10

Lavim kehrte erst zu seinen Gefährten zurück, als die feuchte, graue Dämmerung den Himmel erhellte. Vor Kälte zitternd seufzte der Kender und wünschte sich, er hätte in Langenberg etwas Zwergenschnaps aufgetrieben. Die Flasche baumelte leer an seiner Hüfte. ›Weiße Katastrophe‹ nannten manche das kräftige Zwergengebräu. Lavim hatte das Zeug immer als das Zweitbeste nach einem warmen Ofen bezeichnet. Manchmal sogar besser, dachte er, während er die Hände in die tiefen Taschen seines aus der Form geratenen alten Mantels schob, um sich gegen das eisige Nieseln zu schützen. Er hatte keine Geister gefunden, keine Schreckgespenster und keine Phantome – ob mit oder ohne Kopf. Für einen Wald, über den ängstliche Gerüchte umgingen, war Qualinesti ein unglaublich langweiliger Ort. Das Lager versprach dagegen mehr Abwechslung.

Über das Feuer hinweg starrte Tyorl Stanach finster an. Kelidas grüne Augen hatten einen grimmigen Ausdruck, ihr Kiefer wirkte störrisch. Sie sah keinen von beiden an.

Etwas hat sie aufgebracht, dachte Lavim. Der Kender ließ sich neben das Feuer plumpsen, wobei er auf seine vor Kälte steifen Knien achtete. Er hielt die Hände so nah wie möglich an die Flammen und blinzelte Stanach an: »Was ist los?«

»Sturheit«, knurrte Stanach. »Einfältige, verdammte Elfensturheit.« Er warf ein Stück Rinde ins Feuer und sah Tyorl mit seinen schwarzen Augen fest und spöttisch an. »Sag schon, Elf, willst du darauf setzen, daß dein Freund Hauk nicht Realgars Gefangener ist? Willst du ihn für sein Schwert im Stich lassen? Ah, genau, ich schätze, du könntest gut von dem leben, was du beim Verkauf verdienen würdest.«

Tyorl starrte den Zwerg eisig an. »Ich sage dir, was ich nicht tun werde. Ich werde dir nicht wegen einer hübschen Geschichte Hauks Schwert ausliefern. Wo das Schwert hingeht, geh’ ich auch hin.«

Lavim spitzte die Ohren. »Wo gehen wir hin?«

Keiner antwortete.

»Na schön«, sagte Stanach zu Tyorl. »Dann komm mit. Ich denke, daß du mir glaubst, Elf. Wenn nicht, dann wird Pfeifer meine Geschichte bestätigen können.« Stanach lachte bitter. »Ich nehme an, du wirst einsehen, daß er sich nicht ohne Abmachung dieselben Lügen ausdenken kann – falls ich lüge. Also, komm mit. Frag ihn, bevor ich etwas sagen kann. Aber wenn du mitkommst, dann entscheide dich lieber schnell. Pfeifer wird nicht mehr lange warten, er wird mich für tot halten. Dann kann ich nach Thorbardin laufen«, lachte Stanach grimmig. »Und du wahrscheinlich auch.«

»Wer ist Pfeifer?« Lavim zog die Stirn kraus. »Warum soll er dich für tot halten? Wir gehen nach Thorbardin? Da war ich noch nie, Stanach. Ich kann mir auch keinen besseren Ort vorstellen, wo es richtig guten Zwergenschnaps gibt.« Er schaute den Elf an. »Kommt Kelida auch mit?«

»Nein«, sagte Tyorl.

Kelida, die bis jetzt geschwiegen hatte, sah auf und sagte ruhig: »O doch!«

Tyorl wollte Einspruch einlegen. Kelida kam ihm zuvor.

