Kapitel 6

Der Pfad führte den Engel immer weiter bis zu einem an den Wald grenzenden kleinen Dorf, wo er in einen Fahrweg mündete. Dieser Weg war die einzige Straße im Dorf, nach der alle Hütten, von denen es nicht mehr als zwei Dutzend gab, ihre Fenster ausgerichtet hatten. Hinter dem Dorf verlief der Weg weiter an Wiesen entlang und verlor sich irgendwo dazwischen.

„Hier ist also die erste Siedlung!“, dachte der Engel.

Der Abend war nah. Im Hof der nächstgelegenen Hütte hängte eine Frau Wäsche zum Trocknen auf. Der Engel trat an den Zaun heran und grüßte, sie aber lief, nachdem sie ihn gesehen hatte, ohne auf seinen Gruß zu antworten ins Haus.

Der Engel wollte gerade kehrtmachen, um mit der Bitte um Essen und ein Nachtquartier zu einer anderen Hütte zu gehen, als ihn die Stimme eines Mannes anrief.

„Komm doch her!“ Der Mann war klein und trug eine Hose aus grobem Leinenstoff und ein graues Leinenhemd, das mit einer Schnur gegürtet war. „Bist du ein Flüchtling?“

Der Engel trat näher.

„Ich würde gerne bei Ihnen übernachten…“, sagte er und sah den Hausherrn freundlich an.

„Ein Flüchtling…“, sagte der Mann nachdenklich und betrachtete die Rotarmisten-Uniform des Engels. „Na komm rein!“

Der Boden im Flur war erdig vom Schmutz, der mit den Stiefeln hereingetragen worden war. Der Herr des Hauses zog selbst die Schuhe aus und bat auch den Engel, die Stiefel auszuziehen, als er plötzlich bemerkte, dass der Gast barfuß gekommen war. Er wunderte sich, wühlte in einer Truhe, die dort stand, holte schmale und ein wenig kurze Stiefel hervor und reichte sie dem Engel:

„Zieh die an!“

Der Engel zog sie gehorsam an und stampfte damit auf dem Boden herum.

„Und, wie sind sie?“, fragte der Hausherr und schaute auf die Füße des Gastes.

„Gut“, antwortete der Engel.

Die Stiefel waren etwas zu groß, aber die heimliche Freude des Engels, auf solch eine Güte zu stoßen, war noch größer.

Sie gingen in die Stube, wo die Hausfrau schon am russischen Ofen geschäftig war und mit dem Schürhaken einen großen Topf näher an das Feuer rückte.

„Gleich ist alles fertig“, sagte sie.

Der Gast ließ sich auf der Bank nieder und blickte um sich, um das Zimmer zu mustern. Die Behausung war sauber und ordentlich; ein breites Bett stand ums Eck hinter dem russischen Herd und war mit einem mit roten Hähnen bestickten Überwurf bedeckt. Auf dem Tisch lag schon Brot.

Der Gastgeber warf einen Blick ins Zimmer, lächelte seinem Gast zu und verschwand wieder im Flur. Er ging offenbar auf den Hof hinaus, denn die Haustür fiel ins Schloss.

Während sich der Engel in der Stube umsah, ging eine kleine Lampe an, die von der Decke hing, und verbreitete mattes Licht. Gleich darauf war wieder die Tür im Flur zu hören und der Hausherr erschien, zufrieden, jedoch mit ernster Miene. Er warf einen Blick auf die Lampe, wandte sich dann an seinen Gast und erklärte, dass ein Vogel das Stromkabel abgerissen habe und er deshalb einen Knoten habe knüpfen müssen, damit wieder elektrischer Strom in die Hütte kam.

Der Hausherr erfreute sich noch eine Weile am Licht der Lampe und setzte sich dann am anderen Ende des Tisches ebenfalls auf die Holzbank, um auf das Essen zu warten.

Die gedünsteten Kartoffeln mit Speck waren nicht im Geringsten mit dem Essen im Paradies zu vergleichen, aber der Engel aß mit Behagen. Am meisten freute er sich jedoch über das weiche und sättigende Brot. Sein Gastgeber stürzte sich ebenfalls auf das Essen, als habe er buchstäblich das halbe Land mit dem Pflug beackert. Er kaute gierig und hatte es irgendwie sehr eilig.

