Kapitel 7

Am Morgen kam der Zug in der Hauptstadt an.

Als die ersten Gebäude vor dem Fenster auftauchten, fuhr Pawel hoch und machte sich zum Aussteigen bereit. Aber es kamen immer mehr Häuser und sie hörten gar nicht mehr auf, und da erst erfasste Dobrynin das Ausmaß der Hauptstadt. Er wartete also geduldig, und damit ihm das Warten nicht zu lang wurde, beschloss er, seinen Reisesack durchzusehen, den ihm seine Frau Manjascha für die Reise gepackt hatte. Als Erstes zog er die Axt hervor, die er zu guter Letzt von ihr bekommen hatte, dann ein Leinensäckchen mit Zwieback, etwas Hirse, einen Bleistift, ein leeres Haushaltsheft und ein loses Blatt Papier mit einigen Zeilen darauf. Er las sie durch. Manjascha bat ihn auf diesem Zettel, sie und die Kinder nicht zu vergessen und Briefe von allen Orten zu schreiben, an die es ihn beruflich verschlug. Sonst war nichts in dem Sack, und Pawel legte bis auf die Axt alles wieder dahin zurück. Er überlegte hin und her, was er mit der Axt machen sollte, es fiel ihm jedoch nichts ein. Einerseits war eine Axt ein nützlicher Haushaltsgegenstand, andererseits war es schwierig und irgendwie auch unangenehm, sie mit sich über Land zu führen. Er überlegte, sie im Zug zurückzulassen, doch diesen Gedanken verwarf er sogleich wieder, da sie doch jedem beliebigen Menschen in die Hände hätte fallen können, und was, wenn ein Mörder sie fände und damit jemanden umbringen würde? Nein, im Abteil konnte man sie nicht zurücklassen. Der Schaffnerin geben? Was aber sollte sie damit? Brennholz wurde in den Zügen nicht gehackt, denn man heizte mit Kohlebriketts, und für andere Zwecke war die Axt nicht zu gebrauchen. Also beschloss er, sie vorerst einmal mitzunehmen und erst später zu entscheiden, was er mit ihr machen würde.

Und während er noch über die Axt nachsann, kam schon der Bahnhof in Sicht. Der Zug fuhr langsam ein. Pawel saß geduldig und ergeben auf der unteren Liege seines Abteils, in dem er die ganze Fahrt ohne Reisegefährten verbracht hatte.

Endlich hielt der Zug an.

Nachdem Pawel der Schaffnerin zum Abschied zugenickt hatte, stieg er aus dem Zug und sah um sich, wovon ihm sogleich schwindlig wurde. Schließlich war das etwas ganz anderes, als im Dorf oder auf einem Feld um sich zu blicken: ringsum mehrstöckige Häuser, Laternenmasten, die doppelt so hoch waren wie die im Dorf, Geräusche, Farben, ein Schwirren von Menschen und Autos. Das war es, wovon ihm schwindelte.

„Das ist er! Das ist er!“, erklang in der Nähe ein freudiger Aufschrei.

Pawel drehte sich um und erblickte einen atemlosen jungen Mann in einem graufarbenen Anzug mit Schirmmütze und einem Fotoapparat in der Hand. Während er ihn noch betrachtete, kamen drei weitere dazu. Und hinter ihnen am Bahnsteig entlang rollte lautlos ein schwarzes Automobil heran, das glänzte wie blank geputzte Stiefel.

„Erzählen Sie von sich! Das ist für die ‚Iswestija‘!“ Einer der Herankommenden hielt ein Notizbuch und einen Stift in der Hand.

„Ich wurde im Dorf Kroschkino in einer armen Familie geboren…“, sagte Dobrynin und beobachtete dabei aufmerksam das näher kommende Automobil. „Und jetzt bin ich verheiratet und habe zwei Kinder: Darjuschka und Petka…“

„Sagen Sie für die ‚Stalnaja Magistral‘“, bat der Bursche im grauen Anzug und der Schirmmütze, „wie hat man das Ihnen erwiesene Vertrauen in Ihrer Kolchose aufgenommen?“

„Gut hat man es aufgenommen…“ Pawel nickte und sah, wie aus dem Auto, das hinter den Korrespondenten stehen geblieben war, zwei würdevolle Männer ausstiegen. Einer von ihnen rückte seine bordeauxrote Krawatte zurecht, die verrutscht war, und der zweite beugte sich zum Wagenfenster hinunter und holte einen Strauß roter Nelken heraus. Hierauf blieben sie hinter den Korrespondenten stehen und warteten offensichtlich das Ende des Interviews ab.

„Wie hat Ihnen die Zugreise in die Hauptstadt gefallen?“, fragte der dritte Korrespondent.

„Gut…“, räumte Dobrynin ein.

„Sind Sie schon vorher einmal mit einem Zug gefahren?“

„Nein“, antwortete Dobrynin.

„Kommen Sie zu einem Ende, Genossen Journalisten!“, sagte da plötzlich einer der Männer, die mit dem Wagen gekommen waren, streng, aber respektvoll. „Genosse Dobrynin muss sich von der Reise erholen. Er hat noch viel zu tun. Ich bitte um Ihr Verständnis!“

Die Korrespondenten hatten offensichtlich sofort verstanden, und sie entfernten sich, nachdem sie sich verabschiedet und alles Gute gewünscht hatten.

