Kapitel 12

Der Zug nach Karaganda fuhr auf Bahnsteig drei ein.

Es fiel Schnee, der gleich wieder schmolz und sich in Wasserlacken verwandelte, die das Laternenlicht widerspiegelten, matt und gelblich wie Butter aus Wologda.

„Wo ist denn hier der Waggon Nummer drei?“, fragte ein kleiner Mann im Wintermantel und mit Persianermütze den Schaffner, der gerade aus dem Zug gestiegen war.

„Ganz hinten!“, antwortete dieser und zeigte mit einer Bewegung seines unrasierten Kinns die Richtung an.

Der Mann nahm seinen Koffer sowie einen in Stoff gehüllten kegelförmigen Gegenstand und eilte zum gesuchten Waggon.

Weiße Schneeflocken schwebten wie Fliegen vor seinen Augen, sodass der Mann im Gehen den Kopf schüttelte, dermaßen lebendig und zudringlich schienen sie.

„Ist das Nummer drei?“ Er blieb neben einer attraktiven Schaffnerin in einem grünen Uniformmantel stehen.

„Nummer drei“, nickte sie, nachdem sie den Passagier gemustert hatte.

Der Mann holte seine Fahrkarte aus der Manteltasche.

„Steigen Sie ein!“, sagte die Schaffnerin.

Das Zweierabteil der ersten Klasse war sauber und gemütlich.

Der Mann stellte den Kegel auf den Tisch und nachdem er eine lederne Toilettetasche aus dem Koffer genommen hatte, hob er diesen auf die Gepäcksablage unter der Decke.

Im Inneren des Kegels begann es zu rascheln.

Der Mann hatte sich auf seinen Platz gesetzt und entspannte sich, er streckte die Beine aus und stützte sich mit den Händen auf die weiche, nachgiebige Polsterung seiner Lederbank. Er seufzte glücklich.

„Der Zug ‚Moskau–Karaganda‘ fährt in fünf Minuten ab!“, ertönte die Bahnhofsdurchsage.

Der Mann zog den Mantel aus und hängte ihn auf einen Kleiderbügel; seine Mütze legte er auf die schmale Ablage über seinem Schlafplatz.

Das Türschloss klickte und eine junge Frau mit einer kleinen Reisetasche trat ins Abteil, auf dem Kopf hatte sie ein warmes Orenburger Tuch.

„Guten Tag!“, sagte sie, indem sie das Gesicht ihres Nachbarn musterte.

Der Mann grüßte. Dann erhob er sich.

„Mark Iwanow, Künstler!“, sagte er und nahm der Frau die Reisetasche ab.

„Klawa Fjodorowa, Chemotechnikerin“, stellte sich die Frau vor. „Haben Sie gesehen, wer im Nachbarabteil sitzt? Gehören Sie zusammen?“

„Wer ist dort?“ Der Mann bekundete vorsichtig sein Interesse.

„Na, wie heißt er doch gleich… ich hab’s gleich! Ach ja, Walentinow!“

„Tatsächlich?!“, sagte ihr Kupee-Nachbar. „Nein, wir fahren nicht gemeinsam… Ich arbeite in einem anderen Genre, nicht beim Film.“

Die junge Frau legte ihre Oberbekleidung ab, faltete das Tuch behutsam zusammen und verstaute es in der Reisetasche, die, wie der Künstler Iwanow sah, halbleer war.

Ein Ruck ging durch den Zug. Er fuhr einige Meter, dann hielt er wieder an. Noch einmal ruckelte es. Erst dann fuhr er los und gewann langsam an Fahrt.

Iwanow und Klawa saßen einander gegenüber, jeder auf seiner Bank.

Hell erglühte das Lämpchen an der Decke.

„Jetzt würde ich gerne lesen!“, dachte Mark.

„Was raschelt denn bei Ihnen so?“, fragte Klawa, die aufmerksam geworden war und den seltsamen Kegel betrachtete, der auf dem Tischchen stand.

„Das ist mein Gehilfe“, antwortete Mark. „Wir treten gewöhnlich zu zweit auf.“

Die Frau lächelte.

„Ich hoffe, es ist keine weiße Ratte?“

„Wo denken Sie hin, Klawa? Sehe ich denn aus wie jemand, der mit dressierten Ratten auftritt?!“

„Aber was ist das dann?“, beharrte die Frau.

„He, du dort, im Käfig, wie heißt du?“, sagte Mark Iwanow streitlustig.

