An den Steinen klebte Blut, eine Spur der achthundert Menschen, die hier durchgezogen waren. Die Flüchtlinge schleppten sich taumelnd in einer langen Reihe dahin. Manche, die hinfielen, rafften sich selbst wieder auf die Beine. Andere lagen zitternd vor Kälte im roten Staub, bis alle an ihnen vorbei waren oder ihnen einer hochhalf. Wenn man ihnen half, dankten sie ihren Rettern, wenn sie das noch fertigbrachten. Wenn alle vorbeigingen, rappelten sie sich selbst wieder auf. Wenn nicht, waren sie tot.
Frauen mit Kindern am Rockzipfel und Babys an der Brust folgten ihren Männern. Hungrig, ewig hungrig suchten sie rastlos beiderseits der langen Reihe nach Anzeichen von etwas Eßbarem. Die Ebene war leer. Hier wuchs nichts, und das Wild war längst vor dem Heer der Flüchtlinge geflohen.
Hungrig. Immer waren sie hungrig.
Vor ihnen erhoben sich Berge, verschwanden unter ihren blutenden Füßen und erhoben sich erneut. Es waren die Blutberge, rot wie ihr Name, mitleidlose Anhöhen aus bitterem Stein und erstickendem Staub. Das Wasser hier war brackig und schmeckte faulig. Niemand hielt an, um eine Feldflasche zu füllen. Niemand blieb zurück, um seinen Durst zu stillen, der ebenso schlimm war wie der Hunger.
Kaum einer dachte darüber nach, ob Thorbardin ihr Zufluchtsort sein würde. Nur wenige konnten überhaupt noch darüber nachdenken, und niemand hatte die Kraft, zu überlegen, was mit ihnen geschehen würde, wenn die Zwerge ihnen kein Obdach gewähren würden.
Dann zwingen wir sie zum Zuhören, hatte Tanis gesagt.
Das reichte den Menschen, die nirgends anders hinkonnten.»Halt! Genug!« Gneiss’ Ruf nach Ordnung durchschnitt Ranzes Schimpftirade wie ein Blitz eine schwüle Sommernacht. Die Halle der Lehnsmänner war mit Wandteppichen geschmückt, von denen jeder eine Szene aus der Geschichte der Zwerge darstellte. Alle waren kunstvoll aus schimmerndem, satt gefärbtem Garn gewebt. Die Wandbehänge dämpften Gneiss’ tiefes Bellen kaum. Er versuchte, die Kopfschmerzen zu ignorieren, die hinter seinen Augen pochten.
Die Wandbehänge hatten noch nie die lautstarke Rage der Auseinandersetzungen gedämpft, die hier im Rat der Lehnsherren ausgetragen wurden. Gneiss wußte auch nicht, warum sie es jetzt tun sollten.
Fackeln in versilberten Halterungen flackerten wie bei einem Sturm. Schatten liefen die Säulen hinauf und verwoben sich mit der Dunkelheit der gewölbten Decke. Die sechs Zwerge, die sich zum Rat der Lehnsherren versammelt hatten, wurden still.
Hornfell, der Hylar und Sohn von Hochkönigen, wartete geduldig, daß Ruhe einkehrte. Realgar, der dunkeläugige Derro und Ränkeschmied mit seiner schwarzen Seele, belauerte Gneiss wie eine Schlange ihre Beute. Sein Verbündeter, Ranze, mit seinem unbändigen Temperament und den mörderischen Wutanfällen, stand stocksteif da. Er wartete nicht auf die Erlaubnis zu sprechen, sondern darauf, daß seine Wut sich genug abkühlte, damit er seine Tirade fortsetzen konnte. Tufa fuhr mit seiner Hand durch den roten Bart, in einer Weise, die nicht beleidigen, aber auch nicht ermutigen sollte. Er sah als erster beiseite. Der Gossenzwerg Bulp betrachtete die Innenseite seiner Augenlider und verschlief leise schnarchend selbst Ranzes Wutgedonner und Gneiss’ blitzartigen Schrei nach Ruhe.