„Im Namen der Führung unseres großen Vaterlandes begrüßen wir Sie in der Hauptstadt“, sagte der Mann und überreichte Pawel den Strauß Nelken. „Wir bringen Sie jetzt zu Ihrer Dienstwohnung. Dort können Sie sich ein wenig ausruhen, und später holen wir Sie ab und dann – auf zum Kreml.“

Das glänzende schwarze Auto war innen so geräumig wie die Diele einer ordentlichen Hütte. Pawel drückte sich an die Scheibe des hinteren Wagenschlags und verfolgte immer noch die vorbeihuschenden Gebäude und Szenen des städtischen Lebens. Er sah träge zu, und sein Blick belebte sich nur dann, wenn das Auto an einer Kreuzung anhielt und Pawel die Möglichkeit bekam, ein Stück der Hauptstadt im stolzen Zustand des Stillstandes zu sehen. Dieser Stillstand war gleichwohl relativ, denn auf demTrottoir vor den Gebäuden gingen freie sowjetische Menschen ungerührt ihren Angelegenheiten nach und hegten keinerlei Verdacht, dass sie durch ihre Bewegung dem Eindruck, den ein Besucher von der Hauptstadt bekam, einen besonderen Akzent verliehen.

Das Auto hielt sich freilich nicht lange an Kreuzungen auf, sondern bog sehr bald in eine enge Gasse ein, fuhr an einem salutierenden Milizionär vorbei und hielt im Hof eines stattlichen Gebäudes aus Stein, dessen Haupteingang zwei Statuen von Arbeitern zierten.

„Da sind Sie auch schon zu Hause!“, sagte der würdevolle Mann in süßlichem Tonfall und rückte die zur Seite gerutschte bordeauxrote Krawatte wieder zurecht.

„Viktor Stepanowitsch“, wandte sich der zweite würdevolle Mann an den ersten. „Diese Krawatte ist bei Gott keine Dose Heringe wert! Petrenko hat dich übers Ohr gehauen! Gib sie besser zurück.“

Der erste, eben dieser Viktor Stepanowitsch, schaute seinen Kollegen streng an und schüttelte den Kopf.

„Petrenko hat mich nicht übers Ohr hauen können“, sagte er. „Steigen Sie aus, Genosse Dobrynin.“

Pawel und Viktor Stepanowitsch stiegen in den zweiten Stock hinauf. Der diensthabende Hausmeister folgte ihnen, und nachdem er die Wohnung Nummer drei aufgeschlossen hatte, überreichte er Dobrynin den Schlüssel.

„Also, treten Sie ein, sehen Sie sich um…“, sagte Viktor Stepanowitsch. „Und ich binde inzwischen diese dumme Krawatte neu.“

Pawel stellte seinen Reisesack auf den Fußboden, zog im Vorzimmer die Stiefel mitsamt den Fußlappen aus und wollte schon barfuß gehen, aber da bemerkte er drei Paar Pantoffeln in verschiedenen Größen, die in einer Reihe standen. Er schlüpfte in das nächstbeste Paar und trat ein.

Die Wohnung war riesig. Bei jedem Blick zur Decke wurde ihm schwindlig, und Pawel beschloss, nicht mehr nach oben zu schauen. In der Mitte des größten Zimmers stand ein Tisch, vor einer Wand ein Sofa sowie zwei Sessel, vor einer anderen eine spiegelblank geputzte Anrichte mit gemustertem Glas, die drei Jubiläumsvasen mit irgendwelchen Daten und Aufschriften enthielt.

„Nun, wie gefällt es Ihnen hier?“, fragte Viktor Stepanowitsch, als er ins Zimmer kam.

„Ja, es ist fein…“ Pawel wandte sich um.

„Und jetzt kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Arbeitszimmer.“

Sie gingen über einen kurzen Flur und traten durch eine niedrige Tür. Das Zimmer, das sich vor Pawels Augen auftat, war kleiner als das erste, aber bei weitem attraktiver als jenes, da drei seiner Wände mit Bücherschränken verstellt waren und vor dem breiten, hellen Fenster ein wuchtiger Schreibtisch stand, und seine Augen durften sich an einer Schreibtischlampe mit grünem Lampenschirm, an Schreibgeräten und einem respekteinflößenden Telefonapparat erfreuen.

„Hier gibt es eine Sammlung unserer Klassiker“, setzte Viktor Stepanowitsch seine Erläuterungen fort. „Das ist für die Arbeit und zum Nachschlagen. Merken Sie sich, dass Sie über alle Werke von Lenin, Marx und Engels verfügen, alle übrigen Autoren können Sie über das Telefon mittels Direktverbindung bestellen, sollte das nötig sein. Nun, ich denke, es ist alles klar…“

Plötzlich wurde Viktor Stepanowitsch vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Er eilte zum Telefon und nahm den Hörer ab.

„Ja… ja, ich bin’s…“, sagte er zu jemandem, sah daraufhin Dobrynin an und machte mit der linken Hand eine nicht ganz verständliche Geste. „Ja… ich denke, nicht lange…“, fuhr er fort.

Dann bedeckte er den Hörer mit der Hand, sah wieder Dobrynin an und sagte in verändertem, weniger höflichen Ton:

„Pawel Aleksandrowitsch, gehen Sie auf den Flur hinaus!“

Pawel wich zurück und verließ das Zimmer.

„Wo denken Sie hin?“, redete Viktor Stepanowitsch auf jemanden so laut ein, dass seine Stimme sogar durch die geschlossene Zimmertür drang. „Wem glauben Sie da! Das ist doch ein bekannter Halunke! Ja, gut, ich werde antworten. Vor allen.“

Pawel wollte kein fremdes Gespräch mithören, auch keinen Teil davon, und so beschloss er zunächst, zurück in das große Zimmer zu gehen, als er auf eine andere Tür weiter hinten im Flur aufmerksam wurde. Er ging auf sie zu und stieß sie vorsichtig auf, so als ob er selbst dort Gast wäre. Die Tür ging auf und Pawel sah durch den Spalt auf ein breites Bett und auf zwei Nachtkästchen, auf denen jeweils eine Vase mit Blumen stand. Das Erstaunlichste war – im Bett schlief eine Frau. Sie schlief mit dem Gesicht zum Fenster und Pawel konnte nur ihre kastanienbraunen Locken sehen.