»Ich gehe mit dem Schwert. Ich kann nicht mehr nach Langenberg zurück. Ich würde den Weg nicht finden und – « Sie hielt inne. Ihre Augen glänzten hell und wild. »Und – und das Schwert gehört mir. Das hast du selbst gesagt. Wenn Hauk noch lebt, dann ist er – ist das, was er durchmacht, zu meinem Schutz. Du fandest es praktisch, zu sagen, daß das Schwert mir gehört, als du dachtest, er würde vielleicht zurückkommen. Als du dachtest, ich könnte ihm sagen, wohin du gegangen bist. Da war es mein Schwert. Nun, das ist es immer noch, und offensichtlich bin ich die einzige, die das Recht hat, zu bestimmen, wo das Schwert hinkommt.«

»Hauk?« Lavim sah von einem zu anderen. Er hätte im Lager bleiben sollen, stellte er fest. Diese Nacht hatte er eindeutig etwas verpaßt. »Was für ein Schwert?« Seine Augen weiteten sich, als er Sturmklinge über Kelidas Knien liegen sah. »Oh, redet ihr über das Schwert?«

Stanach legte dem Kender seine vernarbte Hand auf die Schulter. »Immer langsam, Alter, spar dir deine Fragen für später.« Er nickte Kelida zu. »Kommst du mit?«

»Ja, das will ich.«

»O ja«, fauchte Tyorl. »Weißt du, auf was du dich da einläßt?«

»Es kann kaum schlimmer werden als das, was ich schon durchgemacht habe.«

Tyorl wußte keine Antwort. Es war auch egal. Sein Instinkt hatte ihn gestern abend gewarnt, nichts von Finn zu sagen. Jetzt war er froh darüber. Finns Waldläufer warteten jenseits von Qualinesti. Tyorl rechnete fest damit, daß Finn ihre Spur aufnehmen und sie finden würde, bevor Stanach Pfeifer, den Magier, fand. Er würde die ganze Sache dem Anführer der Waldläufer unterbreiten: die Geschichte des Schwertes und die Nachricht, daß Verminaard eine Versorgungseinheit in die Ausläufer des Kharolisgebirges verlegte. Finn würde entscheiden, was zu tun war.

»Also gut, Kelida«, sagte er. »Aber du brauchst warme Kleider.« Er hielt eine Hand hoch, um Stanachs Protest zuvorzukommen. »Ich weiß einen Ort, wo wir etwas für sie stehlen können. Es liegt auf dem Weg.«

Stanach warf ein weiteres Stück Rinde ins Feuer. »Wo?«

»Wo?« echote Lavim immer verwirrter.

»In Qualinost.«Die Sonne brach hinter den tiefhängenden, schieferfarbenen Wolken hervor, und ihre warmen, liebevollen Lichtsäulen reichten bis zur Stadt hinunter. Vier schlanke, spitz zulaufende Türme aus reinweißem Stein erhoben sich genau an den Ecken der Stadt: im Norden, im Süden, im Osten und im Westen. Leuchtende Silberadern durchzogen den schneeweißen Stein der Türme wie Marmor. Hoch über der Stadt entsprang aus dem Nordturm ein scheinbar zarter Bogen und verband diesen mit dem Südturm. Bei den anderen Türmen war es genauso, so daß die Stadt eingebunden war.

Genau im Zentrum der Elfenstadt ragte der elegante Sonnenturm empor, dessen Licht lebendiger wirkte als das der Sonne selbst. Der mit leuchtendem Gold überzogene Turm hatte seit unzähligen Jahren die Stimme der Sonnen beherbergt. Wie ganz Qualinost stand er jetzt leer, nachdem die Stimme ihr Volk und ihre Kinder ins Exil geführt hatte.

Die Elfenstadt Qualinost war nach Elfenentwürfen von Zwergen erbaut worden, zu einer Zeit, wo das Miteinander der beiden Rassen nicht von der heutigen Feindseligkeit bestimmt worden war. Zwischen Trauer und Freude hin- und hergerissen, betrat Tyorl die Stadt, in der er geboren war.

Freude, dachte er, weil ich nie gedacht hätte, daß ich dich wiedersehen würde. Trauer, daß ich dich als die leere, hohläugige Leiche eines einst wundersamen Ortes antreffe, der jetzt nur noch eine kalte Pracht hat.

