Die Vormittagssonne schien dünn und hell, bot aber wenig Wärme. Ihr Licht strahlte zwischen den Kronen der höchsten Bäume hindurch und wurde wie schimmernde Silberpfeile von den letzten zitternden roten und braunen Blattern des Buschwerks zurückgeworfen. Ein kalter Wind trug den schweren Geruch feuchter Erde und modernder Blätter durch den Wald. Der Pfad, der kaum mehr als ein Wildpfad war, war für Kelida oft unsichtbar. Tyorl folgte ihm offensichtlich mehr instinktiv. Der Elf führte sie den engen, überschatteten Pfad entlang, dann kam Stanach, hinter ihm Kelida. Lavim war der letzte, und auch das nur gelegentlich. Wie ein alter Hund auf fremdem Gelände durchstöberte der Kender beiderseits des Pfades den Wald. Ob Dickicht, Hang, Bach oder Felsvorsprung – nichts, was irgendwie interessant aussah, blieb unbeachtet. Obwohl Lavim längst den Versuch aufgegeben hatte, seine Gefährten auf diese faszinierenden Entdeckungen aufmerksam zu machen, kommentierte er sie unablässig mit dieser Stimme, die Kelida immer noch viel zu tief für so einen kleinen Kerl erschien und aus der eindeutig die Begeisterung des Kenders für seine Umgebung und den sonnigen Tag sprach.
»Was für ein Glück, daß wir nicht durch diesen verwünschten Wald müssen, ohne daß es jemand merkt«, grummelte Stanach.
Kelida lächelte. Erst kurz zuvor hatte Tyorl eine ähnliche Bemerkung gemacht. Sie selbst hatte ihren Spaß an der Freude des Kenders. Seine aufgeregten Schreie durchzogen die sonst so stille Reise, bei der die Unterhaltung Tyorls Sache gewesen wäre, wie etwa ein Wanderlied ohne Melodie und Reim. Von Stanach war nichts als verdrießliches Schweigen zu erwarten.
Während ihre Augen an Stanachs breitem Rücken hingen, den das umgehängte Schwert in zwei Teile teilte, dachte Kelida über seinen mürrischen Vorschlag nach, daß sie lernen sollte, ihren neuen schlanken Dolch zu benutzen.
Als er ihr in der traurigen, verlassenen Kammer in Qualinost diese Warnung zugetragen hatte, war Kelida zuerst verärgert, dann verletzt gewesen. Danach hatte sie sich einen Dolch gesucht. Hauks Schwert hatte sie trotzdem nicht Stanach oder Tyorl übergeben. Seit sie den Waffengurt richtig angelegt hatte, ruhte Sturmklinge besser auf ihrer Hüfte und ihrem Bein. Doch immer noch zog es schwer, und durch den Druck des Gürtels scheuerte die geliehene Jagdkleidung auf ihrer Haut.
Sie hatte sich das bescheidene Ziel gesetzt, den Umgang mit dem Dolch zu lernen, den Lavim für sie gefunden hatte, bevor sie Qualinesti verließen. Stanach hatte zwar vorgeschlagen, daß sie sich ein Messer besorgen sollte, hatte jedoch nicht angeboten, sie in dessen Gebrauch zu unterweisen. Aus Stanachs Worten beim morgendlichen Lagerfeuer schloß sie, daß sie bald bei dem Platz sein würden, wo er seinen Freund Pfeifer treffen wollte. Dann war Thorbardin nur noch einen knappen Atemzug und einen Transportzauber entfernt.
Tyorl hatte bei dieser Mitteilung nachdenklich ausgesehen und nichts dazu gesagt. Weil ihr der Blick in seinen Augen einfiel, fragte sich Kelida jetzt, ob der Elf Stanachs Geschichte anzweifelte. Welchen Teil wohl, überlegte sie, den Teil mit dem Schwert oder den Teil mit dem Zauberer?
Kelida schüttelte den Kopf und stieg über einen umgeknickten Schößling auf dem Weg. Stanach, der etwas weiter vorne war, sah sich um, wobei seine schwarzen Augen wie gewöhnlich zu Sturmklinges reich dekoriertem Heft glitten.