„Noch mehr davon?“, fragte die Hausfrau.

„Nein, danke…“, sagte der Engel.

Der Hausherr schüttelte nur verneinend den Kopf.

„Dann bringe ich den Rest nach unten“, sagte die Frau und nahm den bauchigen Topf vom Tisch.

Sie ging mit ihm in die zur Flurtür nächstgelegene Stubenecke und hob mit einer Hand eine Holzplatte hoch – den Eingang zum Keller.

Der Engel aß zu Ende und spürte, dass es ihm guttun würde, sich niederzulegen. Er warf einen Blick auf den Gastgeber, der aber immer noch kaute, deshalb sah der Gast in die andere Richtung und sein Blick fiel auf die Hausfrau, die soeben ohne den Topf aus dem Keller zurückkam.

Inzwischen hatte die Dunkelheit alles Leben vor dem Fenster eingehüllt, und der Gastgeber, der mit dem Gesicht zum Fenster saß, kaute an der letzten Scheibe Brot, gähnte ausgiebig und machte sofort ein Kreuzzeichen vor seinem Mund.

„Was nun, werter Gast“, sagte er mit belegter, schläfriger Stimme. „Du möchtest sicherlich schlafen?“

Der Engel nickte. Er genoss, dass sein Körper zur Ruhe gekommen war, und fühlte sich in dieser Hütte sehr behaglich.

„Also dann, es ist Zeit…“ Der Hausherr gähnte noch einmal und suchte mit den Augen nach seiner Frau. Sehen konnte er sie nicht, aber er hörte, wie sie sich am Bett hinter dem Ofen zu schaffen machte.

„Walja!“, rief der Mann. „Wo legen wir den Gast hin?“

„Bettzeug haben wir keines mehr… Es ist alles unten, er soll hinuntersteigen und sich zu den Soldaten legen…“, antwortete die Frau hinter dem Herd.

„Hörst du?“, sagte der Gastgeber und zuckte die Achseln. „Du bist ja auch eine Art Soldat, nicht wahr, also nichts für ungut…“

„Es ist nicht abgesperrt, zeig es ihm!“, ergänzte die Hausfrau und schimpfte leise, weil sie etwas fallen gelassen hatte.

Der Hausherr führte seinen Gast zum Kellerabgang, und der Engel kletterte auf der Treppe nach unten. Auch unten war es hell – es brannte eine ebensolche Lampe –, nur erwies sich der Keller als etwas niedrig, gerade so hoch wie er selbst. Was seine Größe betraf, so war er freilich etwas kleiner als die Stube, aber auch dort stand ein Tisch, und außerdem drei Holzbänke, die mit Leinenzeug aufgebettet waren. Auf dem Tisch stand der Topf, den die Hausfrau hinuntergetragen hatte, und am Tisch saßen Menschen. Der Engel bückte sich ein wenig, damit das Licht der Lampe, die neben ihm hing, ihn nicht blendete. Er sah drei Tischgenossen beim Essen vor sich: einen alten Mann und zwei jüngere Leute, einer von ihnen trug ein grünes Gewand wie er selbst, der andere hatte Lumpen am Leib.

Der Engel grüßte, und die drei am Tisch nickten ihm zur Antwort zu. Sie aßen konzentriert und gewissermaßen erschöpft; die Erschöpfung stand in ihren Gesichtern geschrieben. Das Erscheinen des Neuen rief bei ihnen keinerlei Verwirrung oder Verwunderung hervor.

Nachdem sie die Kartoffeln aufgegessen hatten, verschnauften sie ein wenig. Der Alte stand sogleich auf, legte sich auf die Bank in der Ecke und wandte sich vom Licht und von den anderen ab.

Der grün gekleidete Mann musterte den Engel aufmerksam, dann tauschte er einen Blick mit seinem Tischnachbarn.

„Aus welchem Trupp bist du?“, fragte er den Engel, während er mit den Fingern etwas zwischen den Zähnen hervorstocherte.

„Ich gehöre zu keinem Trupp…“, sagte der Engel. „Ich bin vom Himmel herabgekommen… Ich wollte sehen, wie es hier ist…“

„Vom Mond bist du gefallen und nicht vom Himmel!“, schnitt ihm der grün Gekleidete hämisch das Wort ab. „Hast du deine Uniform etwa nirgends eintauschen können?“

„Aber Sie tragen doch dasselbe Gewand…“, erwiderte der Engel.