Der scharfe Wind des Spätherbstes stöhnte durch die verlassene Stadt, schluchzte um die Ecken von Gebäuden, die einst voller Leben gewesen waren. Er raschelte durch die letzten goldenen Blätter von zahllosen Pappeln, die die Straßen säumten. Einst war dieses Geräusch ein ansteckendes Gelächter gewesen, jetzt war es ein müdes, schwaches Klagelied.

Hinter dem Wald hörte Tyorl Stimmen aus seiner Erinnerung. Das leise Lachen seines Vaters, das Lied der Schwester. Wo waren sie jetzt?

Ins Exil geflohen mit dem Rest des Volkes. Tyorl fragte sich, ob er sie je wiedersehen würde. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen und Fragen loszuwerden.

Die Häuser und Geschäfte und alle Gebäude von Qualinost bestanden aus Quarz in der Farbe der Morgendämmerung. Auch sie waren jetzt leer, ihre Fenster dunkel, die Eingänge voller Schatten und Echos von Erinnerungen, die nur Tyorl wahrnahm. Breite Streifen aus schimmerndem, zersprungenem Stein markierten die Straßen und Alleen von Qualinost. Entlang dieser glitzernden Pfade waren überall schwarze Feuerstellen und graue Aschehaufen, die die Straßen von Qualinost wie schmutzige Daumenabdrücke befleckten.

Kelida, die sich zitternd und schweigend neben Stanach hielt, lehnte an dem dicken, grauen Stamm einer Pappel. Die Stadt war nicht verwüstet worden, war nur leer, doch sie fühlte dieselbe Verzweiflung, die sie empfunden hatte, als sie auf das schwarze Holzskelett ihres eigenen Hauses geschaut hatte.

Stanach konnte Tyorls Trauer verstehen: Auch für ihn stellte das Heim in den Bergen den größten Reichtum seines Lebens dar. Er sah von Tyorl zu Kelida – der eine heimatlos, die andere clanlos – und erschauerte.

Es war Lavim, der schließlich das Schweigen brach. Nichts in seiner tiefen, unbeschwerten Stimme verriet, ob er die Trauer des Elfen oder das Mitleid des Zwergs spürte. Er tauchte neben Tyorl auf und zeigte auf den nächsten Aschehaufen.

»Tyorl, was ist das? Es sieht aus wie Reste von Lagerfeuern, aber dazu sind es viel zu viele.«

Tyorl sah auf den Kender herunter. »Das waren keine Lagerfeuer, Kenderchen. Ich war nicht dabei, aber man erzählte mir, daß die Leute das meiste verbrannt haben, was sie nicht ins Exil mitnehmen konnten. Es sind Reste von Bestattungsfeuern, und was da bestattet wurde, war unsere Art zu leben.«

Lavim steckte seine blaugefrorenen Hände unter die Arme. »Was für eine Schande. Wenn du mich fragst, Tyorl, ist Verbrennen das Schlimmste. Was es auch war, ich hätte es versteckt oder in meinen Beuteln mitgenommen oder an einen Gnomenhändler verkauft. Verbrennen ist so eine Verschwendung. Jetzt muß man noch mal von vorne anfangen.«

»Es wäre nie wieder dasselbe. Es hat sich verändert.« Er hätte auch sagen können: ›Es ist vorbei‹ oder ›Es ist tot‹.