Pawel erschrak, schloss die Tür und schlich auf Zehenspitzen davon. Doch da durchbrach Viktor Stepanowitsch die Stille, die Pawel zu bewahren versucht hatte, indem dieser unerwartet auf den Flur hinaussah.

„Kommen Sie herein!“, rief er Dobrynin laut zu.

Pawel kehrte ins Arbeitszimmer zurück und wartete, starr vor Schreck, auf das, was nun folgen würde.

„Also…“, in der Stimme von Viktor Stepanowitsch war Nervosität zu spüren. „Sie werden gebeten, heute Lenins Artikel ‚Wie kann die ABI – die Arbeiter- und Bauerninspektion – neu organisiert werden‘ durchzulesen, während Sie sich ausruhen… er ist nicht lang…“

„Verzeihen Sie bitte“, Pawel sah den seit dem Telefonat besorgten Viktor Stepanowitsch an. „Dort im Zimmer schläft eine Frau… Kann es sein, dass das die falsche Wohnung ist?“

Viktor Stepanowitsch dachte einen Moment nach und zog dabei die Augenbrauen hoch bis über die Nasenwurzel. Dann besann er sich und auf seinem Gesicht erschien ein breites Lächeln.

„Aber nein!“, sagte er wieder offen und süßlich. „Das ist… das ist Ihre dienstliche Ehefrau… Marija Ignatjewna… Sie ruht sich wahrscheinlich aus. Ich wecke sie gleich, dann können Sie einander kennenlernen…“

„Nicht!“, bat Dobrynin.

„Warum nicht?“, fragte Viktor Stepanowitsch mit offensichtlichem Erstaunen. „Wo gibt es denn so etwas, dass sich Ehemann und Ehefrau nicht kennen?“

„Wir können ja später…“, Dobrynin geriet ins Stocken. „Soll sie sich doch einmal ausruhen und ausschlafen…“

„Nun, wie Sie wollen…“, Viktor Stepanowitsch zuckte enttäuscht die Achseln. „Also gut. Dann ruhen auch Sie sich aus, lesen Sie den Artikel, er liegt auf dem Tisch. Und in drei Stunden hole ich Sie ab. Ach ja, noch etwas, die beiden Türen dort hinter dem Schlafzimmer sind die Toilette und das Badezimmer. Finden Sie sich zurecht?“

Pawel nickte.

„Also bis dann!“

Im Vorzimmer fiel die Tür ins Schloss – Viktor Stepanowitsch verließ Dobrynins Dienstwohnung – und dieses Geräusch lenkte ihren neuen Besitzer ab und vermochte seinen Körper und seine Gedanken von der unnötigen Anspannung zu befreien. Pawel trat an den Tisch, ließ sich in dem bequemen Sessel nieder und warf einen Blick in den zur Lektüre überlassenen Artikel.

Die erste Zeile des Artikels verstand Pawel nicht, und darum beugte er sich tiefer über den aufgeschlagenen Band.

Er träumte von einem Traktor und von der heimatlichen Kolchose. Obwohl er selbst kein Maschinist war, so saß er doch in seinem Traum in der Kabine eines neuen „MTS“ und versuchte, den Motor zu starten. Aber der Motor sprang nicht an. Er versuchte es wieder und wieder, als er plötzlich spürte, wie das Metall erbebte und zu vibrieren begann. „Angesprungen!“, dachte Pawel erfreut im Schlaf und begriff zugleich, dass das Geräusch, das er hörte, keinerlei Zusammenhang mit dem Traktor haben konnte.

Es war das Telefon, das läutete.

Pawel hob den Kopf vom Artikel des Führers, nahm den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr.

„Ja bitte?!“, sagte er zu einem Unbekannten und Unsichtbaren.

„Marija Ignatjewna, bitte!“, bat eine männliche Stimme höflich.

„Wen?“, fragte Pawel schlaftrunken.

„Marija Ignatjewna“, wiederholte die männliche Stimme geduldig. „Ihr dienstlicher Nachname ist Dobrynina.“

„Aaah…“, sagte Pawel gedehnt und legte den Hörer auf das geöffnete Buch.

Er ging hinaus auf den Flur und blickte ins Schlafzimmer. Immer noch lag sie da und ruhte. Nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, klopfte Pawel leise an die offene Tür.

Das Bett knarrte, woraus Dobrynin schloss, dass er gehört worden war.

„Man verlangt Sie am Telefon!“, sagte er und kehrte rasch ins Arbeitszimmer zurück.

Er trat an das nächstgelegene Bücherregal und begann zu überprüfen, ob die Leninbände in der richtigen Reihenfolge standen. Marija Ignatjewna erschien in einem langen fliederfarbenen Morgenmantel im Arbeitszimmer.

„Guten Tag!“ Sie sah Pawel mit einem strahlenden Lächeln an und trat an den Tisch.

Marija Ignatjewna war ein wenig mollig, dessen ungeachtet eine schöne Frau, das erkannte Dobrynin sofort. Ihre gesamte Figur, die sorgfältig in fliederfarbene Seide gehüllt war, verriet die ehemalige Sportlerin, und in ihrem Gesicht konnte man als Zugabe jede Menge anderer positiver Eigenschaften herauslesen, wie Güte etwa, Entschlussfreudigkeit, Mut und Verstand. Was die zuletzt genannte Eigenschaft betraf, die aus den braunen Augen seiner dienstlichen Frau zu lesen war, hatte Pawel allerdings seine Zweifel. Er zweifelte in dem Sinne, als er nicht restlos davon überzeugt war, ob Verstand zu den positiven Eigenschaften einer Frau zu zählen war. Aber sogleich widersprach er diesem Zweifel selbst, was ihn aufrichtig überraschte, da er sich bisher noch nie selbst widersprochen hatte. Er wunderte sich und begann darüber nachzudenken, woher eine solche Fähigkeit in ihm rührte. Und er kam zu dem Schluss, dass er schlicht und einfach klüger geworden war wegen der großen Zahl von Büchern in seinem Arbeitszimmer oder vielleicht auch deshalb, weil er über den aufgeschlagenen Leninband gebeugt geschlafen hatte. Diese Schlussfolgerung beruhigte ihn.