„Ich hab schon was ausgemacht. Mir bringt der Hausherr etwas in der Nacht.“

„Vielleicht bringt er mir auch etwas?“, dachte der Engel laut, der bereits verstanden hatte, dass die Kleidung, die er trug, der Grund für viele Unannehmlichkeiten werden könnte.

„Dir bringt er nichts. Er hat nichts mehr… Und wie würdest du es denn bezahlen? Ich habe ihm eine Waffe gegeben, aber du hast ja rein gar nichts, nicht einmal aus deiner Tasche lugt irgendetwas hervor.“

Der Engel fühlte mit der Hand in den Taschen und überzeugte sich davon, dass sie gähnend leer waren.

„Sag doch einfach dem Hausherrn, dass du es in seinem Schweinestall abarbeitest!“, riet ihm der Bursche in den Lumpen. „Er hat einen Schweinestall, das habe ich gehört, als ich zum Haus gekommen bin!“

„Nein“, sagte der Soldat langsam. „Ist er denn ein solcher Dummkopf, dass er einem Deserteur erlauben wird, in seiner Uniform den Schweinestall auszumisten?!“

Der Alte, der auf der Eckbank lag, schnarchte auf, und alle drei sahen in seine Richtung.

„Und wie wär’s damit?“, sagte der Bursche in den Lumpen zögernd. „Du könntest dem Alten eins über die Rübe ziehen und dich dann umziehen. Es wird dir zwar alles etwas zu kurz sein, aber schau mal, was für ein Stoff.“

„Warum eins über die Rübe ziehen?“, wunderte sich der Engel. „Wozu?“

„Na, von selbst wird er dir nichts geben, und du siehst ja, was das für einer ist: Zieht sich in der Nacht nicht aus, schläft in der ganzen Kleidung“, erklärte der Bursche. „Und das bedeutet: Wenn du ihm keine drüberhaust, dann kannst du dich auch nicht umziehen.“

„Ist schon gut“, winkte der Engel ab. „Ich werde mich später anderswo umziehen.“

„Dummkopf“, sagte der Deserteur schneidend.

Der Eingang zum Keller öffnete sich knarrend. Der Hausherr kam die Leiter bis zur Hälfte herabgestiegen und warf dem Deserteur ein Bündel zu.

Der Deserteur knüpfte es eilig auf; es erwies sich, dass dies tatsächlich die versprochenen zerlumpten Fetzen waren. Sogleich zog er sich um und betrachtete sich.

Der Bursche in den Lumpen lachte laut auf, obwohl er selber nicht besser angezogen war, und auch der Engel lächelte: Der Deserteur trug jetzt eine dunkelblaue Hose, die knapp unter dem Knie abgeschnitten war, sowie das Oberteil eines Sarafans,[1] natürlich ohne Ärmel und von undefinierbarer Farbe, von der es in den Augen flimmerte.

Der Deserteur sagte kein Wort und warf dem Hausherrn seine Militäruniform zu. Die Stiege knarrte und der Eingang zum Keller wurde geschlossen.

„Zeit zum Schlafen…“, brummte der neu Eingekleidete und machte sich an der Lampe zu schaffen, worauf sie erlosch.

Der Engel stand in völliger Dunkelheit da und hörte, wie sich die Bewohner des Kellers auf ihren Bänken einrichteten. Als es ruhig wurde, fragte er:

„Wo kann ich mich hinlegen?“

„Auf den Tisch!“, sagte der Deserteur aus der Dunkelheit.