Nein, dachte sie, die Geschichte ist wahr. Es lag ein Glanz in seinen Augen, wenn er Sturmklinge ansah, und das war nicht der kalte Glanz der Habgier. Er sah das Schwert so an, wie jemand Kelidas Vorstellung nach eine heilige Reliquie betrachten würde.
Was Tyorl auch glaubte, Kelida wußte, daß Stanach sich die Geschichte nicht ausgedacht hatte, damit er leichter ein wertvolles Schwert stehlen konnte. Er nannte es Königsschwert, Sturmklinge, Meisterschwert. Er sprach von Regenten und Legenden, die wahr wurden. Hinter seinen Worten, hinter der Geschichte sah Kelida Hauk, irgendwie scheuer und sanfter, als er äußerlich wirkte, Hauk, der sie mit seinem Schweigen vor dem Zorn eines grausamen Derro-Zauberers bewahrte, der sie für Sturmklinge töten würde.
Seit dem ersten Abend in Qualinesti hatte Kelida den Zwerg gemocht. Sie erinnerte sich an das Gespräch am heruntergebrannten Lagerfeuer. Als sie versucht hatte, ihm von der Zerstörung ihres Zuhauses und dem Tod ihrer Eltern und ihres Bruders zu erzählen, hatte er sanft geflüstert: »Schsch, Mädchen, schsch.«
Sie war jetzt so in Gedanken, daß sie das Gewirr dicker, grauer Wurzeln übersah, das sich über den Pfad wand. Sie blieb mit dem Fuß hängen, schnappte nach Luft und fiel hart auf die Knie. Weiter vorne blieb Tyorl stehen und drehte sich um, doch es war Stanach, der zu ihr kam. Er faßte sie an den Ellbogen und stellte sie wieder auf die Beine.
»Hast du dich verletzt?«
Kelida schüttelte den Kopf. »Nein, es geht mir gut. Tut mir leid.« Sie entschuldigte sich, bevor sie überhaupt überlegt hatte, ob das nötig war.
»Es täte dir mehr leid, wenn du dir einen Knöchel gebrochen hättest.« Stanach dämpfte die Warnung mit einem Lächeln, das in den Tiefen seines schwarzen Barts verschwand. »Unser Beitrag ist es, auf den Boden zu gucken, Kelida. Tyorl beobachtet den Wald.«
Kelida sah ihm nach, als er sich umdrehte und seinen Weg fortsetzte. Lavim schloß hinter ihr auf, leise wie eine Katze, die um eine Ecke biegt.
»Bist du okay?« Überrascht fuhr Kelida zusammen. »Lavim! Wo kommst du denn her?« Der Kender grinste und deutete mit dem Kopf nach hinten.
»Von hinten vom Pfad. Zwerge – ach, ich weiß nicht. Komische Vögel. Brauen aber ein gutes Gesöff. Was mich angeht, wenn ich soviel Zwergenschnaps hätte, wie ich trinken kann, dann wäre ich der glücklichste Kender aller Zeiten. Schwerter und Könige, die keine Könige sind – na, da weiß ich nicht so recht. Ich gehe wegen Zwergenschnaps nach Thorbardin. Kannst du dir das vorstellen? So viel Zwergenschnaps, wie du willst, und alles von Leuten gebraut, die ihr Handwerk verstehen! Ich denk mal, ich werd den ganzen Winter nicht mehr frieren!«
Kelida unterdrückte ein Lächeln. Keiner hatte den Kender gebeten mitzukommen, aber es schien ihn auch keiner wegjagen zu wollen.
»Stanach hat aber recht, du solltest auf den Boden achten. Es kommt mir nicht so vor, als wenn du das Laufen im Wald gewohnt bist, stimmt’s?«
»Nein, bin ich nicht. Ich komm aber zurecht.« Die Augen auf den schmalen Pfad gerichtet, ging Kelida weiter. Sie mußte sich sputen, um Stanach und Tyorl einzuholen. Lavim lief neben ihr her.
»Ich sehe nur zum Himmel, wenn ich schlafe«, sagte er. »Oder wenn ein Drache vorbeikommt. Das ist mein Geheimnis.«
»Guter Tip«, murmelte sie.