„Ja, ja, ich bin es…“, sagte Marija Ignatjewna zu irgendjemandem.

Mit großem Gefallen betrachtete Pawel ihr Profil. Vielleicht, weil sie es bemerkte, vielleicht aus einem anderen Grund drehte sie sich um und warf Dobrynin einen Blick zu, den er nicht verstand. Da er sich jedoch daran erinnerte, dass Viktor Stepanowitsch ihn gebeten hatte, für die Zeit des Telefongesprächs das Zimmer zu verlassen, beschloss Pawel, dass auch dieser Blick etwas Ähnliches bedeuten musste, und er ging ergeben auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Vom Flur aus war kein Wort des Telefongesprächs zu hören, das seine dienstliche Ehefrau mit einem Unbekannten führte. Offenbar verlief das Gespräch ruhig und angenehm.

Und dennoch hatte die Tatsache, dass er eine dienstliche Ehefrau bekommen hatte, für Pawel etwas Unangenehmes. Mit einfacher Logik begriff er, dass das, was von oben so geregelt war, einfach so sein musste, aber seine Gefühle, die ihn stark mit Manjascha und den Kindern verbanden, empörten sich dagegen, protestierten und entwickelten Anzeichen der Verweigerung, die sich darin äußerten, dass er sich in diesem Moment nicht so selbstsicher fühlte wie sonst. Auch wenn man das darauf hätte zurückführen können, dass er auf dem Flur stand. Schließlich weiß man doch, dass das Stehen auf einem Flur, selbst für kurze Zeit, jeden beliebigen Menschen um sein Selbstbewusstsein bringen kann: ob nun einen Hausmeister oder einen Armeeführer.

Aber da öffnete sich auch schon die Tür zum Flur und Pawel erblickte Marija Ignatjewna, die die Arme ausbreitete.

„Ich dachte, Sie sind hinausgegangen, weil Sie etwas zu erledigen hatten. Wenn es wegen des Anrufs war, dann war das völlig unnötig! Ich kann vor Ihnen gar keine Geheimnisse haben… Das war Wladimir Anatoljewitsch, der angerufen hat… Kommen Sie doch herein!“ Pawel trat wieder ins Zimmer.

„Möchten Sie etwas essen?“, fragte die dienstliche Ehefrau.

„Ja“, gestand Pawel in der Annahme, dass Marija Ignatjewna sofort in die Küche gehen würde, um etwas Gutes zu kochen, und er auf diese Weise allein im Zimmer bleiben würde.

Aber Marija Ignatjewna griff zum Telefonhörer und sagte gelassen: „Bitte zweimal Mittagessen in die Wohnung Nummer drei.“

„Hier gibt es eine Küche im Erdgeschoß“, erklärte sie, als sie aus Pawels Blick ersah, dass er nicht ganz verstand. „Das Essen ist sehr gut! So, und jetzt werde ich mich zurechtmachen.“

Als sie hinausgegangen war, atmete Pawel erleichtert auf. Er setzte sich an den Tisch und verspürte den starken Wunsch, den angeordneten Artikel zu lesen.

Der Artikel hypnotisierte Dobrynin durch seinen rätselhaften Sinn. Er war inzwischen beim letzten Punkt angelangt, war aber unfähig sich zu rühren oder gar aufzustehen.

Gerade zur rechten Zeit sah Marija Ignatjewna herein.

„Das Mittagessen steht auf dem Tisch!“, sagte sie sanft, und ihre angenehme Stimme befreite Pawel aus der Leninschen Hypnose.

Der Tisch war in einem kleinen Speisezimmer gedeckt, das Viktor Stepanowitsch Pawel aus irgendeinem Grund nicht gezeigt hatte. Genau genommen passten dort ohnehin nur ein Tisch und vier Stühle hinein.

Pawel setzte sich sogleich hin und zog den Teller mit Borschtsch zu sich heran. Marija Ignatjewna hingegen begann mit einem frischen Gemüsesalat und trank dazu Mineralwasser.

Der Borschtsch war köstlich. Vielleicht sogar köstlicher als der von Manjascha. Und noch etwas an der Atmosphäre dieses Mittagessens war heimatlich und vertraut. Um zu verstehen oder herauszufinden, was es war, hielt Pawel einen Moment lang inne und hörte auf zu kauen. Und richtig – das Ticken einer Uhr erfüllte die Stille, und mit einem Blick entdeckte Pawel eine Pendeluhr an der Wand, die er liebevoll und in stiller Freude ansah.

Auch Marija Ignatjewna blickte dorthin, während sie ihren Salat verspeiste. Sie schaute, lächelte vor sich hin und sah ihren Mann an. Dann begann sie mit dem Borschtsch. Sie aß mit Anstand, ohne die Atmosphäre zu stören oder das Ticken der Uhr zu übertönen, an der sich Pawel so erfreute.

So sehr sie auch darum bemüht war, Pawels Freude daran nicht zu beeinträchtigen, die Türklingel war lauter als das Ticken.

Marija Ignatjewna stürzte ins Vorzimmer, öffnete die Tür und erblickte Viktor Stepanowitsch.

„Ist Pawel Aleksandrowitsch fertig?“, fragte dieser. „Das Auto wartet unten.“

„Mein Mann isst gerade zu Mittag“, sagte Marija Ignatjewna würdevoll.