„Kusma“, ertönte eine seltsame Stimme, die der einer mechanischen Puppe ähnlich war.

Die Frau musste lachen. Dann schwieg sie einen Augenblick nachdenklich und fragte:

„Ein Papagei?“

„Erraten!“, sagte Mark.

„Und warum haben Sie ihn so versteckt?“

„Wir haben doch schon Winter. Und er ist ein zarter Vogel. Gleich zeige ich ihn Ihnen!“

Und Mark Iwanow beugte sich zum Käfig, öffnete das Türchen, das unter der Stoffhülle nicht sichtbar war, und befahl:

„Komm doch heraus, Künstler!“

Zunächst streckte Kusma den Schnabel heraus, dann sah er sich mit seinen runden Äuglein im Abteil um und kam schließlich heraus.

„Wie groß er ist!“, klatschte die junge Frau begeistert in die Hände. „Und so farbenfroh!“

Mark gestattete dem Vogel, sich auf seine Hand zu setzen, dann hob er ihn auf die Schulter.

„Und was sagt er so?“, fragte Klawa bereits mit neckischer Stimme.

Dieser Mann ihr gegenüber mit den kreisförmigen Vogelaugen und den zurückgelegten, kurzen, leicht gewellten Haaren begann ihr zu gefallen. Er wirkte humorvoll und nett.

„Nun, was sagt ein Papagei normalerweise?“, antwortete Mark Iwanow mit einer Gegenfrage.

„Zum Beispiel: Blödmann!“, schlug Klawa lachend vor.

„Normalerweise ja, aber Kusma ist natürlich klüger…“

Da kam die Schaffnerin ins Abteil.

„Möchten Sie Tee?“, fragte sie.

Klawa und Mark wechselten einen Blick.

„Ja, bitte!“, antwortete Mark. „Haben Sie vielleicht auch Teegebäck?“

„Können Sie haben“, versprach die Schaffnerin und ging hinaus.

„Wo waren wir gerade?“, fragte sich Iwanow laut.

„Was Papageien sprechen“, erinnerte ihn Klawa.

„Also gut.“ Mark winkte plötzlich ab. „Ich sage es Ihnen! Unser Kusma tritt mit Gedichten auf!“

„Was?!“, rief Klawa erstaunt.

„Na, er lernt auswenig und deklamiert! Es gibt nur einen Haken – er kann die Titel der Gedichte und die Namen der Autoren nicht ausstehen. Und deshalb begleite ich ihn. Er trägt dem Publikum ein Gedicht vor, und dann gebe ich den Titel und den Autor bekannt…“

„Meinen Sie das ernst?“

„Aber ja.“ Marks feine Gesichtszüge formten ein halbernstes Lächeln. „Kusma, trag etwas vor!“, wandte er sich an den Vogel.

Klawa fand das komisch. Sie kicherte.

„Na, Kusma! Du bekommst einen Keks!“

Der Papagei drehte den Schnabel zur Seite und fixierte mit dem rechten Auge die einzige Zuhörerin im Abteil.

„Hm!“, sagte er ganz wie ein Mensch.

Eine Weile schwieg er, dann trug er vor:

„‚Oh ja!‘,

ruft Susi,

‚wie ist das schön.

Wir fahren in die

Sowjetunion!

Schwarzen Kaviar

will ich essen,

frischen Störfisch

auch genießen,

an der Wolga

Troika fahren,

Kolchosen locken

mit Himbeeren an!‘“

Klawa klatschte in die Hände und lachte.

„Was für ein fröhlicher Mensch!“, dachte Mark bekümmert.

Und aus seinem Gesicht verschwand das Lächeln.

Die Schaffnerin brachte den Tee und eine Packung „Schachbrett“-Kekse.

Als sie den Papagei auf der Schulter des Passagiers erblickte, schrie sie erschrocken auf. Beinahe hätte sie den Tee über dem Tisch verschüttet.

„Sie haben mich vielleicht erschreckt!“, sagte sie und ihr Atem ging immer noch schnell. „Wie können Sie nur?“ Sie lächelte wieder.

„Fühlen Sie sich nicht gut?“, fragte die junge Frau, nachdem die Schaffnerin gegangen war. Sie hatte den veränderten Gesichtsausdruck ihres Nachbarn bemerkt.