Der Kender zuckte mit den Schultern, duckte sich zur Seite weg, um sicherzugehen, daß nichts Interessantes hinter einer dicken Eiche verborgen war, und schloß sich ihr wieder an. »Dieser Stanach ist ein launischer Kerl. Ist dir das auch aufgefallen?«
»Ja.«
»Er war mal ein Schwertschmied, wußtest du das? Du solltest mal einen Blick auf seine Hände werfen. Sie haben lauter kleine Brandnarben. Das kommt vom Feuer der Esse.«
Lavim erwärmte sich angesichts seiner dankbaren Zuhörerin und grinste, weil ihm Givrak in der Taverne und die Drakonierpatrouillen im Lagerhaus einfielen. »Der Stanach ist ganz nett, wenn er nicht seine Launen hat, aber er hat dieses dumme Talent dafür, andere zu ärgern. Er könnte wirklich eines Tages in Schwierigkeiten geraten, wenn er nicht aufpaßt.« Lavims Augen strahlten plötzlich Weisheit aus, oder zumindest kam es ihr so vor. »Dieser Zauberer, Pfeifer – ich nehme an, daß es eine gute Sache ist, wenn Stanach den endlich trifft. Jemand muß ihn vor Schwierigkeiten bewahren. Ich schätze, das ist es, was dieser Pfeifer macht. Weißt du, sozusagen ein Auge auf ihn haben.«
Kelida erinnerte sich an die vier Drakonier, die sie bei ihrer Flucht aus Langenberg verfolgt hatten. »Warum waren die Drakonier so wütend auf ihn?«
»Oh, das weiß man nie bei diesen Drakoniern. Die sind nicht wie wir, weißt du. Die sind von Natur aus gemein. Stanach hat ein paar von ihnen vor einem alten, ausgebrannten Lagerhaus geärgert.« Lavim hielt inne, sah sie nachdenklich an und zuckte dann mit den Schultern. »Vielleicht hat es etwas mit den vieren zu tun, die mich gejagt haben, oder mit dem, der aus dem Fenster gefallen ist… ich weiß nicht. Wie gesagt, bei denen weiß man nie.«
Das Geschnatter des Kenders war wie eine warme Sommerbrise. »Ich sag dir was«, sagte er, wobei er das Mädchen von der Seite ansah, »das einzige, was noch gemeiner ist als ein Drakonier, ist ein Minotaurus – und selbst das ist noch die Frage. Hast du schon mal einen Minotaurus gesehen, Kelida? Die sehen, na ja, irgendwie komisch aus. Riesig groß! Sie haben am ganzen Körper Fell. Keinen Pelz, das nicht, nur ganz kurz. Wie bei einem Stier.« Lavim runzelte die Stirn, dann grinste er. »Und überhaupt keinen Sinn für Humor! Wenn du je einem begegnest, dann denk dran, nicht – hm, tja, anzudeuten, daß seine Mutter eine Kuh sein könnte.«
Kelida riß die Augen auf. »Warum sollte ich das tun?«
»Oh, das wäre ein naheliegender Irrtum.« Lavims grüne Augen zwinkerten. »Sie erinnern einen irgendwie an Kühe oder Stiere. Sie haben richtig dicke Gesichter und Hörner und ein Temperament, das einen automatisch an einen schlecht gelaunten Stier denken läßt. Ich war letztes Jahr am Blutmeer und bin kurz durch Mithas gekommen – « Sein kehliges, fröhliches Lachen brach plötzlich los. »Da habe ich gemerkt, daß ich zwar alt sein mag, aber immer noch rennen kann. Nein, sie mögen es wirklich nicht, wenn man zuviel von Kühen redet. Ich glaube kaum, daß es einen Minotaurus auf der Welt gibt, der einen Witz versteht.«
Kelida trottete lächelnd neben Lavim her und versuchte den verworrenen Fäden einer Geschichte über drei Minotauren, einen Gnom namens Ish und einen Heuballen zu folgen, der aus unerfindlichen Gründen als Abendbrot angeboten wurde.
