlaub ähnelte einem märchenhaften Traum, einem Glücksgefühl. Wie lange hatte er nicht mehr in einem Saal gesessen und jemandem einfach nur zugehört. Wie lange schon war er kein gewöhnlicher Zuhörer mehr gewesen, kein winziger Teil des Publikums. Und wie angenehm: Die Aufmerksamkeit des Vortragenden erfasst dich, seine angenehme Stimme erklingt nur für dich.

Sein Kopf senkte sich auf die rechte Schulter, die der Papagei malträtiert hatte. Und so veränderte sich auch seine Haltung und er neigte sich zur rechten Seite.

Der Mann, der dort saß, klein und untersetzt, mit weichen, sanften Gesichtszügen und kurzgeschnittenem, dunkelblondem Haar, rückte ebenfalls nach rechts und sah Mark dabei keineswegs missgestimmt, sondern geradezu verständnisvoll an.

Der Vortragende fuhr fort. Das Interesse, das in den Gesichtern des Publikums geschrieben stand, spornte ihn an.

„…Es gibt keinen erfreulicheren Anblick als gebräunte, bis zum Gürtel entblößte Körper von Ausflüglern, die sich auf malerischen Bergpfaden oder am Meeresstrand unter den glühenden Strahlen der Sonne des Südens bewegen. Es gibt nichts Schöneres als ganze Reihen von braungebrannten Körpern, die am Meeresstrand zur Badestunde ausgestellt sind. Und wie Würmer oder gar Maden so weiß leuchten zwischen ihnen die Körper der Neuen auf, die sich der Sonne noch nicht ausgesetzt haben. Und den Effekt der südlichen Sonne auf der Krim und an der Schwarzmeerküste verstärkt natürlich noch die Wirkung des Meeres. Das Meer, das in der tropischen Hitze des südlichen Klimas für Frische sorgt; das Meer, dessen Schönheit seinesgleichen sucht; das Meer, das ein beispielloses Badevergnügen ermöglicht; das Salzwasser, das die Nerven stärkt und auf die Blutgefäße einwirkt – dieses Meer zieht Ausflügler an, die Kranken und die Erholungsuchenden. Sonne und Meer – das ist eine Kombination, die ebenso schön wie gesund ist. Es ist die Aufgabe aller öffentlichen Einrichtungen, sowohl staatlicher als auch ehrenamtlicher, auf jede erdenkliche Weise diesen Drang zur Sonne und zum Meer zu unterstützen und den Werktätigen die Möglichkeit zu geben, ihre Arbeitsfähigkeit durch diese Heilkraft der Natur wiederherzustellen und zu stärken. Es ist eine schlechte Gewerkschaft, die ihre Mitglieder darin nicht unterstützt; es ist eine schlechte staatliche Arbeiterbehörde, die ihre Arbeiter darin nicht unterstützt; es ist ein schlechter Bewohner unseres Staates, der nicht aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln danach strebt, die Sommerzeit zu nützen…“

In diesem Moment bekam eine Frau in den hinteren Reihen einen Niesanfall. Der Vortragende reckte seinen Hals wie eine Giraffe, machte diejenige mit durchdringendem Blick ausfindig und ließ seine Baritonstimme über die Köpfe hinweg in ihre Richtung erschallen: „Gesundheit!“

„…sich erholen, sich auskurieren“, fuhr er fort, als es im Saal wieder still geworden war, „und sich im Sommer abhärten, besonders in der Sonne des Südens und am Meeresufer – das ist Ihre nächste Aufgabe für diesen heutigen Tag. Das muss für alle Werktätigen zum Gegenstand ihres Bemühens werden, denn die Sonne und das Meer wirken vielseitig und energievoll: Sie härten ab und sie machen gesund!“

Nach dem Vortrag schloss sich Mark dem Strom der Feriengäste an und ließ sich davon in den geräumigen Speisesaal treiben.

„Genosse Iwanow?“, ertönte die laute Stimme der Diätschwester, die die Kurkarte der neuen Feriengäste überprüfte. „Schmerzen an der Leber? Oder im Magen?“

Mark beschloss, nicht zu klagen.