„Doch, doch“, antwortete Mark sanft. „Trinken Sie Ihren Tee! Wir werden auch gleich Kusma verköstigen. Er hat es sich doch verdient, nicht wahr?“

„Ja!“, sagte Klara und sah den blaugrünen Vogel an.

„Nun, dann bitte zu Tisch!“ Mark nahm den Papagei von der Schulter, stellte ihn auf das Tischchen, öffnete die Keksschachtel und gab dem Vogel einen Keks.

„Verstehen Sie“, sagte Mark mit einem tiefen Seufzer. „Wie soll ich es Ihnen erklären? Nun, gerade hat er ein lustiges Gedicht vorgetragen – Sie haben gelacht, und Ihre Laune hat sich verbessert. Nicht wahr?“

Klawa nickte.

„So muss es auch sein. Schließlich ist das Zirkuskunst. So eine Art Clownerie… Jetzt hat man mir befohlen, ein neues Programm zusammenzustellen, das nur aus ernsten, patriotischen Gedichten besteht. Ich mag solche Gedichte, bin auch bereit sie vorzutragen, aber verstehen Sie, die Menschen, die vor sich einen Papagei sehen, werden lachen. Schließlich ist es den Menschen ganz egal, was ein Vogel sagt. Von einem Papagei erwarten die Leute etwas Lustiges. Das ist nicht nur bei uns so, sondern auf der ganzen Welt…“

Klawas Gesicht, das bezaubernd war und von wirklicher Schönheit, wurde plötzlich ernst und besorgt.

„Ich habe nichts gegen die Idee an sich, verschiedene Genres und Formen der Kunst für Propagandazwecke zu nutzen“, fuhr Mark fort. „Ich bin überhaupt nicht dagegen… Aber stellen Sie sich nur den ‚Roten Flottenmarsch‘ von Aleksandr Besymenskij vor:

„Noch tragen die Völker des Westens die Ketten,

noch hüllen die Wolken das Recht.

Doch rote Fahnen wehen, auch dort wird er stehen

Potemkin, der Kreuzer zum Gefecht…“

„Sie verstehen sicher“, fuhr Mark nach einer Pause fort, „dass es nicht einmal für den Rezitator leicht zu lernen ist, die richtige Betonung zu finden, und dann erst für einen Vogel! Aber dem Volk ist das ohnehin egal! Das Volk wird lachen, weil ein Papagei Gedichte vorträgt…“

Vor lauter Aufregung kam Iwanow ins Schwitzen. Er holte aus der Brusttasche seines Jacketts ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn ab.

Die Frau schwieg.

Plötzlich gefiel ihr der Reisegefährte gar nicht mehr.

Ausgerechnet jetzt, dachte sie, in Zeiten der Industrialisierung, in Zeiten der Langstreckenflüge, während unser Land täglich das vollbringt, wofür andere Länder hundert Jahre brauchen, da muss man sich beschweren? Jammern? Sich so aufregen, dass man ins Schwitzen kommt, wegen lächerlicher, kleinlicher Probleme?

„Gehen Sie bitte hinaus“, sagte Klawa mit ernster Stimme. „Ich werde mich jetzt umziehen und dann hinlegen.“

Mark stand gehorsam auf. Er setzte Kusma zurück in den Käfig und schloss das Türchen.

Dann ging er hinaus. Der Korridor des Waggons war leer. Die Räder sangen ihr Lied, das klang, als würden sie mit den Schienen einen Abzählreim hersagen.

Vor dem großflächigen, blankgeputzten Fenster zog eine Siedlung vorbei, deren Dächer von hohen Laternen beleuchtet wurden.

„Mag der Sturm uns zerzausen, die Wellen sie brausen“, flüsterte Mark das Ende des „Roten Flottenmarsches“ vor sich hin. „Die rote Flut, sie steigt an. Vorwärts Kommunisten! Zum Endkampf wir rüsten die rote Marine voran! Vorwärts an Geschütze und Gewehre, auf Schiffen, in Fabriken und im Schacht! Tragt über den Erdball, tragt über die Meere die Fahne der Arbeitermacht!“

Nachdem er das Gedicht beendet hatte, lehnte Mark seine Stirn an das kalte Fensterglas.

Es fiel kein Schnee mehr.

Mark zuckte mit den Achseln. Nachdenklich schielte er auf die Tür zu seinem Abteil und überlegte, ob er noch etwas warten oder anklopfen und fragen sollte, ob er schon an seinen Platz zurückkehren konnte.

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