Als der rote Faden durch Übertreibungen immer mehr ausfranste, begnügte sich Kelida damit, auf den Weg zu achten und so zu tun, als würde sie dem Kender immer noch zuhören. Irgendwann fiel ihr ein, daß Stanach darauf bestanden hatte, daß sie lernen sollte, mit ihrem Dolch umzugehen. Sie griff mit der Hand nach der Scheide an ihrer Hüfte. Sie war leer – der Dolch war fort.
»Lavim!«
Lavim sah sich erst um und blickte dann nach oben. »Was?«
»Mein Dolch – er ist weg!«
»Oh, nimm einen von meinen.« Er zog einen Dolch mit beinernem Griff aus dem Gürtel und hielt ihn ihr hin. »Ich habe ihn hinten auf dem Weg gefunden, aber ich habe schließlich sechs oder sieben. Hier.«
Es war offensichtlich der, den sie vermißte.
Kelida schnappte sich den Dolch und steckte ihn verlegen weg. »Wo hast du ihn denn gefunden?«
Lavim kratzte sich verwundert den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, aber ich wußte, daß er nützlich sein würde.«
Geschickt wich er einem moosbewachsenen Felsvorsprung aus. »Ich habe gehört, daß Stanach dir geraten hat, du solltest lernen, damit umzugehen. Er war ein bißchen komisch dabei, aber er hat schon recht. Ich könnte es dir beibringen.«
»Wirklich?«
»Aber klar, Kelida, mit Vergnügen.« Lavim spähte den Pfad hoch. Stanach und Tyorl warteten. Als er zwinkerte, fand Kelida, daß er aussah wie ein alter Verschwörer. »In meiner Jugend war ich so was wie der Beste von Kenderheim. Hm, also, Zweiter. Sozusagen. Der zweite Platz ist wirklich ganz eindrucksvoll, besonders wenn es mindestens zwei Teilnehmer gibt, oder? Huch! Wir sollten uns lieber beeilen.«
Kelida lächelte. Sie folgte Lavim mit der Hand am Dolchgriff und ermahnte sich, zu überprüfen, was der Kender wohl sonst noch von ihren Sachen gefunden hatte.
Der Felsen wärmte Kelidas Rücken. Hier in der Höhe hatte die Sonne am Morgen und am frühen Nachmittag das feuchte Gras getrocknet und die Felsen aufgeheizt. Die Baumgrenze lag derzeit unter ihnen. Der steinübersäte Hügel erhob sich wie eine kleine Insel aus dem Wald. Wie Kelida erfuhr, als sie Stanach beim Hochklettern befragte, war dieser Hügel noch kein Ausläufer der Berge.
»Nur ein kleiner Buckel«, hatte der Zwerg gesagt, während seine dunklen Augen an den hohen, blauen Gipfeln im Süden hingen. »Die richtigen Vorberge sind weiter östlich.«
Kelida massierte ihre schmerzenden Beine. ›Richtige Vorberge!‹ Als ob das hier eine Wiese wäre! Der Vorsprung, gegen den sie sich lehnte, war so gemütlich wie die Ziegel, mit denen ihre Mutter im Winter ihre kalten Füße gewärmt hatte. Der Schatten einer Wolke zog über den Boden, und Kelida schloß die Augen. Die Erinnerung an ihre Mutter berührte einen wunden Punkt in ihr. Und dieser Punkt schien alle Wärme des Tages aufzusaugen. Hinter ihren Augen sah sie Feuer und Tod und einen Drachen mit langen Schwingen, der vom Himmel herabstieß.
Links von ihr plätscherte etwas weiter unten ein Bach, der von seinem Weg durch die Erde kalt war. Ein Platschen und dann ein ungehaltenes Fauchen, das nur von Stanach stammen konnte, durchdrang Kelidas dunkle Erinnerungen. Sie sah sich um.
Lavim, der losgegangen war, um am Bach die Flaschen zu füllen, sprang den Hang hoch und umrundete die Felsen, die aus der dünnen Erdkruste ragten, mit der sorglosen Sicherheit einer Bergziege. Der Kender ließ sich neben sie fallen.