Gehorsam kletterte der Engel auf den Tisch, legte sich auf die Seite, zog die Beine unter sich, damit sie nicht hinunterhingen, und versuchte einzuschlafen. Es war aber ungemütlich und kalt, und so lag er etwas unbehaglich auf dem Tisch und gab sich seinen Gedanken hin im Versuch, das Leben, das ihm da begegnete, zu verstehen. So lag er auch dann noch da, als die Luft im dunklen Keller von Schnarchen, Schnaufen und irgendjemandes schläfrigem Gemurmel erfüllt wurde. Das Gemurmel erzählte von unglücklicher und ungeteilter Liebe und dem Engel wurde davon nur noch trauriger und ungemütlicher zumute. Mit einem leisen Schmerz horchte er so lange auf dieses Gemurmel, bis von oben her, aber nicht aus dem Zimmer, das sich über dem Keller befand, sondern von der ganzen Erde her, Lärm wie von einer Maschine zu vernehmen war, der zwar bald aufhörte, aber an seine Stelle traten andere Geräusche und Stimmen, die nun nicht mehr die ganze Erde betrafen, sondern nur mehr das Zimmer, das sich direkt über ihnen befand, und die Bretter des Bodens, über den jemand auf- und abging, fingen schuldbewusst zu knarren an. Vielleicht gingen auch mehrere, denn es waren einige Stimmen, und unter ihnen befand sich die leise Stimme des Hausherrn, öfters sprachen jedoch andere, die rauere Stimmen hatten. Dann wurde mit einem Mal alles ruhig, aber da öffnete sich auch schon der Eingang zum Keller und ein Lichtschein drang herunter.

„He, ihr da, alle rauskommen!“, rief jemand von oben, und zur gleichen Zeit hörte man aus der Ecke ein lautes Ächzen wie von einem Albtraum.

„Rauskommen! Genug herumgelegen!“, wiederholte die Stimme.

Der Engel, der nicht geschlafen hatte, kletterte vom Tisch und trat in den von einem Lichtschein erhellten Flur, der von einer kleinen Lampe herrührte und in den Augen schmerzte. Er stieg die Treppe hinauf und blieb stehen, als er vier bewaffnete Rotarmisten vor sich sah.

„Setz dich erst einmal hin!“ Einer von ihnen klopfte mit der Hand auf die Bank neben dem Tisch.

Der Engel gehorchte.

Inzwischen waren auch die anderen aus dem Keller aufgetaucht. Auch sie sollten sich an den Tisch setzen. Der älteste Rotarmist trat einen Schritt vor, betrachtete die seltsame Runde, und sein Blick blieb an dem abgeschnittenen Sarafan hängen, den der Deserteur trug. Er grinste.

„Also“, sagte er, „wer kommt woher? Na?“

Als keine Antwort erfolgte, zeigte der Rotarmist auf den Burschen in Lumpen, kniff die Augen zusammen und fragte:

„Du! Von wo bist du geflohen?“

„Aus der Kolchose“, antwortete der Bursche mit zitternder Stimme.

„Aus welcher Kolchose?“

„Aus dem ‚Iljitsch-Vermächtnis‘.“

„Na so was…“, schüttelte der Rotarmist den Kopf. „Aus dem ‚Iljitsch-Vermächtnis‘ geflohen! Schämst du dich denn gar nicht?!“

„Doch…“, sagte der Bursche und senkte den Kopf.

„Ist das deine erste Flucht?“, bohrte der Rotarmist weiter.

„Mhm“, sagte der Bursche.

„Na gut“, seufzte der Rotarmist und richtete seinen Blick auf den Deserteur. „Und du?“

„Ich bin nicht geflohen, ich bin geschäftlich unterwegs… und hier hab ich um ein Nachtquartier gebeten…“, sagte dieser.

„Und wer hat dir ein Hemd aus einem Sarafan genäht? Deine Frau etwa?“ Der Rotarmist musste schmunzeln.

„Ja, meine Frau…“, nickte der Deserteur.

„Sagt er denn die Wahrheit?“, wandte sich der Rotarmist an den Hausherrn um, der vor Schlafmangel ein bläuliches Gesicht hatte.

„Nein“, antwortete der Hausherr. „Das hat er mit mir getauscht. Er hat mir seine Uniform gegeben, und ich habe ihm das gegeben…“

„Oh, du Mistkerl!“ Beinahe hätte sich der Deserteur auf den Hausherrn gestürzt, aber er merkte rechtzeitig, dass einer der Rotarmisten ein Gewehr mit Bajonett auf ihn gerichtet hielt, und so setzte er sich wieder an seinen Platz.

„Also“, der Rotarmist schüttelte den Kopf. „Von wo bist du geflohen?“

„Vom achtunddreißigsten Kavallerie-Sondertrupp zur Ergreifung entflohener Kolchosbauern…“, sagte der Deserteur mit gesenkter Stimme.

