Kapitel 22

Immer noch jagte der Schlitten an Wäldchen und Hainen vorbei, die aus Nadelbäumen bestanden und deren Grün der Volkskontrolleur besonders genoss. Nach einer kurzen Rast, auf der Waplach die Hunde mit getrocknetem Fisch gefüttert und die Menschen Stroganina gekaut hatten, fühlte sich Dobrynin ziemlich munter und legte sich nicht mehr hin. Abunajka indessen hatte mit seinen schwarzen Zähnen das gesalzene, trockene Fleisch kaum zu Ende gekaut, als er sich wieder hinlegte und zu schnarchen begann.

„Der Russe ist weise“, sagte der Urku-Jemze zu Dobrynin, der seit ihrer Rast neben ihm vorne auf dem Schlitten saß. „Er soll mir einen neuen guten Namen geben. Die russischen Namen sind schön, besser als die urku-jemzischen!“

Pawel dachte nach und beobachtete dabei, wie die Hunde unermüdlich dahinliefen. Diese Bitte bewies ihm, dass Waplach ihn sehr achtete, und das rührte und freute ihn, auch wenn er Letzteres in seinem Gesicht nicht zeigte.

„Natürlich ist das möglich“, sprach Dobrynin bedächtig und mit großer Deutlichkeit. „Aber bei uns Russen hat ein Mensch nicht nur einen Namen, sondern einen Vor- und einen Nachnamen.“

„Nun, dann soll mir Pawel einen Vor- und einen Nachnamen geben“, nickte der Urku-Jemze.

„Also gut, das mache ich“, sagte Dobrynin und in seinem Kopf begannen die Gedanken zu kreisen, und bereits nach einer Minute wusste er, wie er seinen Retter nennen musste.

„Also“, sagte der Volkskontrolleur. „Gefällt dir der Name Dmitrij?“

„Sehr schön“, lächelte der Urku-Jemze und wiederholte: „Dmitrij!“

„Nun, wenn er dir gefällt, dann nenne ich dich Dmitrij, und dein Nachname wird… Waplachow, ja? Das klingt gut, und russisch.“

Der Urku-Jemze überlegte kurz und nickte dann.

„Ja“, sagte er. „Jetzt hat das Volk der Urku-Jemzen einen russischen Namen…“

Da erinnerte sich Dobrynin wieder an das auf mysteriöse Weise verschwundene Volk und wieder wollte er den früheren Waplach, jetzt Dmitrij Waplachow, danach fragen, aber er fürchtete, dass sein Retter dadurch traurig werden könnte, und Dobrynin selbst hatte die Traurigkeit doch satt – er wollte an Helles und Fröhliches denken. Also fragte er nicht nach dem Volk.

Der Schlitten fuhr immer weiter. Plötzlich hielt Dmitrij Waplachow die Hunde jäh an, völlig unerwartet, sodass Dobrynin fast in den Schnee gefallen wäre.

„Was ist los?“, fragte er und wandte sich zum Urku-Jemzen um. Der frisch getaufte Dmitrij zeigte mit der Hand nach vorn, aber noch ehe Pawel etwas sehen konnte, vernahm er ein mechanisches Dröhnen, und da erblickte er schon einen großen grünen Panzer, der ihnen entgegenkam.

„Wahrscheinlich fährt er auf Besuch nach Chulajba“, vermutete der Urku-Jemze.

Als der Panzer herangefahren war, hielt er an. Ein junger Soldat mit Helm blickte aus der Luke und winkte ihnen zu.

„Wohin fahren Sie?“, fragte er und sah dabei Dobrynin an.

„Dorthin, zum Militär!“, antwortete Pawel. „Und Sie?“

„Nach Chulajba, dort gibt es einen konterrevolutionären Aufstand, ich habe den Befehl, ihn niederzuschlagen“, entgegnete der Soldat mit fröhlicher Stimme, in der so viel jugendlicher Übermut mitschwang, dass sich der Volkskontrolleur augenblicklich wie ein uralter Greis fühlte.

„Was für ein Aufstand?“, wunderte sich Dobrynin. „Dort gibt es keinen Aufstand. Dort ist alles in Ordnung!“

„Wirklich?“, rief der Soldat aus. „Schade… Man hat mir zwanzig Tage Urlaub versprochen, wenn ich ihn niederschlage. Ich wollte nach Kursk fahren, zu meiner Mama… Aber dann muss ich wohl zurück…“

Da kam Dobrynin ein nützlicher Gedanke. Was wäre, dachte er, wenn ich in den Panzer umsteigen und darin zum Militär fahren würde? Dmitrij und den Alten könnte ich mit den Hunden nach Hause nach Chulajba schicken.