»Hab ich nicht!« schrie er über die Schulter, wobei seine Augen sich mit einem koboldhaften, grünen Leuchten füllten. Er reichte Kelida die Flasche, entkorkte seine eigene und nahm einen tiefen Schluck. »Stanach ist in den Bach gefallen. So wie er es darstellt, möchte man meinen, ich hätte ihn geschubst!«
»Hast du das?«
»Ich doch nicht! Er ist auf einem moosbewachsenen Felsen ausgerutscht. Guck ihn dir an. Jetzt hat er wenigstens etwas zu schimpfen.«
Kelida warf einen Blick über die Schulter. Stanach, der bis zu den Knien naß war, schritt wie ein rachsüchtiger Jäger den Hang hoch. Er sah Kelida mit Lavim zusammensitzen und wandte sich deshalb Tyorl zu. Kelida sah, wie er sich bei dem Elf auf den Boden setzte. Alle saßen schweigend da, keiner sprach seine Gedanken aus. Als sie wieder zu dem alten Kender blickte, fand sie ihren Dolch abermals in Lavims Besitz.
Lavim grinste und hielt die Hand hoch, wobei er die Dolchspitze auf der Handfläche balancierte. »Schau mal, was ich gefunden habe.«
»Lavim, gib ihn zurück.«
Der Kender zog seine Hand zurück und zuckte mit dem Handgelenk. Jetzt balancierte die Klinge auf der anderen Handfläche. »Ich dachte, du willst, daß ich dir zeige, wie du ihn benutzen kannst.«
»Will ich, aber – «
»Also?«
Kelida lächelte. »Na gut. Aber ich glaube nicht, daß ich dazu Taschenspielertricks lernen muß.«
»Oh, ich weiß nicht. Man könnte dir leicht ein paar ganz einfache Tricks beibringen. Ich bin wirklich ein guter Jongleur. Na ja, ich schätze, es ist unhöflich, das von mir selbst zu behaupten, aber ich bin es, und – « Er zuckte mit den Schultern, als Kelida ungeduldig die Stirn runzelte. »Na schön. Was ist jetzt?«
Der Kender zuckte wieder mit dem Handgelenk, woraufhin er das Heft der Waffe in der Rechten hielt. Dann warf er den Dolch mit einer raschen, leichten Bewegung.
Kelida sah sich um, sah aber nichts mehr von der Waffe. »Wo ist er?«
Lavim zeigte auf ein struppiges, blattloses Gebüsch. »Da, holt Abendessen für uns.« Der Kender erhob sich auf die Beine, trottete über den steinigen Boden und griff in das Gebüsch. Als er sich umdrehte, hielt er ein großes, graues Kaninchen an den Hinterbeinen. Das Tier zuckte noch schwach, dann wurde es still. Der dünne, kleine Dolch hatte es sauber ins Herz getroffen. Lavim kam zurück, warf das Kaninchen hin und setzte sich wieder.
»Dafür muß Tyorl nachher keinen Schuß mehr verschwenden. Ein Dolch ist zum Stechen und zum Werfen, Kelida«, sagte er, jetzt in ernstem Ton. Seine Rolle als Lehrmeister machte ihm sichtlich Spaß. »Das sind so ungefähr die einzigen Sachen, die man mit einem Dolch tun kann. Also außer Fleisch zu schneiden und Schlösser zu knacken vielleicht noch.«
Er musterte sie eingehend, dann nickte er. »Du hast einen guten Wurfarm. Das habe ich schon in der Straße vor Langenberg gesehen. Wenn diese Soldaten keine Rüstung getragen hätten, hättest du sie mit den Steinen erledigt, mit denen du sie beworfen hast. Du hättest natürlich auf ihre Köpfe zielen sollen. Du warst wahrscheinlich zu abgelenkt, um daran zu denken. Hier, nimm den Dolch.«
In der kalten Luft dampfte das Kaninchenblut auf der Klinge. Kelida nahm das Heft zwischen zwei Finger.
»Nein, nein, nicht so. Hier, so.« Lavim legte ihr das Heft in die Handfläche und schloß die Finger um den Griff. »Da, faß es so – was weiß ich, als wenn du ihm die Hand schütteln willst, aber nicht zu fest. Da, schön, dich kennenzulernen.«
Der Griff des Dolchs lag kalt in ihrer Hand. Blut tropfte auf den Saum ihres Mantels. Kelida erschauerte. Sie spürte, wie Übelkeit in ihren Magen kroch.