„Na so was!“, schüttelte der Rotarmist wieder den Kopf. „Und wir sind vom neununddreißigsten motorisierten Sondertrupp ebenfalls zur Ergreifung… Bist du das erste Mal geflohen?“

„Das zweite Mal…“, bekannte der Deserteur.

„Alles klar.“ Der Rotarmist sah den Engel an. „Und du?“, fragte er.

„Ich…“ Der Engel wollte schon antworten, stockte jedoch, da er begriff, dass es keinen Sinn hatte, die Wahrheit zu sagen, aber die Unwahrheit, die diese Menschen allzu gern glauben würden, wollte er auch nicht sagen.

„Ein Spinner ist er!“, platzte der entflohene Kolchosbauer heraus. „Den Alten wollte er nicht totschlagen…“

„Das stimmt, ein Spinner!“, bestätigte der Deserteur, und der Rotarmist sah den Engel mit neu erwachtem Interesse an.

„Und wessen Uniform ist das?“

Der Deserteur zuckte die Achseln.

„Mich hat einer gebeten zu tauschen…“, sagte der Engel. „Ich habe ihm mein Gewand gegeben, und er mir das dafür…“

„Du hast also einem Deserteur geholfen!“, sagte der Rotarmist leise. „Das ist nicht gut. Dafür müssen wir dich mit einem entflohenen Kolchosbauern gleichsetzen. Aber das ist immerhin besser, als ein Deserteur der Roten Armee zu sein.“

Der Rotarmist sah den Deserteur unverwandt an, kaute auf seinen Lippen, während er über etwas Militärisches nachdachte, und fragte dann den Hausherrn:

„Haben sie viel gegessen?“

„Ja, sehr viel, natürlich. Ein halbes Pud Kartoffeln, vier Pfund Speck, zwei Hühner…“

„Du lügst!“, kreischte der entflohene Kolchosbauer auf. „Es gab kein Huhn, und vom Speck haben wir kaum etwas gehabt!“

„Das Huhn hat der Alte gegessen“, ergänzte der Hausherr. „Es steht ihm doch zu?!“

Der Alte nickte.

„Und wie gefällt es Ihnen hier, Väterchen?“, fragte der Rotarmist den Alten.

„Es geht, allemal besser als 1913 in der Katorga.“

„Sie werden schon noch sitzen…“

Der Alte richtete seinen müden Blick auf den Rotarmisten.

„Ich würde gerne hin und wieder spazieren gehen…“, bat er. „Na, junger Mann? Ist das möglich?“

„Nachts ist es möglich“, antwortete der Rotarmist. Dann drehte er sich zu den anderen Soldaten um, die hinter seinem Rücken standen, und kommandierte:

„Diese drei in den Laderaum, den Alten hier lassen, und dann bringt ihr noch zwei Kartoffelsäcke her.“

„Genosse Kommandant!“, wandte sich der Hausherr mit flehender Stimme an ihn. „Aber Sie haben doch noch Hirse und Hafer für drei Arbeitstage versprochen…“

„Das gibt es das nächste Mal“, sagte der Rotarmist so bestimmt, dass der Hausherr nickte und schwieg.

Der Engel, der Deserteur und der entflohene Kolchosbauer wurden von den Soldaten auf die Straße hinausgeführt, wo man ihnen befahl, in den Laderaum des Lastwagens zu klettern, in den auch die beiden Rotarmisten einstiegen. Ihr Kommandant sowie der andere Soldat, der unter anderem auch Chauffeur war, setzten sich in das Führerhaus des Wagens und starteten den Motor, ohne sich vom Hausherrn zu verabschieden, der sie hinausbegleitet hatte.

Der Motor heulte so heftig auf, dass sich von oben, vom wolkenlosen blauen Himmel, eine Sternschnuppe löste und vor den Augen des Hausherrn herunterfiel, unterwegs jedoch erlosch und infolgedessen unbemerkt und vermutlich auch weitab von ihnen aufprallte, weil beim Aufprall eines Sterns in der Nähe ein Donnern hätte zu hören sein müssen. Hier jedoch blieb alles still. Nur das sich entfernende Dröhnen des Wagens störte die nächtliche Stille und lenkte den Hausherrn von seinen Gedanken ab, die den übrigen Sternen galten, die hell und unbeirrt strahlten.

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