Viktor Stepanowitsch, der diese schöne Frau nur in dem Maße kannte, als sich ihre dienstlichen Verpflichtungen überschnitten, beneidete Dobrynin und hatte Mitleid mit sich selbst, denn seine eigene gesetzliche Ehefrau wäre er mit Vergnügen auf Anordnung der Partei losgeworden. Aber die Partei ordnete nichts Derartiges an, und sein Leben veränderte sich daher nicht zum Besseren, sondern eher in die andere Richtung. Aber wen interessierte das schon?!

Im Wagen beklagte sich Viktor Stepanowitsch bei Dobrynin wie bei einem alten Bekannten über die Unannehmlichkeiten, die mit dem Parteiaufbau zusammenhingen, und schimpfte dabei über Menschen, die Pawel völlig unbekannt waren. Pawel hörte zu und nickte.

„Warum haben Sie denn Ihren Reisesack mitgenommen?“, fragte Viktor Stepanowitsch plötzlich. „Sie kommen doch heute noch in Ihre Dienstwohnung zurück.“

„Nur so“, antwortete Pawel. „Für alle Fälle.“

Viktor Stepanowitsch schwieg eine Weile, dann fuhr er fort, über seine Arbeitskollegen zu schimpfen.

Das Automobil erreichte den Roten Platz, und da verschlug es Pawel den Atem: Er erblickte den Kreml.

Nachdem er ein paar Mal geschluckt hatte, drehte er sich zu Viktor Stepanowitsch um und fragte mit gedämpfter Stimme, während er mit der Hand auf das Herz des Vaterlandes wies:

„Ist das der Kreml?“

„Ja“, sagte dieser. „Das ist der Kreml. Warum?“

Für einen Menschen, von dessen Bürofenster aus sowohl der Glockenturm Iwan der Große zu sehen war als auch einige der rubinroten Sterne auf den Türmen, hatte das Wort „Kreml“ freilich eine völlig andere Bedeutung als für Pawel Dobrynin aus dem weit entfernten Dorf Kroschkino. Wie von selbst unternahmen seine Beine den Versuch, sich zu strecken, und Viktor Stepanowitsch verfolgte gespannt, wie sich sein Sitznachbar aufrichtete, bis sich dessen Kopf in das weiche Autodach bohrte. Da ließ die Anspannung vor Ehrfurcht auch schon wieder nach und Pawel sank in seinen Sitz zurück, ohne jedoch den Blick von der Straße zu wenden, die – es war schrecklich, das auszusprechen – zum Kremltor führte und dann noch weiter, über die für jeden sowjetischen Menschen heiligen Pflastersteine.

Langsam fuhr der Wagen über diese Pflastersteine, nahezu in Schrittgeschwindigkeit, und er blieb so unmerklich stehen, dass Pawel hätte denken können, sie würden immer noch fahren, wäre da auf der einen Seite nicht die Ecke eines Gebäudes gewesen, die aufgehört hatte, sich auf sie zuzubewegen.

Als sie aus dem Wagen stiegen, nahm Pawel seinen Reisesack mit, aber dieses Mal blieb Viktor Stepanowitsch stumm und seufzte nur leise. Auf der Schmalseite des Gebäudes wurde eine unscheinbare Tür sichtbar – wahrscheinlich der Diensteingang. Auf diese steuerten sie zu.

Gleich hinter der Tür stand ein Milizionär. Er musterte Viktor Stepanowitsch mit strengem Blick, dann nickte er ihm zu, während dieser weiterging. Da aber wandte sich der Milizionär zu Pawel. Sein Blick blieb an dessen Reisesack hängen, und Pawel, der sich unter den deutlichen Gesten des Milizionärs schuldig fühlte, stellte seinen Sack auf den Tisch des Aufsehers. Polternd schlug die Axt gegen die Tischplatte und der Milizionär kniff die Augen zusammen. Er öffnete den Sack und holte als Erstes das Stoffsäckchen mit dem Zwieback heraus, dann alles Übrige und ganz zum Schluss die Axt. Während der Milizionär den Gegenstand betrachtete, den er zuletzt hervorgeholt hatte, versank er in Gedanken. Das Ganze passierte so lautlos, dass Pawel Beklemmungen in den Ohren bekam.

„Genosse Milizionär“, sagte Viktor Stepanowitsch plötzlich. „Genosse Kalinin erwartet uns.“

Der Milizionär rief einen seiner Vorgesetzten an, meldete die Axt sowie den verdächtigen Zwieback und auch, dass die Besucher angeblich von Genosse Kalinin erwartet würden. Buchstäblich eine halbe Minute später läutete das zweite Telefon auf dem Tisch. Der diensthabende Milizionär hob ab, nickte nur in den Hörer und wiederholte „jawohl“ und „zu Befehl“.

Als er aufgelegt hatte, wandte er sich zu Viktor Stepanowitsch um.

„Sie können gehen. Wissen Sie wohin?“

„Natürlich“, antwortete Viktor Stepanowitsch und seine Stimme klang jetzt streng. „Ich bin jeden Tag hier!“

„Aber das lassen Sie hier!“ Der Milizionär zeigte mit dem Finger auf den Sack und dessen Inhalt. „Es wird befohlen, das in Ordnung zu bringen.“

„Also gehen wir!“, sagte Viktor Stepanowitsch leise zu Dobrynin.

„Aber…“, Pawel wollte nach seinen Sachen fragen, Viktor Stepanowitsch jedoch winkte ab und deutete auf die schmale Marmortreppe, die ein Läufer bedeckte, der ursprünglich rot und inzwischen ziemlich abgetreten war.

„Wir holen sie wieder ab!“, sagte er dann im ersten Stock. „Ihr Zwieback geht nicht verloren!“

In einem bescheidenen Arbeitszimmer, in dem es fast keine Möbel gab, empfing sie ein großer, magerer Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, der einen dunklen Anzug mit einem Orden trug. Er lächelte wohlwollend, während er mit der rechten Hand über sein chinesisches Bärtchen strich.