Stanach schüttelte den Kopf. »Alles Lebende verändert sich«, sagte er leise, »anscheinend sogar Elfen.«

Tyorls blaue Augen, die eben noch vor Traurigkeit weich gewesen waren, wurden nun von einem eisigen und harten Schimmer überzogen. »Nein, Zwerg. Wir haben uns seit vielen Jahrhunderten nicht verändert. Die einzige Veränderung, die Elfen kennen, ist der Tod.«

Stanach schnaubte ungeduldig. Jetzt tat ihm sein zaghafter Versuch, Trost zu spenden, fast leid. »Dann bist du schon tot, Tyorl, und verschwendest gute Luft, die andere atmen könnten. Deine Stadt, deine Art zu leben hat sich verändert. Vielleicht sollten wir dich nicht für einen Elfen, sondern für einen Geist halten, was?«

Tyorl holte Luft, um zu antworten, drehte sich dann aber zu der stillen Stadt um. »Vielleicht.«

Lavim sah zu, wie Tyorl Kelida wegführte. Seine Augen verengten sich, und er zwirbelte abwesend das Ende seines dicken, weißen Zopfes um einen Finger. »Stanach«, sagte er, »wenn die Elfen alles verbrannt haben, bevor sie gegangen sind, wie will Tyorl dann etwas zum Anziehen für Kelida finden?«

Stanach zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Seit wir hier angekommen sind, ist dieser verdammte Elf mehr Gespenst als alles andere. Vielleicht kann er etwas für sie heraufbeschwören.« Stanach begab sich auf den Weg die Straße hinunter. »Los jetzt, Lavim. Je schneller wir hier rauskommen, desto besser.«

Lavim gesellte sich zu dem Zwerg. Er wußte immer noch nicht einmal die Hälfte von dem, was hier vor sich ging. Kelidas Schwert, irgendein vermißter Waldläufer und ein paar zwergische Lehnsherren spielten eine Rolle dabei. Und wer war Pfeifer?


Ein kleiner Hirsch aus Holz, den die Kunst des Schnitzers im anmutigen Sprung gebannt hatte, lag in einem verhedderten Wirrwarr aus Silberketten und goldenen Ohrringen gefangen. Stanach griff nach dem Eichenhirsch und befreite ihn so vorsichtig, als wenn er lebendig wäre. Er drehte ihn selbstvergessen um und lächelte dann. In den Bauch des Hirsches war mit tiefen Schnitten ein stilisierter Amboß eingeritzt, der von einer Zwergenrune, einem F, zerteilt wurde. Eine Zwergenarbeit.

Stanach legte den Hirsch sorgsam beiseite und sah sich um. Das Zimmer war eine einzige Rumpelkammer.

Kunstvoll geknüpfte Wandbehänge, gewebte Teppiche und weiche Kissen, deren Muster aus hellen Seidenfäden gestickt waren, lagen achtlos im Raum verteilt, als hätte man sie in verzweifelter Hast hingeworfen. Ein großer, eleganter Kleiderschrank, der mit einer zarten, stilisierten Jagdszene bemalt war, lag da, wo er während eiliger Vorbereitungen fürs Exil umgefallen war.

Lavim stolperte in den Raum. Seine Arme waren mit einem Stapel Kleider beladen, die nicht zueinander paßten. »An die Arbeit, Stanach. Tyorl hat gesagt, wir sollen die für Kelida durchgucken.«

»Gut, und wo ist sie?«

»Wäscht sich. Sie hat darauf bestanden, und Tyorl wollte sich nicht streiten. Sagt, dann hätte er ein bißchen Zeit, nach Vorräten zu suchen.« Lavim schmiß die Kleider auf den Boden und ließ sich darauf fallen. Glücklich wühlte er sich durch Mäntel und Jagdkleider, Stiefel und Blusen. »Ich nehme an, sie haben nicht alles verbrannt, bevor sie weggingen. Weißt du, Stanach, die Stadt muß richtig schön gewesen sein. Zu schade, daß die Elfen gegangen sind. Ich an ihrer Stelle, ich hätte mich von den Drakoniern rauszerren lassen, bevor ich freiwillig einen solchen Ort verlassen hätte.«

Angst lag in der Luft. Sie klebte an den schönen Häusern und lauerte in der Dunkelheit der Apfelgärten und Birnenhaine. Angst und Trauer schritten durch die Straßen und lachten düster über jede sterbende Pappel.