Ranze, der Lehnsherr der Daergars, ballte die Fäuste. Sein Kiefer war hart wie Stein, und er war nicht so leicht zum Schweigen zu bringen. »Bei der Schmiede der Götter, das ist zuviel! Achthundert?« Seine Stimme fiel gefährlich tief. »Ich sage nein. Sollen wir jeden Strolch willkommen heißen, der es bis zu unseren Toren schafft? Nein.« Er schnaubte verächtlich und ablehnend. »Als nächstes bittet ihr noch darum, daß wir die Hügelzwerge einladen.«
Alle Augen wanderten zu Gneiss, der bis jetzt geschwiegen hatte. Gneiss lächelte nicht, obwohl er das hätte tun können. Er war stolz auf seine Selbstbeherrschung. Dann schaute er zu Tufa, dem Lehnsherr der Klar und Herrscher über den einzigen Clan von Hügelzwergen, der heute noch in Thorbardin lebte. Ranzes verächtliche Bemerkung sprach für sich selbst. Tufas normalerweise milde, geduldige Augen wurden hart.
Da ist einer, dachte Gneiss, der bald in Hornfells Lager wechselt.
Hornfell wußte das und lächelte. Genau, dachte Gneiss, lächele nur in deinen Bart hinein, mein Freund. Du weißt, daß Tufa jetzt auf deiner Seite steht.
Seufzend trommelte Gneiss mit den Fingern auf der breiten Marmorlehne seines Throns. Bulp von den Aghar würde ebenfalls wie Hornfell stimmen. Das tat er immer, wenn er wach war. Der Gossenzwerg war eine mehr als mitleiderregende, zu nichts taugliche Gestalt, aber Gneiss war sicher, daß Hornfell nicht verächtlich auf irgendeine Unterstützung bei seiner Bitte, den Menschen aus der Außenwelt Zuflucht zu gewähren, verzichten würde. Nicht einmal die eines kastenlosen Gossenzwergs.
Im Augenblick schnarchte und röchelte Bulp selig mit dem Kopf auf der steinernen Armlehne seines Throns. Das hatte Bulp während dieser ganzen beispiellosen Abendsitzung getan, sogar während Ranzes lautestem Gebrüll.
Gneiss war sich selbst noch nicht im klaren darüber, wie er dazu stehen sollte, daß achthundert menschliche Flüchtlinge nach Thorbardin Einlaß begehrten. Wie Ranze hatte er keine Lust, Thorbardins Hallen mit Menschen zu füllen. Es überraschte ihn aber nicht im geringsten, daß die Hylar-Zwerge den Menschen gegenüber freundliche Gefühle hegten. Schließlich hatte Hornfell die letzten drei Jahre diesen schlaksigen, gelbhaarigen Zauberer um sich geduldet. Wo war dieser komische Vogel, dieser Pfeifer, jetzt?
Realgar lehnte sich in seinen rechtmäßigen Thron. Er trug die gelangweilte Miene eines Mannes zur Schau, der streitende Kinder beobachtet. Das Oberhaupt der Theiwaren hatte mehrere Schriftrollen dabei, das Schwert, das er gewöhnlich bei Ratssitzungen trug (von dem gemunkelt wurde, daß es nicht nur zeremoniellen Zwecken diente), und seinen leichten Umhang. Gneiss erschauerte, als Realgar ihm zulächelte, weil er seine Augen auf sich gespürt hatte.
Es war das blutleere Lächeln einer Schlange, die ihre Kiefer weit reckt, während sie im warmen Sonnenlicht liegt.
Gefangen von den Schlangenaugen, konnte Gneiss den Blick nicht abwenden. Schaudernd hatte er den plötzlichen Eindruck, daß Realgar seine Gedanken gelesen hatte. Dunkle Magie und noch dunklere Leidenschaften lauerten wie Schatten in den schmalen, schwarzen Augen des Derro-Zauberers. Sie schienen die gewaltige Befriedigung eines Mannes zu verraten, der sorgfältig einen Plan ausgeheckt hatte, der nicht schiefgehen konnte.
Was für einen Plan? Der kalte Faden der Angst schlang sich um den Magen des Daewars. Es war kein Geheimnis, daß Realgar Hornfells Feind war. Zur Zeit lebte keiner, der rechtmäßig auf den leeren Thron des Hochkönigs Anspruch erheben konnte. Das würde auch nie geschehen. Aber es gab das Gerücht, daß ein Schmied ein echtes Königsschwert hergestellt hatte, daß es für den Hylaren bestimmt gewesen war. Und daß beim Streit um seinen Besitz bereits Blut geflossen war.