„Nein, alles in Ordnung“, sagte er.

„Na wunderbar, Genosse Iwanow. Dann setzen Sie sich bitte an Tisch Nummer 15, er ist dort am Fenster, mit Aussicht sozusagen. Suchen Sie sich irgendeinen Platz aus. Aber setzen Sie sich bitte dann immer dorthin, damit Ordnung herrscht.“

Nachdem er seinen Platz an dem Tisch ausfindig gemacht hatte, fühlte sich Mark angenehm entspannt. Auf dem Tisch, der mit einer schneeweißen Tischdecke bedeckt war, befand sich auf einem Ständer ein Körbchen mit Brot und gleich daneben, etwas tiefer, ein kleineres mit Servietten.

Ein dreistöckiges Wägelchen mit warmen Speisen wurde an den Tisch herangefahren, und die Kellnerin, die es schob, eine kleine, braungebrannte junge Frau mit einem langen schwarzen Zopf, stellte lächelnd einen Teller Suppe vor Mark auf den Tisch.

„Sitzt hier schon jemand?“, fragte sie und deutete dabei auf die noch leeren Plätze.

Mark zuckte mit den Achseln.

„Egal, gleich wird sich jemand dazusetzen“, murmelte sie vor sich hin und stellte drei weitere Teller mit Suppe auf den Tisch.

Mark beugte sich über seinen Teller und sog das Aroma der Suppe ein, das ihm entgegenströmte.

Hühnersuppe mit Fadennudeln – ohne hinzusehen erinnerte er sich an den milden und feinen Geruch. Er nahm den glänzenden Edelstahllöffel mit einem auf dem Griff eingeprägten Kremlturm zur Hand. Dann hielt erkurz inne, um sich einzustimmen.

Der Geschmack der Suppe tat der Zunge so wohl, dass er sie gar nicht hinunterschlucken mochte.

Drei weitere Feriengäste setzten sich an den Tisch – zuerst der Herr mit dem Kurzhaarschnitt, der klein und etwas dicklich war und beim Vortrag neben ihm gesessen hatte, und dann noch ein älteres Ehepaar: eine füllige Dame mit ungewöhnlich rosigen Wangen in einem violetten Kleid und ihr Gatte, stattlich, gesund und glatzköpfig, mit großen Händen, in blauem Hemd und einer Trainingshose.

„Guten Appetit!“, wünschte Mark.

Sie lächelten.

Es stellte sich heraus, dass der Dickliche der Leiter eines öffentlichen Abfallverwertungsunternehmens war. Sein Nachname war Waltusow.

Das Oberhaupt der Familie Jewsjukow hatte viele verantwortungsvolle Tätigkeiten ausgeübt. Nun stand er einer Lederfabrik in der Nähe von Moskau vor. Der Name seiner Frau war Klawdija Stepanowna.

Als Hauptspeise brachte die sympathische Kellnerin Koteletts vom Rind mit gedämpftem Kohl.

Mark konnte sich gar nicht genug über die Qualität der warmen Speisen freuen.

Klawdija Stepanowna teilte seine Begeisterung nicht und meinte, er sei wohl noch nie verheiratet gewesen. Das traf auch zu.

Die anderen beiden Männer, Waltusow und Jewsjukow, aßen allerdings ebenso begierig und mit Leidenschaft, und Mark fühlte sich durch ihr leises Schmatzen bestätigt. So versuchte auch er lauter zu kauen, obwohl er eigentlich Tischmanieren besaß, damit er sich nicht von den anderen unterschied.

Das Marillenkompott war Mark zu süß. Den Windbeutel beschloss er für Kusma mitzunehmen und wickelte ihn sorgfältig in eine Papierserviette ein.

„Haben Sie einen Hund mitgebracht?“, fragte Klawdija Stepanowna im Scherz.

„Nein“, antwortete Mark gleichfalls scherzend. „Ich habe einen Vogel!“

Alle lachten.

Bevor Mark zum Meer ging, steckte er Kusma das Gebäck in den Käfig. Diesen trug er auf den Balkon hinaus und stellte ihn dort auf einen Korbsessel.