»Jetzt«, sagte Lavim, »wirf ihn. Wirf ihn über die Schulter, als wenn du einen Stein schmeißt, nur daß ein Dolch leichter ist, so daß du einen höheren Bogen ansetzen mußt. Na los, versuch, den alten Stumpf da drüben zu treffen.«
Die verkohlten Überreste einer vom Blitz getroffenen Esche ragten etwa fünf Schritte nördlich von ihnen aus dem Boden. Kelida schätzte die Entfernung, peilte sie an und warf. Die Klinge zitterte etwas, überwand die Entfernung und fiel zwischen die knorrigen Wurzeln des Stumpfes.
»Gar nicht schlecht. Du bist da, wo du hinwolltest, aber du mußt wirklich deinen Arm dazu nehmen.« Lavim holte den Dolch zurück. »Versuch’s noch mal.«
Sie tat es, und diesmal streifte der Dolch die rauhe Rinde. Beim dritten Versuch traf der Dolch fest auf das Holz und blieb zitternd stecken.
»Da! Jetzt hast du’s!« Lavim holte den Dolch wieder und warf ihn neben seine Schülerin. »So, werfen ist gut, wenn du Platz dazu hast, und wenn es dir wichtiger ist, dein Ziel zu treffen, als den Dolch zu behalten. Und dann kann man mit einem Dolch noch stechen.«
Kelida erschauerte wieder. Sie schloß die Augen und holte sicherheitshalber tief Luft.
Lavim zupfte sie am Ärmel. »Kelida, hörst du zu?«
Kelida nickte dumpf.
»Also gut. Stechen ist lustig. Na ja, nicht richtig lustig, aber komisch. Stich nicht nach unten, wenn du im Nahkampf bist. Da triffst du nur Knochen und reizt den anderen. Du richtest auf jeden Fall wenig Schaden an. Stich von unten hoch. Dann hast du eine wirklich gute Chance, irgend etwas Wichtiges zu treffen, wie Leber oder Niere. Verstanden?«
»Ich – ich glaube.«
Lavim sah sie wieder an. »Du siehst ein bißchen grün aus, Kelida, geht es dir gut?«
Kelida schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter. »Alles in Ordnung.«
»Sicher? Vielleicht sollten wir später über das Stechen reden? Probier doch einfach noch mal ein paar Würfe.«
Kelida versuchte es. Der erste Wurf ging einen Fingerbreit daneben, der zweite traf.
»Noch einmal«, ermutigte sie Lavim, »du kriegst ein Gefühl dafür.« Kelida probierte es noch mal und verfehlte den Stumpf um einen Meter.
Um den Stumpf stand dichtes braunes Ried und verdorrtes Gras. Kelida suchte einen Augenblick, fand den Dolch jedoch nicht. Hinter dem Stumpf fiel der Hügel zum Wald hin ab. Genau vor der dunklen Grenze der Baumschatten sah sie etwas glitzern. Die Dolchklinge. Kelida kletterte den Hügel hinunter.
Am Fuß des Hügels war Schatten und der Boden naß und matschig. Ihre Stiefel patschten in Pfützen und blieben im Schlamm hängen. Kelida holte eilig den Dolch. Als sie wieder hochsteigen wollte, fiel ihr etwas auf, das im nahen Unterholz des Waldes flatterte. Stirnrunzelnd ging Kelida ein paar Schritte auf das Dickicht zu.
Sie arbeitete sich durch das dornige Gestrüpp und blieb stehen. Das Unterholz rahmte eine kleine Lichtung mit spätem, grünem Gras ein. Dort lag ein junger Mann, den rechten Arm in einem unmöglichen Winkel verrenkt, die geschwollene und gebrochene linke Hand ausgestreckt, als würde er um Gnade flehen. Von ihrem Standort aus konnte Kelida nicht erkennen, ob er atmete.