Gneiss schenkte dem Gerede kaum mehr Aufmerksamkeit als der Vorstellung, jemand konnte eines Tages den Streithammer von Kharas finden. Aber… wenn die Gerüchte stimmten, konnte Hornfell als Prinzregent den Vorsitz einfordern. Das war etwas, was Realgar niemals hinnehmen würde. Die Machtgier lag dem Theiwar zu tief im Blute.
Nun, Hornfell, dachte Gneiss, ich weiß nicht, ob es ein Königsschwert gibt. Aber ich weiß, daß du den da lieber im Blick behalten solltest. Er könnte eines Tages beschließen, wie lange du noch zu leben hast.
Gneiss lehnte sich vor. »Ich sage euch eines: Beide Seiten haben schwerwiegende Argumente. Richtig, dieser Krieg ist nicht unsere Sache. Wir haben ihn nicht herbeigeführt, wir kämpfen nicht mit. Was die Menschen und die Elfen heraufbeschworen haben, sollen sie selbst austragen.«
Ranze holte Luft, um zu sprechen. Gneiss’ eisiger Blick hieß ihn schweigen, und er fuhr fort: »Aber der Hylar hat recht. Wir können den Krieg ignorieren, aber davon verschwindet er nicht. Und er kommt näher. Die Spione berichten, daß diese Flüchtlinge gerade erst aus Pax Tarkas aufgebrochen sind. Es sind achthundert, und sie sind schwach. Sie stehen noch nicht vor unseren Toren. Vertagt die Sache. Denkt darüber nach. Wir müssen auch allmählich darüber nachdenken, wie wir Thorbardin verteidigen wollen, wenn statt zerlumpter Flüchtlinge die Drachenarmeen die Ebene der Toten überqueren.«
Hornfell, der bis jetzt geschwiegen hatte, sah Gneiss an. Gneiss hätte noch mehr zu sagen gehabt, überließ dies aber freiwillig dem Hylaren.
Als Hornfell sprach, war seine Stimme leise und gleichmütig. »Der Theiwar hat recht. Wir haben Zeit. Aber die wird durch den Takt der Schritte bemessen, die sich unseren Toren nähern. Denkt nach, meine Freunde, denkt gut nach. Ob ihr wollt oder nicht, wir werden bald Verbündete brauchen. Pax Tarkas ist nicht gefallen. Es ist immer noch ein Stützpunkt der Drachenarmee. Verminaard ist nicht tot. Die Sklaven, die er in unseren alten Minen festgehalten hat, sind befreit worden, jedoch nicht von einer Armee. Wenn der Bericht des Spions wahr ist, sind diese achthundert von einer Gruppe befreit worden, die nur aus neun Abenteurern bestand.«
Hornfells Augen verengten sich. Goldenes Fackellicht leuchtete in den Tiefen seines kastanienroten Bartes. »Diese Flüchtlinge sind nach Thorbardin unterwegs, ob erwünscht oder nicht. Macht keinen Fehler… Verminaard weiß Bescheid.«
»Genau«, murrte Ranze, »daran zweifelt niemand. Aber warum willst du sie dann hier aufnehmen?«
Gneiss hörte die Kälte in der Stimme des Hylaren, als dieser entgegnete: »Weil wir Zwerge aus Thorbardin sind, Ranze, und wir treffen unsere eigenen Entscheidungen. Verminaard hat uns nicht vorzuschreiben, wo und wann wir unsere Gastfreundschaft anbieten.«
Abrupt stand er auf und zeigte auf Bulp, der immer noch schnarchte. »Der erste vernünftige Vorschlag, den ich das ganze Jahr von dem Aghar vernommen habe. Es ist spät, und wir sind alle müde. Wir werden uns morgen wieder versammeln.«
Gneiss sah zu, wie Hornfell den Rat verließ. Es war ein altes Recht des Lehnsherrn der Hylaren, die Ratssitzungen zu eröffnen und zu beenden.
Er nutzte dieses Recht nur selten, dachte Gneiss trocken, aber wenn er es tat, dann geschah dies nach dem Motto »Ihr erlaubt doch«. Der Daewar rieb sich nachdenklich den Handballen, als Ranze und Realgar sich ansahen.