„So, jetzt kannst auch du dich aufwärmen“, sagte Mark zu Kusma. „Von hier aus kann man die Palmen sehen, vielleicht erinnern sie dich an deine weit entfernte Heimat?“


Auf dem Strand lagen Massen von Menschen. Mark musste buchstäblich alle fünf Meter über jemanden hinwegsteigen oder jemandem ausweichen.

„Genosse Iwanow! Genosse Iwanow!“ Plötzlich drang ein Rufen an sein Ohr.

Er wandte sich um.

„Kommen Sie zu uns!“, lud ihn das Ehepaar Jewsjukow ein, das es sich unter einem Sonnenschirm gemütlich gemacht hatte. „Sie sollten schließlich auch nicht gleich direkt in die Sonne gehen – sonst bekommen Sie einen Sonnenbrand!“

Bereitwillig legte Mark seine gestreifte Matte neben das Ehepaar.

„Ein Kartenspiel gefällig?“, schlug Jewsjukow vor.

Sie spielten „Sei nicht der Dumme“.

Mark ärgerte sich anfangs über die albernen Scherze und derben Zwischenbemerkungen des Genossen Jewsjukow. Aber da er wusste, dass er den Leiter einer Lederfabrik vor sich hatte, beruhigte er sich und betrachtete dessen Derbheit als Berufskrankheit. Er war mit Kusma oft genug in Lederfabriken aufgetreten. Und jedes Mal hatte man ihm den Produktionsvorgang erklärt und vorgeführt, und jedes Mal hatte Mark die Derbheit der Arbeit und der Arbeiter in diesen Werken feststellen können. Also beschloss Mark auch diesmal, sich rasch daran zu gewöhnen, und vesuchte, dem keine weitere Beachtung zu schenken.

In allen drei Runden war Mark der „Dumme“. Danach ging man baden.

Obwohl es erst Anfang Juni war, war das Meer in diesem Jahr schon warm. Mark schwamm zu einer roten Boje hinaus, die neben einem Pfahl lag, an dem ein Rettungsboot mit einem Matrosen darin festgebunden war. Dabei erinnerte er sich an den wunderbaren Einführungsvortrag, der im Erholungsheim gehalten worden war. Und er dachte an die Aussagen darin und stimmte ihnen vollkommen zu. Sonne und Meer! Ursprung des Lebens! Die Natur ist der beste Arzt! Wie recht der Vortragende doch hatte!

Am nächsten Morgen machte Mark Morgengymnastik auf dem Balkon. Vom Nachbarbalkon sah ein netter Herr herüber, der noch ziemlich jung wirkte.

„Hallo, Herr Nachbar!“, sagte er freudig. „Darf ich mich vorstellen? Wjatscheslawin, Dichter.“

Mark stellte sich ebenfalls vor.

„Oh, wie symbolisch! Ein Dichter und ein Künstler wohnen nebeneinander, Wand an Wand. Das ideale Produktionsverfahren!“

Das Gespräch dauerte nur kurz.

Der Dichter ging sich rasieren und Mark lief zum Meer hinunter, um noch vor dem Frühstück bis zur Boje und wieder zurück zu schwimmen.


Die Tage verflogen viel zu schnell. Es war ihm, als wäre er erst gestern in dieses wundervolle Erholungsheim gekommen, und nun hatte er hier schon acht oder neun Mal zu Mittag gegessen und genau so oft gefrühstückt.

Nach einem weiteren Mittagessen beschloss Mark, sich einen Mittagsschlaf zu gönnen. Er hatte schon das Hemd ausgezogen, als es an der Tür klopfte.

Der Dichter Wjatscheslawin war gekommen. Als Geschenk hatte er ein Buch von sich mitgebracht.

„Vielleicht kannst du es brauchen!“, sagte er und deutete auf den im Käfig sitzenden Papagei.

Und dann setzte er sich ganz zwanglos in den Korbsessel.