Stanach schüttelte den Kopf. Angst war etwas, was ein Kender nicht verstand, und es war sinnlose Zeitverschwendung, es ihm erklären zu wollen.

Der Zwerg ging durch den Raum und setzte sich im Schneidersitz auf den eiskalten Marmorboden. Während er seine Ungeduld bezähmte, dieses traurige Zimmer, dieses traurige Haus und diese ganze aufgegebene Stadt hinter sich zu lassen, sortierte er die Kleider, bevor Lavim sich die Hälfte davon in seine Beutel stopfte. Die Taschen und Beutel des Kenders beulten sich jetzt schon aus. Sein Bauch sah viel zu dick aus für jemanden, der Stanachs Wissen nach spindeldürr war. Wenn die Durchsuchung der verlassenen Häuser und Geschäfte von Qualinost für Tyorl schmerzhaft und für Kelida und Stanach unangenehm gewesen war, so hatte sie Lavim den Traum aller Kender erfüllt.

Stanach rettete einen dicken Mantel vor Lavims Neugier. Er hatte die Farbe von Kiefernnadeln und war mit grauem Kaninchenpelz gefüttert. Der Mantel war für jemanden von Kelidas Statur angefertigt worden. Als nächstes fand er ein Paar Hirschlederstiefel mit festen Sohlen. Die Stiefel waren schwerer, als sie aussahen. Er spähte in einen hinein und bohrte eine Ecke an. Das weiche, geschmeidige Leder war doppelt genäht und dazwischen mit Gänsedaunen gefüttert.

»Die sehen aus, als ob sie ihr passen könnten.«

Lavim hob erst den einen Stiefel, dann den anderen an. »Nicht schlecht, Stanach. Kelida wird es wärmer haben als wir alle.«

»Dafür hat sie bisher am meisten gefroren. Es wird Zeit, daß sich ihr Glück wendet. Warum bringst du ihr das nicht hin und schaust dann mal nach, ob du Tyorl finden und ihm Beine machen kannst. Und, Lavim – «

Mantel und Stiefel in den Armen, drehte sich der Kender um. »Ja?«

»Klopf an, bevor du reingehst, leer deine Beutel aus, bevor du Tyorl suchst, und steck unterwegs nichts mehr ein.«

Lavims runzliges Gesicht war die Unschuld selbst.

Stanachs Miene war eisern. »Und spinn dir gar nicht erst eine deiner Geschichten zurecht, wie du an das Zeug gekommen bist – laß es einfach hier.«

»Aber, Stanach – «

»Ich meine es ernst, Lavim. Dieser verdammte Geist von einem Elf ist schon gereizt genug. So wie er aussieht, möchte man meinen, daß er die besten Kleider seiner Mutter weggibt.«

»Vielleicht tut er das«, sagte Lavim nachdenklich. Seine Augen wirkten zwischen den Runzeln unaussprechlich weise. »Nun, vielleicht keine Kleider, weil Kelida wohl Hosen tragen wird und kein Kleid, aber vielleicht kannte Tyorl die Person, der dieses Zeug gehört hat.«

Vielleicht, dachte Stanach. Er dachte nicht weiter darüber nach und bedauerte auch seine säuerliche Bemerkung nicht. Es war ein guter Schild gegen die stille Trauer, die wie alter Staub über dem Zimmer lag.

»Geh jetzt, Lavim.«

Als Stanach allein war, fegte er die Kleider zu einem Haufen an der Wand zusammen und saß mit hochgezogenen Knien da, um trübselig auf die Rückkehr seiner Gefährten zu warten.

Er hatte seinen Teil getan. Es war nicht schwierig gewesen, Kelida und Tyorl glauben zu machen, daß Hauk noch am Leben sein konnte. Kelida hatte sogar selbst die ausschlaggebende Verknüpfung hergestellt: Wenn Hauk lebte, dann würde er alles tun, um sie zu schützen.