„Aaah!“, sagte er gedehnt, während er die Augen zusammenkniff und Dobrynin musterte. „Da sind Sie also!“ Und er schüttelte den Kopf, so als ob er erstaunt wäre und Dobrynins Äußerem die Bestnote geben würde.

Es blieb freilich unklar, was er meinte. War es nun das offene und auf einfache Art schöne Gesicht des Volkskontrolleurs, oder seine Kleidung, die ebenfalls einfach und verhältnismäßig ordentlich war.

„Aber treten Sie doch ein, setzen Sie sich hierher an den Tisch. Unterhalten wir uns ein wenig“, sagte Genosse Kalinin einladend, indem er einen Schritt zurück ins Zimmer trat. „Schade nur, dass ich außer Zucker nichts zum Tee anbieten kann…“

Pawel öffnete den Mund und wollte schon sagen: Aber ich hatte Zwieback, nur hat mir der Milizionär den abgenommen!, aber er sagte es nicht, da er fürchtete, dass es im Kreml nicht üblich war, allzu dreist zu sprechen.

Der Gastgeber bemerkte, dass Pawel den Mund öffnete, dann aber doch schwieg, und er fragte geradeheraus:

„Was wollten Sie denn sagen, Genosse Dobrynin?“

„Also ich… Ich habe etwas zum Tee, in meinem Sack… Zwieback hatte ich, aber man hat ihn mir abgenommen…“

„Wer war das?!“, fragte Kalinin ernst, das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und die gutmütig zusammengekniffenen Augen verwandelten sich in zwei kleinkalibrige Gewehre.

Pawel erzählte ihm, was unten vorgefallen war, woraufhin Genosse Kalinin einen Blick in den Korridor warf und etwas hinausrief. Als ob nichts gewesen wäre, bat er die Gäste daraufhin nachdrücklich, sich an den Tisch zu setzen, und nahm selbst dort Platz. Es war ein Beistelltisch für drei Besucher, der die ganze Möbelkombination dieses Zimmers einem verschnörkelten „T“ ähneln ließ. Genosse Kalinin machte nicht die Runde um den großen Schreibtisch, um sich in seinen Sessel zu setzen, sondern setzte sich neben seine Gäste, so als wäre er der dritte Besucher.

Ein Soldat brachte auf einem Tablett drei Teegläser in Glashaltern, goss Tee hinein und stellte hierauf eine Dose auf den Tisch, die randvoll mit Würfelzucker gefüllt war. Dann ging er hinaus.

Nach einer weiteren Minute brachte man Pawels Reisesack ins Zimmer. Er wurde von einem älteren Milizionär gebracht, der ihn seinem Besitzer direkt in die Hand gab und verschwand.

„Also, dann rücken Sie mal Ihren Zwieback heraus!“, kommandierte der Gastgeber fröhlich.

Dobrynin kramte das ersehnte Säckchen heraus, knüpfte es auf und schüttete einige Zwiebackscheiben direkt auf das Tablett. Dabei bemerkte er, dass eine Scheibe angebissen war.

Auch Genosse Kalinin bemerkte das und schüttelte bekümmert den Kopf.

„Was soll man machen“, sagte er. „Mit der Disziplin ist es bei uns leider nicht weit her… Aber was soll’s!“

Und er nahm ein ganzes Stück Zwieback, tauchte es in den Tee ein und biss geräuschvoll ab.

Beim Tee sprachen sie über das Leben am Land, über die Vergangenheit und über die Zukunft, aber das Gespräch verlief irgendwie oberflächlich. Am Ende des Gesprächs blickte Genosse Kalinin Viktor Stepanowitsch plötzlich prüfend an und sagte halb im Scherz, halb im Ernst:

„Und du, Stepanytsch, hast diese Krawatte bei Petrenko unnötig gegen Heringe getauscht! Mir scheint, die Krawatte ist gestohlen…“

Pawel sah, wie sein Gefährte erblasste und die Finger auf den Tisch presste, damit sie nicht zitterten. Dann bat Genosse Kalinin ihn auch noch hinauszugehen, damit er sich mit dem Volkskontrolleur unter vier Augen unterhalten könne.

Pawel bekam Mitleid mit Viktor Stepanowitsch, so langsam erhob sich dieser vom Tisch, als ob er zu seiner Hinrichtung müsste. Aber da war nichts zu machen – er ging wie angeordnet hinaus und ließ Dobrynin mit dem Genossen Kalinin allein.

„Also dann, Pawel… Ich darf dich doch einfach so nennen?“

Pawel nickte.

„Dann lass uns zur Sache kommen. Hast du den Artikel über die Arbeiter- und Bauerninspektion gelesen?“

„Ja“, antwortete Pawel.

„Und auch verstanden?“

„Nein“, gestand der Kontrolleur.

„Das macht nichts“, beruhigte ihn Kalinin. „Das Wichtigste ist nicht, zu verstehen, sondern zu handeln. Verstanden?“

Pawel nickte wieder.