„Es ist doch alles symbolisch!“, meinte er überschwänglich. „Lunatscharskij ist damals ganz umsonst gegen den Symbolismus aufgetreten. Umsonst! Das ist schließlich die Grundlage zum Verständnis von Geschichte. Ja, und die Revolution an sich, dass sie nämlich ausgerechnet mit dem Hinauswurf der höheren Töchter aus dem Smolnyj begonnen hat? Ist das etwa nicht symbolisch?!“

Mark hörte zu und nickte.

Aber der Dichter Wjatscheslawin redete und redete. Dann verstummte er plötzlich und versank in Gedanken, offenbar war ihm beim Lobgesang auf den Symbolismus ein interessanter Gedanke gekommen, den er sonst zu vergessen fürchtete.

„Jetzt mache ich mich ans Schreiben!“, meinte er dann mit veränderter Stimme, die besorgt klang, nickte und ging.

Mark atmete erleichtert auf. Er legte das Buch des Dichters auf den Tisch und begab sich zu Bett.


Ein paar Tage später verkündete die Sendezentrale des Erholungsheims, dass es eine Meisterschaft der Feriengäste im Krim-Zweierbewerb geben würde. Der Zweierbewerb bestand aus Riesenschach und Ringwurf: für Frauen aus sieben Meter und für Männer aus elf Meter Entfernung.

Unverzüglich kam der Dichter Wjatscheslawin angelaufen und schleppte Mark mit sich zum Teilnehmer-Treffpunkt. Dort standen bereits auf einem speziellen Platz im Park das Ehepaar Jewsjukow und viele andere Feriengäste, deren Gesichter Mark schon kannte. Nur Waltusow war nicht zu sehen.

Die Riesenschachfiguren waren wirklich groß – sie reichten Mark bis zum Gürtel.

In seiner Kindheit hatte er dieses Spiel sehr gemocht.

Der Wettkampfrichter, ein ehemaliger Boxmeister der Ukraine, verkündete die feierliche Eröffnung der Meisterschaft.

Sie dauerte bis zum Abendessen. Aus Zerstreutheit verlor Mark die Dame nur fünf Minuten nach Beginn des Spiels, und er ergab sich darauf sogleich, woraufhin er höhnische Bemerkungen von Jewsjukow erntete, der ihn angefeuert hatte. Jewsjukow, der die nächste Partie spielte, gewann gegen einen hiesigen Zahnarzt, ins Finale kam er dennoch nicht; ein Gast der Meisterschaft besiegte ihn – der Leiter der benachbarten Grenzwache. Letztendlich kannte Mark keinen der Sieger des Zweierbewerbs. Besonderen Spaß hatte ihm die Teilnahme an den Spielen nicht gemacht, aber es tat ihm auch nicht leid um die aufgewendete Zeit – schließlich war auch Sport Erholung!

Beim Abendessen machte Jewsjukow wieder Witze über Marks verlorenes Spiel, aber seine Gattin wechselte geschickt das Thema. Sie sprachen über Leder und über neue Verfahren des Gerbens. Und als Waltusow gegangen war, lud Klawdija Stepanowna Mark zu ihnen auf das Zimmer ein: Jewsjukow habe sehr guten und edlen Wein gekauft.

Das Zimmer der Jewsjukows erwies sich als dreimal so groß wie das von Mark. In der Mitte des weitläufigen Raums stand ein schöner, polierter Tisch auf soliden Beinen. Das Oval der Tischplatte wurde von den Lehnen antiker Stühle umrahmt. Auf Servietten aus dem Speisesaal standen drei verschiedene Flaschen: „Kokur“, „Muskat“ und „Sherry“. Daneben lagen in einer Schale Weintrauben, Äpfel, Marillen und Pfirsiche.

„Wird denn hier alles so früh reif?“, wunderte sich Mark laut.

Jewsjukow sah seinen Gast herablassend an.

„Nein, das kommt aus Zentralasien. Hier wächst alles später.“

Klawdija Stepanowna holte Kristallgläser aus einer Anrichte, die an der Wand stand.

Mark bemerkte ein Bild, das über einem großen Sofa hing. Darauf bliesen Pioniere zum Appell. Rechts unten prangte dick und fett die Signatur des Künstlers.