Sie hob die Hand an den Mund und steckte einen Finger zwischen die Zähne, um nicht zu schreien. Langes, blondes Haar, das dreckig an seinem Gesicht klebte, hing bis zu einem kleinen Wasserrinnsal herunter. Ein tiefer Schnitt, der am Rand blutverkrustet und in der Mitte entzündet war, lief von dem einen geschwollenen, blauen Auge bis knapp unter den Kiefer. Große, dunkle Blutflecken waren auf seinen roten Roben zu sehen, manche alt und braun, manche hellrot und größer werdend. Kelida holte kurz und krampfhaft Luft.
»Lavim!« schrie sie. »Tyorl! Stanach!«
Der junge Mann stöhnte und öffnete die Augen. Einst waren sie wohl so blau wie der Sommerhimmel gewesen. Jetzt waren sie düster und dumpf vor Schmerz.
»Lady«, flüsterte er. Er schnappte nach Luft, kniff fest die Augen zusammen und fuhr dann mit der Zunge über die blutbefleckten Lippen, um es noch einmal zu versuchen. »Lady, bitte helft mir.«Stanach fiel mit kalten, zitternden Händen auf die Knie. Mit der Handfläche fühlte er an Pfeifers Brust nach dem Heben und Senken des Atems, wie er es getan hatte, als er vor fünf Tagen auf der staubigen Straße neben Kyan Rotaxt gekauert hatte. Pfeifer lebte noch. Sein Atem war jedoch nur noch ein gurgelndes Pfeifen. Der Magier hatte nicht mehr gesprochen, seit er Kelida um Hilfe gebeten hatte. Er lag einfach still und stumm da.
Er war nicht tot, aber er würde es bald sein. Beide Hände und mehrere Rippen waren gebrochen, zu viel Blut war in seine Lungen gelaufen.
Tyorl kehrte zurück. Er hatte den Hang rasch nach Spuren von den Angreifern des jungen Manns abgesucht. In der Linken trug er seinen Langbogen, auf dem noch ein Pfeil angelegt war; in der Rechten hielt er eine alte Flöte aus Kirschholz. Die hielt er Stanach schweigend hin.
Stanach nahm das Instrument und fuhr mit den Daumen über die weiche Länge des polierten Holzes. Nach kurzem Zögern legte er die Flöte neben Pfeifers gebrochene rechte Hand. »Wo hast du sie gefunden?«
»Ein Stückchen weiter. Stanach, ich muß mit dir reden.«
Stanach nickte und kam wie betäubt auf die Beine.
Der Elf schaute Pfeifer mit undurchschaubaren blauen Augen an, dann sah er sich nach Kelida um. Sie stand mit Lavim am Rande des Hangs. Er winkte sie her.
»Bleib bei ihm, Kelida.«
Kelida sagte nichts. Die grünen Augen weit aufgerissen vor Mitleid, das Gesicht blaß vor Angst, hockte sie sich neben den Zauberer. Lavim, der ausnahmsweise still war, kauerte sich ihr gegenüber hin. Stanach seufzte tief und folgte Tyorl in die tieferen Schatten des Waldes, bis sie außer Hörweite waren.
Tyorl steckte den Pfeil in den Köcher zurück, ließ jedoch die Sehne am Bogen. »Er sieht aus, als wäre eine Meute über ihn hergefallen.«
Stanach nickte.
»Ich habe überhaupt keine Spuren gefunden, daß sonst jemand hier war. Keinerlei Zeichen, wie er selbst überhaupt an den Hang gekommen ist. Was glaubst du, wie er das geschafft hat?«
»Ich weiß nicht. Er ist Magier und – «, Stanach schluckte den Kloß in seiner Kehle herunter, »– und er war in Thorbardin für seine Transportzauber bekannt.« Die Erinnerung holte ihn ein, und er lächelte. »Er bringt dich, wohin du willst, aber die Magie fühlt sich immer so an, als wenn sie dir das Essen aus dem Magen zieht. Er – ist auch dafür bekannt. – Ich glaube aber nicht, daß es weit von hier passiert ist. Er hätte nicht mehr die Kraft gehabt, eine große Entfernung zu überwinden. Wie weit ist es zur Straße nach Langenberg?«
»Fünf Meilen, vielleicht auch etwas weiter«, sagte Tyorl.