„Deine Aufgabe ist nicht gerade leicht“, fuhr Genosse Kalinin fort. „Unser Vaterland ist groß, wie du weißt. Überall muss man seine Augen haben und mit der Ordnung ist es nicht weit her. Deshalb hat man im Politbüro beschlossen, eine Reihe aufrechter Werktätiger aus den Rechtschaffensten des Volkes vorzuschlagen, ihnen alle Methoden der Volkskontrolle beizubringen und sie in verschiedene Regionen und Bezirke zu schicken, damit sie dort einen erbarmungslosen Kampf führen für wahre Ordnung, für die Qualität der Produktion und dafür, dass alle vorhandenen Aufgaben erfüllt werden. Aber die Lage in der Industrie ist schwierig geworden und wir müssen euch ohne ausreichende Schulung fortschicken. Unser Volk ist jedoch verständig. Ich denke, da wirst du schon selbst dahinterkommen. Ich werde dir alles kurz erklären. Ich unterhalte mich schließlich mit jedem der Kontrolleure persönlich und sage ganz offen: Wir haben nur wenige Kontrolleure, aber jeder ist Gold wert. Und es ist nicht schwierig, das Leben und seine Fertigungsprozesse zu kontrollieren. Du fährst in eine Stadt, erfährst, welche Werke und Fabriken es gibt und was sie produzieren. Dann gehst du direkt dorthin und sagst: ‚Ich bin ein Volkskontrolleur‘, und forderst, dass man die Erzeugnisse zur Überprüfung der Qualität vorlegt. Das ist im Grunde auch schon alles. Und dort, wo die Qualität schwierig zu überprüfen ist, dann eben nach Augenmaß, und wenn du Zweifel hast, dann nimm, was dir fragwürdig erscheint, und bring es hierher…“

„Wie denn?“, Pawel verstand nicht.

„Ich erkläre es dir etwas später!“, beruhigte ihn Genosse Kalinin. „Erst einmal muss ich dir sagen, dass dir ein nicht gerade leichtes Einsatzgebiet zugefallen ist. Der Norden… Die Bedingungen sind dort natürlich ähnlich wie im Krieg. Aber vielleicht willst du das gar nicht? Dann sag es! Vielleicht bist du nicht bereit dazu?“

„Aber nein, ich bin bereit!“, versicherte Pawel.

„Hast du denn Fragen?“, wollte Genosse Kalinin wissen.

„Ja“, gestand Dobrynin. „Wegen der dienstlichen Ehefrau… Das ist mir irgendwie… unangenehm…“

„Nun, Bruder, das muss so sein“, nickte Genosse Kalinin verständnisvoll. „Für mich selbst ist das auch schwer, ich habe schließlich auch meine eigene, wir haben noch vor 1917 geheiratet, und dann noch eine dienstliche… Was willst du machen, das ist so vorgeschrieben. Ich selbst komme aus Twer, meine Frau ist mit den Kindern dortgeblieben, und hier hab ich meine dienstliche Frau bekommen. Es gibt so eine Regel – wer nicht aus Moskau ist, der bekommt hier eine Frau, sozusagen eine Nomenklatura-Frau. Aber keine Angst, sie werden von uns überprüft und besitzen unser vollstes Vertrauen, und sollte irgendetwas sein, dann tu dir keinen Zwang an, sag es und wir tauschen deine aus…“

„Na, wenn das so vorgeschrieben ist…“, Pawel machte eine verwunderte Geste mit der Hand.

„Macht dir vielleicht sonst noch etwas Sorgen? Denkst du an deine Familie?! Da sei beruhigt, sie sind in der Obhut der Partei. Es ist also alles in Ordnung, wie du siehst… So, und jetzt das Wichtigste. Ich habe mich entschlossen, dir ein Geschenk zu machen, Pawel… Kein schlichtes Geschenk…“ Genosse Kalinin sah forschend in die Augen des Volkskontrolleurs. „Ein Geschenk, für das viele ihr halbes Leben geben würden. Kurz gesagt, ich schenke dir ein weißes Pferd.“

Nachdem er tief geseufzt hatte, schwieg Genosse Kalinin einige Zeit. Dabei ging ihm offenbar etwas durch den Kopf oder aber er schwelgte in Erinnerungen.

Pawel aber horchte auf die Stille, die entstanden war, und dachte nach. Er dachte darüber nach, dass man ihn höchstwahrscheinlich nicht zufällig ausgewählt hatte, und auch nicht aus dem Wunsch heraus, einen ehrlichen und rechtschaffenen Menschen loszuwerden. Dafür gab es offenbar besondere Gründe, die er, wenn überhaupt, nicht so bald erfahren würde.


Draußen wurde es Abend, und ungeachtet dessen, dass gleich nebenan das Großstadtleben tobte, war es still und ruhig. Vielleicht sogar ruhiger als zur selben Zeit im Dorf Kroschkino, wo mit dem Einfall der Dämmerung die Hofhunde dreist wurden, sobald man sie nicht mehr sehen konnte, und ihre bellende Unterhaltung begannen, in der sie einander erzählten, wer von ihnen einen wie großen Knochen erhalten hatte. Dort würde das Gebell jetzt bis Mitternacht andauern, bis ihre Besitzer, die schon ganz benommen davon waren, ihre Köter beschimpfen würden, worauf der Stock zu folgen drohte, und nachdem die Hunde das selbstverständlich wussten, würden sie rechtzeitig verstummen und ihre Schnauzen in die warme Erde stecken.

Mit einem Mal erwachte Genosse Kalinin wieder, ging um seinen Schreibtisch herum und zog aus einer Schublade ein Büchlein hervor, das er Pawel überreichte.

„Lenin für Kinder“, las Pawel den Titel und betrachtete den Umschlag, auf dem der große Führer auf einer Bank abgebildet war, umringt von einer Kinderschar.

„Lass dich nicht vom Titel beirren“, sagte Genosse Kalinin mit ermüdeter Stimme. „Dieses Buch wirst du gut gebrauchen können! Eigentlich ist es nicht nur für Kinder. Ich habe dir jetzt so ziemlich alles gesagt. Morgen Nachmittag wird man dir auf dem Flughafen den Sattel überreichen. Und jetzt fahr nach Hause und ruh dich aus…“

„Und was ist mit dem weißen Pferd?“, fragte Pawel leise und wurde sogleich verlegen wegen seiner vorlauten Frage.