„Also, Genosse Iwanow“, sagte Jewsjukow, ohne den Gast anzusehen, und setzte den Korkenzieher an den Sherry an. „Nehmen Sie Platz! Gleich werden Sie einen echten Wein verkosten!“

Er glaubt wahrscheinlich, dass ich noch nie Sherry getrunken habe!, dachte Mark verärgert, sagte aber nichts.

Schließlich setzten sie sich an den ovalen Tisch.

„Länger, Sie müssen ihn länger im Mund behalten!“, empfahl Jewsjukow, aber es klang eher wie ein Befehl.

Mark hätte sich beinahe verschluckt. Er schluckte den Wein hinunter, tat aber so, als ob er ihn auf der Zunge behalte.

„Ein wenig im Mund behalten…“ Hitzig gab der Direktor der Lederfabrik Anweisungen. „Klawotschka, haben wir Sprotten da?“

„Ja, mein Schatz!“, antwortete seine Frau.

„Mach sie bitte auf, sie passen hervorragend zum Muskat.“

Bald stiegen sie auf den Muskat um. Und das Gespräch wechselte sogleich vom korrekten Weingenuss auf freiere Themen über, auf Ereignisse aus dem Leben.

„Ja, so ist er, immer bemüht er sich darum, voranzukommen!“, sagte Klawdija Stepanowna, nachdem sie eine weitere Grobheit ihres Mannes ausgebügelt hatte. „Vor kurzem erst hörte er, dass in Wologda die Kreuze von den Glockentürmen der Klöster abgenommen werden sollen. Da ist er aufgesprungen und losgefahren – ist selbst dorthin gefahren und hat eigenhändig Kreuze abgesägt!“

Mark, der schon etwas angeheitert war, hörte der Frau mit den rosigen Wangen zu.

Jewsjukow, der mehr und schneller trank als Mark, benutzte die Pause dazu, um das nächste Glas Wein zu leeren. Es hatte den Anschein, als würde er es genießen, den Erzählungen seiner Frau über sich selbst zuzuhören.

„Einmal ist er mit einem Militärpiloten in den Himmel geflogen!“, fuhr Klawdija Stepanowna fort, ihren Mann zu loben.

Und ich fahre immer nur Zug!, dachte Mark traurig und stellte fest, dass er in seinem Leben nichts Heroisches vollbracht hatte und sich mit nichts brüsten konnte.

Wieder knallte der Korken, er stammte bereits von der vierten Flasche. Sie waren zum Sherry zurückgekehrt, der ihnen nach dem Muskat und dem Kokur nun etwas bitter vorkam.

„Und im zweiundzwanziger Jahr bin ich extra nach Gorkij gefahren zu Lenin!“ Jewsjukow übernahm von seiner Frau wieder das Wort und beschloss, nun selbst von sich weiterzuerzählen. „Es ist mir damals nicht gelungen, mit ihm zu sprechen, aber ich habe ihn aus der Nähe gesehen!“

„Ich habe ihn auch gesehen…“, sagte Mark mit schwerer Zunge und sah dabei auf sein Kristallglas mit Sherry.

„Wann?“, fragte Jewsjukow.

„Na, so ungefähr vor zwei Jahren…“, brachte Iwanow langsam hervor.

Jewsjukow kniff die Lippen zusammen. Klawdija Stepanowna verkrampfte sich, um sich für die nächste Grobheit ihres Mannes zu wappnen.

„Zu viel getrunken!“, sagte der glatzköpfige Ehemann unerwartet sanft, aber mit geringschätzigem Gesichtsausdruck. „Der Künstler hat zu viel getrunken! Ein Säufer…“

Mark ertrug es, ohne seinen Blick vom Glas zu wenden. Ihm war plötzlich die unterschriebene Verschwiegenheitserklärung eingefallen, und auch der letzte strenge und drohende Blick dieser militärischen Person, des Oberleutnants…

„Ein Säufer und ein Schmarotzer!“, meinte Jewsjukow nach einer Pause.

„Warum Schmarotzer?“, stieß Mark hervor.