Und so bat er den Soldaten:

„Hör mal, bring mich mit dem Panzer zu deinem Kommandanten!“

„Steigen Sie ein!“, antwortete der Panzersoldat bereitwillig. „Der Panzer ist groß, hier drinnen ist viel Platz.“

„Ich fahre mit ihm weiter“, drehte sich Pawel zum Urku-Jemzen um. „Und ihr könnt zurückfahren.“

Das Gesicht des Urku-Jemzen verfinsterte sich.

„Warum möchte Pawel denn Dmitrij nicht mitnehmen?“, fragte er. „Dmitrij fährt nicht nach Chulajba!“

„Und die Hunde? Sie können wohl kaum in den Panzer klettern!“ Der Volkskontrolleur suchte nach einer Erklärung.

„Abunajka fährt mit den Hunden in die Stadt zurück, und ich möchte weiter mit dem Russen Pawel fahren…“

„Was soll ich nur mit dir machen?“ Dobrynin kratzte sich hinter dem Ohr. „Na gut!“

Sie weckten den Alten, erklärten ihm, worum es ging, und es stellte sich heraus, dass er sich sehr darüber freute. Er nickte den beiden zum Abschied zu, wendete den Schlitten und jagte ihn zurück nach Chulajba. Pawel und Dmitrij hingegen kletterten in den Panzer und machten es sich auf den grünen Kisten dort bequem. Der Soldat setzte sich nach vorn und machte sich an den Hebeln zu schaffen, woraufhin der mächtige Armeemotor mit neuer Kraft aufheulte. Der Panzer machte einen Ruck, setzte zu einer Kehrtwendung an und fuhr zurück zum Militärlager.

Sie waren nicht lange unterwegs. Als sie angekommen und aus dem Panzer gestiegen waren, sahen sie sich von einem dichten Nadelwald umgeben. Zwischen den Bäumen erspähten sie eine ganze Stadt mit gewöhnlichen Holzhäusern und den üblichen schrägen Dächern. Auf einer sehr hohen und dünnen Stange flatterte die heimatliche rote Fahne, und darunter, direkt daneben, stand ein sympathischer Soldat mit einem Gewehr in Habtachtstellung.

Gleich als Erstes bat Dobrynin den Panzersoldaten, sie zum Kommandanten des Lagers zu bringen.

Sie betraten ein großes Holzhaus, wo sie ein gewaltiger Russe begrüßte, der sich als der Kommandant erwies. Er war überaus breit als auch groß und trug eine grüne Militärjacke mit einem Ledergürtel und glänzender Kupferschnalle. Sein Name war Oberst Iwaschtschukin.

„Wie, dort gibt es wirklich keinen Aufstand?“, erkundigte er sich verwundert.

„Nein“, bestätigte der Volkskontrolleur.

„Na, dieser Funker macht vielleicht Scherze!“ Der Oberst schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn doch schon einmal verwarnt! Er hat sich damals einen Scherz erlaubt – da war ihm nämlich langweilig, und er wollte einen Soldaten zum Kartenspielen kommen lassen. Aber woher soll ich wissen, wer von den Soldaten Karten spielt und wer nicht! Ich dachte, dass es dort Unruhen gäbe, und schickte unseren wildesten asiatischen Soldaten auf dem Panzer hin. Aber da war dieser Poltoranin dann beleidigt. Er funkte mir: ‚Habt ihr etwa keine russischen Soldaten dort? Dieser Asiat kennt nicht einmal die einfachsten Kartenspiele wie Durak!‘ Nun, ich werde das mit ihm klären!“

Dann erklärte Dobrynin dem Oberst, dass er dringend mit einem Bericht nach Moskau zu Genosse Kalinin fliegen müsse, aber über das, was tatsächlich in Chulajba geschehen war, wollte er ihm noch nichts sagen.

„Ja, also“, antwortete der Oberst, „ich habe ein Bombenflugzeug, und wenn der Pilot nicht auf der Jagd ist, dann können Sie fliegen. Nur Ihr Genosse kann nicht ins Flugzeug“, fügte er plötzlich hinzu, nachdem er einen Blick auf den Urku-Jemzen geworfen hatte.

„Aber warum denn nicht?“, fragte Dobrynin verwundert.