Realgar durchwanderte ohne Zögern die finsteren Tunnel unter den Ackerhöhlen. Er trug keine Fackel, mußte sich aber auch nicht seinen Weg ertasten. Er war ein Theiwar, darum machte ihm die Dunkelheit nichts aus, im Gegenteil, er liebte sie. Hier, in der absoluten Schwärze der Tunnel, führte ihn seine hervorragende Nachtsicht. Die riesig erweiterten Pupillen verdeckten die braunen Ränder seiner Iris. Ein schwacher, roter Schein in der Farbe des Steins, nach dem Realgar benannt war, glühte stetig in den Tiefen seiner Augen. Jeder, der in diese Augen sah, mußte an Flammen denken.
Obwohl er es den ganzen Tag versucht hatte, hatte Hornfell den Rat der Lehnsherren noch nicht für sich gewinnen können. Aber er war nahe dran. Es ist ein intrigantes Spiel, dachte Realgar verächtlich, an die heilige Tradition zwergischer Gastfreundschaft zu erinnern. Es war ein Spiel, das aufgehen konnte. Wenige der Ratsmitglieder, wenn überhaupt einer, wollten den achthundert Obdachlosen eine Zuflucht gewähren. Aber keiner würde es gern sehen, wenn sein Recht dazu in Frage gestellt wurde.
Während er tiefer in das Herz des Berges unter Thorbardin eindrang, wurden Realgars Gedanken so finster wie die lichtlosen Gänge.
Er war ein überzeugender Redner, dieser Hylar, der auf die Regentschaft aus war. Wenn er genug Zeit hatte, würde er Gneiss vielleicht überzeugen, mit den anderen Schwachköpfen zu stimmen, um dann die Tore von Thorbardin für die abgerissenen Menschenmassen zu öffnen, die vor einem Krieg flohen, den sie selbst verursacht hatten.
Realgars Fäuste ballten sich zusammen. Mitten in Ranzes giftigem, wütendem Ausbruch hatte der Theiwar die Berührung des Grauen Herolds gespürt. Er hatte gesehen, wie der Graue Herold an einer dreckigen Stallwand in einer regennassen Gasse von Langenberg stand.
Sie hatten den Waldläufer gefunden. Aber nicht das Schwert.
Ranzes Zorn war der Wutanfall eines Kindes im Vergleich zu dem, was Realgar in diesem Moment empfand. Keiner wußte es, keiner sah es. Nicht einmal Gneiss, der ihn so durchdringend anstarrte. Nur der Graue Herold hatte seinen Fluch gehört.
Zuerst hatte er den Waldläufer verfolgt. Als sie dann die Falle für ihn aufbauten, hatte er es noch gehabt. Jetzt war es verschwunden.
Realgar fauchte. Dieser andere Waldläufer, der Elf, mußte es haben!
Oder – wer sonst? Kyan Rotaxt war tot. Hornfells verhätschelter Zauberer und dieser verrückte Schüler von Isarn waren immer noch in der Nähe der Stadt, aber sie wußten noch nichts von Hauk und Sturmklinge. Sie hatten genug damit zu tun, Brek und seinen Wachen aus dem Weg zu gehen. Der Mensch mußte festgenommen und der Elf beschattet werden.
»Bringt mir den Waldläufer«, hatte er Agus mitgeteilt, während er Gneiss anlächelte. »Innerhalb einer Stunde werde ich wissen, wer das Schwert hat.«
Im selben Moment hatte der Graue Herold seine Hände auf den Kopf des jungen Mannes gelegt und die Worte eines Transportzaubers gesprochen. Jetzt warteten Ruel und Agus mit dem Waldläufer Hauk in den Tiefen von Thorbardin.
Der Tunnel wurde breiter. Seine feuchten Wände wichen zurück und schwangen sich zu einer plötzlich hohen Decke empor. Realgar fletschte die Zähne zu einem tödlichen Lächeln, als er eine weite, annähernd runde Höhle betrat. Der Ort war genauso dunkel, wie der Tunnel gewesen war, seine Wände ebenso rauh und naß. Realgar baute sich vor dem Körper des bewußtlosen Waldläufers auf.
Hauk regte sich. Der Theiwar lächelte und vertrieb die beiden Wachen mit einer nachlässigen Handbewegung.