„Warum Schmarotzer?“, hob Jewsjukow verwundert die Brauen. „Weil du bei deinem Vogel, deinem Papagei, mitschmarotzt! Wer bist du denn ohne den Vogel? Hm? Wer braucht dich schon ohne den Vogel?!“

Mit einem Mal fühlte sich Mark sehr schlecht. Er stand auf und hätte beinahe den Stuhl dabei umgeworfen.

„Genosse Iwanow, Genosse Iwanow!“, gackerte Klawdija Stepanowna.

„Setz dich!“, fuhr ihr Mann sie an. „Soll er doch gehen, der Papageienlakai!“

Ohne seine Beine zu spüren, kehrte Mark in sein Zimmer zurück, setzte sich in den Korbsessel und weinte. Ihm war übel. Wie ein bunter Nebel hing der Wein in seinem Kopf.

Es klopfte an der Tür. Mark reagierte nicht, doch die Tür öffnete sich. Klawdija Stepanowna trat ein und kauerte sich neben ihn hin.

„Kränken Sie sich bitte nicht seinetwegen!“, bat sie. „Er ist kein schlechter Mensch, er ist nur unbeherrscht. Er ist schließlich ein Arbeitstier, er hat bereits seit fünf Jahren eine Betriebsneurose. Aber eigentlich ist er ein Guter, er ist mit dem berühmten Stoßarbeiter Stachanow befreundet, ist in seinen Schacht hinabgestiegen und hat sogar versucht, Kohle abzubauen… Verstehen Sie, es ist einfach sein Charakter…“

Sie strich Mark über den Kopf und zerzauste dabei sein kurzes, schwarzes Haar.

„So beruhigen Sie sich doch bitte!“, bat sie.

Als Klawdija Stepanowna gegangen war, stand Mark auf, um die Tür hinter ihr abzuschließen, aber da erinnerte er sich, dass die Türen im Erholungsheim keine Schlösser hatten. Also sank er wieder in den Korbsessel zurück. Langsam verflüchtigte sich der Wein aus seinem Kopf. Zurück blieb eine tiefe Kränkung.

Er wollte nicht allein sein.

Er ging auf den Balkon hinaus und sah nach, ob Kusma noch etwas zu fressen hatte.

Dann blickte er zum benachbarten Balkon hinüber – jetzt hätte Mark nichts dagegen gehabt, sich mit dem Dichter Wjatscheslawin zu unterhalten. Aber dort war alles still.

Mark wusch sich das Gesicht, nahm den Käfig mit Kusma und machte sich zum Meer auf, ging aber nicht bis zum Strand, sondern setzte sich auf einen kleinen Felsen, auf dem man einen geschmackvollen Pavillon errichtet hatte.

„Man achtet uns nicht“, meinte Mark und blickte den Vogel an. „Niemand braucht uns, dich und mich…“

Und wieder wollte Mark weinen, aber dieses Mal hielt er die Tränen zurück.

Abends erzählte er Wjatscheslawin vor dem Essen von seiner Kränkung. Sie saßen im Zimmer des Dichters, das ebenfalls klein und gemütlich war, und tranken Portwein. Was Mark im Zimmer der Jewsjukows passiert war, fand der Dichter sehr symbolisch. Dann geriet das Gespräch in irgendwelche historischen Labyrinthe, aber Mark wollte beim Thema bleiben. Er hörte einer Stimme zu, der Stimme eines Menschen, der mit ihm fühlte und ihn auch zu verstehen schien. Umso mehr, weil sie einer verwandten Tätigkeit nachgingen.

Als die Sendezentrale an das Abendessen erinnerte, schlug der Dichter vor, dass Mark sich im Speisesaal zu ihm an den Tisch setzen solle. Es stellte sich heraus, dass er sich vor ein paar Tagen ebenfalls mit seinen Tischnachbarn zerstritten hatte, und so setzten sie sich in die andere Ecke des Speisesaals.