Auf dem Marsch durch den Wald hatte Kelida dem Zwerg die Geschichte erzählt, wie Hauk ihr das Schwert geschenkt hatte. Selbst als sie ihre Angst vor Hauk in dem Lagerraum beschrieb, verriet ihre Stimme ihm, daß seine Entschuldigung sie bewegt hatte.

Stanach war sich jetzt sicher, daß das Mädchen sich widersetzen würde, wenn Tyorl es unklug fand, Sturmklinge zu Pfeifer zu bringen. Kelida war davon überzeugt, daß der halbbetrunkene Waldläufer, der ihr das Schwert geschenkt hatte, sie jetzt wie Paladin vor dem Derro-Zauberer beschützte, der ohne Zweifel für Sturmklinge töten würde.

Vielleicht hatte Hauk sie beschützt – solange er lebte. Inzwischen war er jedoch sicher tot.

Stanach schloß die Augen.

Wenn Stanach Pfeifer fand, würde Sturmklinge durch Magie nach Thorbardin und in Hornfells Hand zurückkehren, bevor Kelida und Tyorl überhaupt merken konnten, daß es fort war. Stanach mußte nur die Hoffnung des Mädchens wachhalten und ihre Träume noch ein bißchen nähren. Und was wog schon der einfältige Traum einer kleinen Kellnerin dagegen, in Thorbardin wieder einen Herrscher – Hornfell – zu haben?

Nichts wog er, sagte sich Stanach. Gar nichts.

Eine leichte Hand mit dünnen Fingern berührte seine Schulter. Als Stanach hochsah, stand Kelida vor ihm.

»Stanach? Geht es dir gut?«

Es war ihr irgendwie gelungen, sich zu waschen. In den geborgten Kleidern, einem Jagdkostüm aus rindengrauer Wolle und weichen Hirschlederschuhen und mit dem grünen Mantel um die Schultern, sah sie aus wie ein Waldgeist. Sturmklinge hatte sie um ihre Taille gegürtet.

Stanach rappelte sich hoch. »Doch, gut.«

»Ich dachte, ich hätte gehört – «

»Es geht mir gut«, schnappte er. Er wies mit dem Kinn auf das Königsschwert. »Bestehst du immer noch darauf, es zu tragen?«

Feuer blitzte aus Kelidas Augen. »Ich habe es immerhin bis hierher getragen.«

»Genau, und du bist bei jedem zweiten Schritt darüber gestolpert. Hier ist nicht Langenberg. Wenn du ein Schwert trägst, glauben die Leute natürlich, daß du es benutzen kannst. Das solltest du lieber lernen, sonst bist du tot, bevor du es ziehen kannst. Laß es mich tragen. Oder wenn dir das nicht gefällt, dann gib es deinem Freund, dem Elf.«

Kelida schüttelte den Kopf. »Vorläufig gehört das Schwert mir.«

Stanach seufzte. »Das Schwert wird dich noch umbringen, wenn du nicht wenigstens lernst, wie man es trägt.« Er zeigte mit dem Daumen auf die Scheide. »Schnall das tiefer und laß deine Hüfte das Gewicht tragen.«

Kelida verschob den Gurt. Der Druck von Sturmklinges Gewicht auf ihrer Hüfte fühlte sich komisch an, aber nicht so lästig. Sie sah Stanach an und lächelte. »Und jetzt?«

»Jetzt suchst du dir einen Dolch. Du wirst dich mit dem Schwert nicht verteidigen können.«

Plötzlich war er grundlos wütend auf Kelida und aus allen möglichen Gründen auf sich selbst – und hinter den Mauern seiner Zwiespältigkeit war er einsam. Stanach drehte sich weg und ging zum Fenster. Er blickte in einen Hof hinunter. Das war besser, als den Schmerz in Kelidas Augen zu sehen.

Pappelblätter raschelten und wirbelten wie brüchige, goldene Münzen mit dem feuchten Wind davon. Ihr trockenes Rascheln war das einzige Geräusch, das in dieser traurigen, verlassenen Stadt zu hören war. Überall durch das stille Qualinost wanderten Geister. Geister und Erinnerungen.