„Das Pferd?“, wiederholte Genosse Kalinin. „Das Pferd wird ebenfalls zum Flughafen gebracht. Es ist hier, in den Kreml-Stallungen. In Ordnung?“

Pawel spürte einen Wunsch in sich aufsteigen, den er dem Genossen Kalinin nicht verschweigen mochte. Aber er wusste nicht, wie er es sagen sollte, da er keine zweite dreiste Frage stellen wollte.

„Na, warum schweigst du? Ich sehe doch, dass du etwas auf dem Herzen hast?“, bemerkte Genosse Kalinin aufmerksam.

„Ja, also… ich…“

„Na, heraus damit!“

„Ich würde gerne, Genosse Kalinin…“

„Nenn mich doch bei meinem Vornamen, wir sind jetzt gleichgestellt!“

„Also… Michail, ich würde gern auf diesem Pferd vom Kreml zum Flughafen reiten…“

„Jaaa…“, sagte Genosse Kalinin. „Was für ein Wunsch, das sage ich dir!“

„Aber nur, wenn es möglich ist, wenn nicht, dann…“

„Sofort!“, unterbrach ihn Kalinin und ging zum Telefon. „He, Wasja!“, sagte er zu jemandem. „Ist für morgen eine Eskorte frei? Ja? Gut. Dann ordne an, dass sie gegen zwölf am Erlösertor bereitsteht! – Na bitte.“ Genosse Kalinin legte den Hörer auf und blickte den Volkskontrolleur an. „Erledigt. Du sollst deinen Ritt haben!“

„Danke!“ Pawels Augen leuchteten und er konnte gerade noch den Drang in sich bezähmen, Genosse Kalinin zu umarmen und zu küssen.

„Bedanke dich später! Das Wichtigste ist, das Vaterland zu lieben und alles für sein Wohl zu unternehmen! Das ist alles, geh! Nein, warte, sag mir noch, warum du eine Axt mitgenommen hast?“

„Meine Frau hat sie mir auf die Reise mitgegeben“, erklärte Pawel und erhob sich vom Tisch.

„Sieh mal einer an!“, grinste Genosse Kalinin. „Was für eine tüchtige Frau! Sie hat recht! Hier ist das Leben so… ja…“

Hinter der Tür zum Flur stand ein Rotarmist, der Dobrynin zum Wagen hinunterbrachte. Viktor Stepanowitsch war nicht da. Nur der Chauffeur saß darin, schläfrig und schweigsam. Die ganze Fahrt über sagte er kein Wort. Erst als der Wagen vor dem Hauseingang hielt, erinnerte er Pawel daran, dass seine Wohnung die Nummer drei habe.

Der diensthabende Hausmeister öffnete Pawel die Eingangstür. Dobrynin stieg in den zweiten Stock hinauf und ihm fiel der Schlüssel ein, den ihm der Hausmeister gegeben hatte. Er fand ihn in seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. Seinen Reisesack ließ er im Vorzimmer stehen, das Buch „Lenin für Kinder“ aber nahm er mit sich und ging weiter ins Arbeitszimmer.

Er schaltete die Lampe mit dem grünen Lampenschirm ein und es wurde richtig gemütlich in diesem freundlichsten aller Zimmer in der Wohnung. Es herrschte vollkommene Stille, die ihn auf ernsthafte Gedanken einstimmte. Er setzte sich also an den Schreibtisch, schlug die erste Seite des Büchleins auf, das er im Kreml geschenkt bekommen hatte, und begann zu lesen.

Nachdem er die erste Erzählung über Lenin gelesen hatte, beschloss Pawel, es dabei erst einmal bewenden zu lassen, vor allem, um ein wenig über Sinn und Moral dieser Erzählung nachzudenken. Es wurde beschrieben, wie Lenin eines Tages in das Haus von Küstenfischern einer Volksgruppe im Norden geriet. Er kam als Gast dorthin, und sogleich deckten die Gastgeber den Tisch und warteten Wladimir Iljitsch ihre Nationalsuppe auf, die einem europäischen Menschen selbstverständlich nicht schmecken konnte. Aber Lenin sagte nichts davon, sondern bedankte sich nur für die Bewirtung. Und sie schlossen daraus, dass Lenin diese Suppe sehr mochte und boten noch mehr davon an und füllten, kurz gesagt, seinen Teller wieder an. Und auch da sagte Lenin nichts und aß alles auf, wie es ihm seine Eltern noch im fernen Simbirsk beigebracht hatten. Da tat natürlich die Erziehungsmethode der Familie Uljanow, den Teller leer zu essen, ihre Wirkung, aber nicht allein das.

„Ja“, dachte Pawel zu guter Letzt. „Man hat mir dieses Buch nicht umsonst geschenkt. Ich werde ja in den Norden geschickt… Das bedeutet, dass ich die Nationalsuppen und andere Gerichte dort achten muss…“

Die Müdigkeit verlangsamte den Prozess des Denkens und Pawel fühlte, wie er einzunicken begann. Und da er nicht im Sitzen schlafen wollte, ging er ins Schlafzimmer, nachdem er seine Kleider im Arbeitszimmer gelassen hatte. Er schloss die Tür hinter sich und blieb einige Minuten stehen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das große, weiße Quadrat des Bettes trat aus der Finsternis der Nacht hervor, und Pawel bemerkte bald, dass seine dienstliche Frau auf der näher zur Tür gelegenen Seite lag. Er ging also um das Bett herum, legte sich auf die andere Seite und ließ dabei nicht weniger als einen Meter Platz zwischen sich und seiner Frau. Er deckte sich mit dem Rand der Bettdecke zu und spürte die Wärme, die ihn wie Watte umhüllte, und er schlief ein, indem er sich mit einem Lächeln von diesem erstaunlich märchenhaften Tag verabschiedete, der gerade zur Vergangenheit wurde.

Загрузка...