„So ist die Vorschrift.“ Iwaschtschukin zuckte die Achseln. „Es ist verboten, Angehörige der lokalen nicht-russischen Nationalitäten in Militärflugzeugen zu transportieren.“

„Aaah“, nickte Pawel, da er begriff, dass es so vorgeschrieben worden war. Wenn es eine solche Vorschrift gab, dann war es tatsächlich nicht möglich.

„Aber Sie kommen doch anschließend wieder zurück?“, wollte der Oberst wissen. „Er kann inzwischen bei uns wohnen. Wir werden ihn verpflegen und ihm das Kartenspielen beibringen. Er wird sich nicht langweilen. In welchem Verhältnis stehen Sie denn eigentlich zu ihm?“

Dobrynin begann gründlich zu überlegen. Wenn er nämlich sagte, dass Dmitrij sein Retter war, dann musste er auch alles andere erzählen, und so beschloss der Volkskontrolleur, nicht die ganze Wahrheit zu sagen, später aber würde er versuchen das richtigzustellen.

„Er ist mein Gehilfe“, antwortete Dobrynin. „Er hilft mir beim Kontrollieren und Überprüfen.“

„Aha.“ Der Oberst war einverstanden und lächelte Dmitrij freundlich zu. „Also, wir sorgen dafür, dass ihm hier nicht langweilig wird, machen Sie sich keine Gedanken!“

Der Oberst gefiel Dobrynin. Weil es nämlich so leicht gewesen war, mit ihm bezüglich des Flugzeugs einig zu werden, und auch, weil er dem Volkskontrolleur, nachdem er dessen Vollmacht gelesen hatte, die Hand besonders kräftig geschüttelt hatte.

Nachdem sie sich in der Offizierskantine so richtig sattgegessen hatten, legten sich Pawel und Dmitrij zur Erholung auf speziell für sie bereitgestellte Liegen. Sie schliefen tief und fest und kein einziger Traum vermochte ihr Bewusstsein zu erreichen. Nach dem Aufwachen brachte sie ein diensthabender Soldat wieder in die Kantine, wo sie erneut ihren Appetit stillten und dann Tee tranken.

Pawel hatte gerade seine erste Tasse ausgetrunken, als Oberst Iwaschtschukin in die Kantine kam.

„Wie haben Sie geschlafen?“, fragte er in strengem Ton, jedoch mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

„Gut“, antwortete Dobrynin für sie beide.

„Das Flugzeug ist bereit“, teilte der Oberst mit und fügte sogleich mit sanfterer Stimme hinzu, die geschmeidig wie Samt klang: „Könnten Sie mir etwas aus Moskau mitbringen? Irgendetwas Feines zum Tee…“

„Selbstverständlich“, versprach der Kontrolleur.

„Also kommen Sie, ich begleite Sie zum Flugzeug. Und Sie“, wandte er sich an Dmitrij, „Sie können noch ein wenig sitzen bleiben und ihren Tee fertig trinken.“

Dobrynin und der Urku-Jemze umarmten einander zu einem Abschied auf kurze Zeit.

„Pawel soll unbedingt zurückkommen!“, bat Dmitrij.

„Ich komme bestimmt zurück“, versprach Dobrynin. „Ich treffe mich nur kurz mit dem Genossen Kalinin und kehre mit demselben Flugzeug zurück. Wird das Flugzeug auf mich warten?“

Die letzte Frage hatte Pawel an den Oberst gerichtet. Der Oberst nickte mit seinem mächtigen Haupt und sagte:

„Selbstverständlich wartet es so lange, wie Sie wollen, denken Sie etwa, dass mir das nicht klar ist?“

Nachdem er sich verabschiedet hatte, folgte Dobrynin Iwaschtschukin. Sie stapften über einen Weg im flachen Schnee und kamen auf eine weite Lichtung, die gleich hinter der Militärstadt begann, wo bereits an die fünfzehn Soldaten aus Leibeskräften arbeiteten, um den Schnee vor einer riesigen, schmutziggrünen Flugmaschine mit einem großen roten Stern auf der Seite einzuebnen.

Zuerst warf Dobrynin seinen Reisesack in die geöffnete Tür des Flugzeugs, hierauf stieg er mit Hilfe des Oberst selbst ein. Er setzte sich auf einen schmalen Sitz, blickte aus dem Seitenfenster und zog den Sack näher zu sich heran, sodass er direkt zu seinen Füßen lag. Dann wartete er auf den Start.

Das Flugzeug, das mit dem Aufheulen seines Motors die Erde erbeben ließ, raste über die schneebedeckte Lichtung und erhob sich in den fahlen Nordhimmel.

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