Und das Flüstern seines Gewissens.


Dreißig Fuß lang, der Kopf so dick und lang wie ein großes Pferd, die kräftigen Beine länger als zwei große Menschen, hätte der schwarze Drache ein riesiges Stück Nacht sein können, als er sich von der Wolkendecke löste und tief über die Grenzen ins östliche Qualinesti flog. Eine Wolkenbank zerstob durch den Wind seiner Flügel. Solinari war längst untergegangen, doch Lunitaris blutrotes Licht spiegelte sich in den metallischen Schuppen seiner Haut, sprang in glühendroten Spitzen von seinen Klauen und den messerscharfen Zähnen und verwandelte seine normalerweise frostbleichen, schmalen, langen Augen in Feuer. Sevrist war sein geheimer und heiliger Name in der Drachensprache. Er ließ sich Nachtschwarz nennen.

Der Drache fing den Wind unter seinen Flügeln ein und glitt zu den steinigen, kiefernbewachsenen Bergkämmen, die die Grenze zwischen Qualinesti und den Zwergenbergen bildeten. Als Lichthasser war seine Sicht ausgezeichnet, wenn die Sonne im Westen untergegangen war. Obwohl er das kalte Licht der Monde nicht fürchtete, sah er besser, wenn sie – wie heute nacht – hinter dicken, schwarzen Wolken verborgen waren.

Der schwarze Drache betrachtete das Land dort unten wie ein Mann, der über einem gut gebauten Kartentisch steht. Während er noch tiefer ging, fegte er über die hohen Wälder östlich vom Kristallsee und hinaus über die niedrigen Hügel an der Grenze zur Ebene von Dergod, die die Zwerge die Ebene der Toten nannten.

Nachtschwarz flog als Lord Verminaards Abgesandter zu Realgar von Thorbardin. Bald würde er den Zwerg als Drachenfürsten anreden müssen, wenn dieser Verminaards Angebot annahm. Er würde zweifellos annehmen. Der Zwerg galt als verschlagen, ehrgeizig, kühn und etwas verrückt. Er hatte die arrogante Seele eines Drachenfürsten. Er wartete jetzt darauf, daß Sevrist aus Pax Tarkas kam. Sevrist würde einem neuen Drachenfürsten dienen.

Jedenfalls eine Zeitlang. Alle Geschenke von Verminaard hatten Haken. Noch während er sich darauf vorbereitete, Realgar als Drachenfürsten willkommen zu heißen, hatte der skrupellose Verminaard Pläne im Hinterkopf, um Versorgungseinheiten und Truppen in die Berge zu verlegen. Mit dieser Macht im Rücken würde er den Theiwar absetzen und das besetzte Thorbardin als seine Ostfestung beanspruchen können. All das und mehr wußte Sevrist.

Der Wind war ein kalter, wilder Gegner, der den schwarzen Drachen davor warnte, gegen seine mutwilligen Strömungen und unsichtbaren Wellen anzugehen. Nachtschwarz strich durch den wolkenverhangenen Himmel, tauchte und stieg wieder auf, bis er durch die dicke, eisige Grenze der Wolken zu den Sternen über dem alten Thorbardin brach.

Alle Geschenke von Verminaard haben Haken, dachte der Drache.

»Laß ihn seine Arbeit machen«, hatte der Drachenfürst gesagt, »und gib ihm alles, was er dazu braucht. Wenn der Rat der Lehnsherren gestürzt ist, laß ihn verschwinden.«

Nur aus Spaß an der Freude warf Nachtschwarz einen Angst- und Dunkelheitsspruch. Heute würde er sich in der dunklen, geheimen Geborgenheit seiner Höhle in den Tavernen unter den Städten von Thorbardin mit dem Gedanken an kleine Sumpfwesen in Schlaf lullen, die an Herzstillstand und einem unbegreiflichen Entsetzen gestorben waren.

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