Gegen Abend konnte sich Mark endgültig beruhigen. In sein Zimmer zurückgekehrt schlug er das Buch auf, das ihm der Dichter geschenkt hatte, las stichprobenartig etwa zwanzig Gedichte und beschloss, dass sie ihm in Zukunft nützlich sein würden. Es ließen sich darunter einige gelegentlich benötigte thematische Gedichte finden: über die Arbeit der Eisenbahner und Weichensteller, über Köche, über die Zuckerproduktion.


Bis zum Urlaubsende blieb noch eine Woche.

Mark verbrachte sie in der Gesellschaft des Dichters. Seine früheren Tischnachbarn mied er – sogar Waltusow, der eigentlich gar nichts damit zu tun gehabt hatte. Während dieser Zeit besuchte Mark noch einige interessante Vorträge für die Feriengäste. Beinahe hätte er eine bezaubernde Frau kennengelernt. Aber er hielt sich zurück: Was brachte es denn, eine Woche für das Kennenlernen aufzuwenden, um dann an Abschiedsschmerz und ähnlichen Gefühlen zu leiden?

Drei Tage vor der Abreise sonnten sie sich zu dritt am Strand, Mark, der Dichter und Kusma. Sowohl Mark als auch der Dichter durften auf ihre Bräune stolz sein – auf dieses äußere Zeichen für eine verbesserte Gesundheit. Diesmal sprachen sie über kreative Arbeit, über Dienstreisen, auf denen Wjatscheslawin sich am Beispiel von Vertretern unterschiedlichster Berufsgruppen in deren Probleme hineinfinden musste, und darüber, wie schwierig es manchmal war, diese Tätigkeitsmodelle mit ihren Problemen wieder hinter sich zu lassen. Besonders schwer war es dem Dichter gefallen, das Modell eines bekannten Chirurgen namens Bakulew wieder aufzugeben.

Plötzlich wurde das Gespräch von donnerndem Gepolter unterbrochen, auf das ein Schrei folgte, der sogleich von mehreren Stimmen begleitet wurde. Immer wieder wurden dabei die Worte „Einen Arzt! Einen Arzt!“ wiederholt.

Mark und Wjatscheslawin sprangen auf und liefen, ohne sich anzuziehen, in ihren schwarzen Badehosen nach oben an den Ort des Geschehens.

Auf dem Platz vor dem Hauptgebäude des Erholungsheims angekommen, bot sich Mark und dem Dichter der Anblick einer Menge von Steinbrocken und darunter der zertrümmerte Körper eines Mannes, der auf unnatürliche Weise mit dem Gesicht zu Boden lag.

„Ich hab ihm noch zugerufen, geschrien habe ich!“, erzählte ein dort stehender Feriengast, weiß wie Papier, dem Direktor des Erholungsheims und seine Stimme überschlug sich dabei vor Aufregung. „Aber er ist trotzdem auf das Dach geklettert, dann ist er auf den Vorbau zu diesen Statuen hinabgestiegen, um sie zu betrachten und zu betasten… Und bei der letzten dann, bei der „Kolchosbäuerin“, ist er gestolpert und hat sich an ihr festgehalten, um nicht zu stürzen, und dann ist er mit ihr gemeinsam… herunter…! Und nicht ausgelassen hat er sie!“

Mark wurde übel.

„Aber das ist doch Genosse Jewsjukow!“, sagte einer, der sich über den Kopf des liegenden Mannes gebeugt hatte. „Seine Frau ist auch hier… Man muss sie verständigen…“

„Gehen wir!“, stieß Mark den Dichter in die Seite. „Mir ist nicht gut…“

Sie gingen zur Seite und blieben stehen.

Mark bückte sich hinter einen Strauch, aber sein Magen wollte sich nicht erleichtern. „Äußerst symbolisch! Äußerst!“, sagte Wjatscheslawin mit erschütterter Stimme. „Das war doch der, der dich angeschrien hat, oder?“

„Ja…“, presste Mark hervor, ohne sich aufzurichten, und übergab sich.

Als er fertig war, drehte er sich zum Dichter um.

„Ich gehe in mein Zimmer. Tu mir einen Gefallen, geh zum Strand und hol meine Matte und den Käfig mit Kusma!“

Der Dichter nickte und schlug den Weg ein, der zum Meer führte.

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