»Dann ist es dort passiert. Oder in der Nähe. Da hat er auf mich gewartet.«
»Das tut mir leid.«
»Oh, ja«, murmelte Stanach schroff, »mir auch.« Er drehte sich um und wollte wieder zu Pfeifer gehen. Schon nach zwei Schritten ergriff Tyorl seinen Arm.
»Was ist mit dem Schwert?«
»Was soll damit sein?« Stanach grub die Finger seiner rechten Hand in seinen Bart und schloß die Augen. »Ich weiß nicht«, sagte er bitter. »Ich bin nicht rechtzeitig bei Pfeifer gewesen, oder? Er kann mir nicht helfen, und ich – ich kann ihm nicht helfen. Laß mich wenigstens bei ihm sitzen, während er stirbt.«
Mit diesen Worten trat der Zwerg aus den Schatten auf den sonnigen Rasen. Tyorl folgte ihm schweigend.
Kelida rückte zur Seite, als Stanach sich neben sie setzte. »Er atmet noch, Stanach. Er ist noch am Leben.«
Stanach sagte nichts, sondern legte nur den Handrücken vor seinen Mund und nickte, während sein Blick zu Pfeifers gebrochenen Händen wanderte.
Kelida folgte seinem Blick und flüsterte: »Warum?«
»Damit er sich nicht durch Magie verteidigen konnte.« Er berührte die Flöte mit einem Finger. »Sie wußten nicht über die Flöte Bescheid. Die hat ihn teleportiert, aber nicht früh genug, um sein Leben zu retten.«
Ach, Jordy, dachte Stanach. Es tut mir leid, Pfeifer!
»Wir können genausogut hier lagern«, sagte Tyorl. »Es ist zwar ein Schlammloch, aber ich habe das Gefühl, daß wir heute nacht den Windschatten des Hügels brauchen, um das Feuer abzuschirmen. Wir sollten die Nachtwache auf dem Hügel lieber ohne Feuer aufstellen.« Tyorl zeigte auf den Kender, der aussah, als wenn er Fragen stellen wollte. »Feuerholz und Zunder, ja?«
Lavim erhob sich steif und schlüpfte nach einem Blick auf Stanach in den Wald. Der Elf stieg auf den Hügel, um Wache zu halten. Kelida saß allein mit Stanach da. Sie, die erlebt hatte, wie ihre Familie und Freunde einem wütenden Drachen zum Opfer gefallen waren, erkannte die tiefe Verzweiflung in den Augen des Zwergs und wußte, daß er nicht allein bleiben durfte.
Solinari stieg wie immer als erster am Horizont auf. Lunitari ließ nicht lange auf sich warten. Die Nacht ergoß sich tiefblau und kalt über den Hang. Schatten und Feuerschein verwandelten das kahle Gestrüpp in ein glänzendes schwarzes Netz von Ästen.
Als das Licht des roten Mondes den Hügel herabkam und in den Wald fiel, bemerkte Stanach, daß er das belegte, rasselnde Geräusch von Pfeifers mühsamem Atmen lange nicht gehört hatte. Er beugte sich vor und legte dem Magier sanft die Hand auf die Brust. Nichts bewegte sich. Der Puls an seinem Hals hatte aufgehört zu schlagen. Stanach lauschte auf das Donnern seines eigenen Herzens.
»Es tut mir leid«, flüsterte Kelida.
Stanach nickte. Er sah sie für einen Moment an, dann das Königsschwert, das immer noch an ihrer Hüfte hing. Das Gold reflektierte das Licht des Feuers, und Schatten glitten über das Silber. Die fünf Saphire blinkten kalt. Stanach glaubte, das rote Herz des Stahls durch die schäbige Lederscheide glühen zu sehen.
Kelida legte ihre Hand auf seine Rechte.
Stanach sagte immer noch nichts.
Die Musik, die die Zwergenkinder von Thorbardin bezaubert hatte, war verflogen. Die Magie war fort. Jordy war tot, und Kyan war tot.
In diesem Augenblick ließ Stanach kein Gefühl zu, aus Angst, die Trauer könnte ihn so überwältigen, daß er weinen müßte.