21

Stanach hob seine rechte Hand mit der linken hoch. Unter den Bandagen lagen die gebrochenen Finger schwer und gefühllos wie Eisenstäbe in seiner Handfläche. Obwohl er auf wackligen Knien stand, wies er Kerns Unterstützung zurück und versuchte erst einen, dann zwei taumelnde Schritte. Nachdem er tief Luft geholt hatte, lief er zum Eingang der Höhle. Der Waldläufer hatte ihm zugesichert, daß er seine Kräfte bald zurückgewinnen würde.

An die Steinwand der Höhle gelehnt, sah Stanach aufs Wasser hinaus. Er hoffte, daß Kern recht hatte. Rauch trieb wie dunkler Nebel von kaltem, starkem Wind gesteuert über den Fluß. Der Himmel hoch über dem Wald glänzte rot. Kelida, die immer noch Sturmklinge trug, rannte den kurzen Weg über die Böschung zu Lavim. Der Kender tanzte vor Aufregung. Kelida packte seine Arme und hielt ihn so still, damit er zuhörte, was sie ihm zu sagen hatte. Daraufhin sprang Lavim mit baumelnden Beuteln flußabwärts zu dem Punkt, wo Tyorl am Wasser entlanglief.

Unter Stanachs Augen kamen zwei Waldläufer aus der Deckung des Waldes und schlossen sich dem Elf am Fluß an. Der eine, Finn, zeigte nach Norden.

Stanach drehte sich in Richtung Höhle um. »Was ist los?«

Kern, dessen Gesicht sorgenvoll und düster war, packte gerade seine Heilmittel ein. Er sah auf. »Waldbrand, sagen sie. Wir müssen hier weg, Stanach. Kannst du laufen? Finn will hier den Fluß überqueren und ihn so schnell wie möglich zwischen uns und das Feuer bringen.«

»Ach, will er das? Dann sollte ich besser laufen können.« Stanach milderte sein Grollen durch ein Schulterzucken ab.

Lehr betrat die Höhle. Sein zottiges Haar war vom Wind zerzaust. Er und sein Anführer waren so weit in den Wald eingedrungen, daß der Brandgeruch in ihrer Kleidung hing. Lehr sah Stanach forschend an. Dann schlug er dem Zwerg so fest auf die Schulter, daß dieser dankbar war, daß hinter ihm die Wand war. »So, du schaffst es also auf eigenen Füßen, was? Gut. Los, Kern, laß uns gehen.«

Kernbal warf seinen Medizinbeutel über die Schulter. »Wie weit nördlich ist das Feuer? Verdammt, Lehr! Wie ist das passiert?«

»Nicht sehr weit, und es kommt rasch näher.« Der Waldläufer überprüfte die Höhle, ob sie auch nichts vergessen hatten, und warf einen kurzen Blick zum Fluß zurück. »Wir glauben, daß die vordersten Flammen zwischen uns und dem Rest der Gruppe sind, aber wir wissen nicht, wo die Flanken sind, und wir hatten keine Zeit nachzusehen. Finn sagt, der einzige Ort, wo wir die anderen finden können – oder sie uns –, ist das Ostufer.«

Der Waldläufer war fort, bevor Stanach oder Kernbal gemerkt hatten, daß er die Frage nach dem Ursprung des Feuers nicht beantwortet hatte. Kern verzog ungeduldig das Gesicht.

Stanach verließ die Höhle mit seinem Schwert auf dem Rücken und mit Angst im Bauch.»Hier ist keine starke Strömung«, sagte Tyorl, »und das Wasser geht nur ungefähr bis zum Bauch. Schaffst du das, Stanach?«

Ob seine wiedergewonnenen Kräfte jetzt auf den Trank des Heilers zurückgingen oder auf die Drohung der fernen, prasselnden Geräusche des anrückenden Feuers – Stanach wußte, daß er mit seinen Gefährten im Fluß Schritt halten konnte. Er schaute kurz zum Himmel. Die Monde waren untergegangen. Der karmesinrote Schein über dem Wald wirkte wie eine unheilvolle Morgendämmerung.

»Ja, ich schaffe es.«

Obwohl der Elf nickte, sah Stanach den Zweifel in seinen Augen. »Ich bleibe direkt hinter dir. Kern sagt, du solltest aufpassen, daß deine Hand nicht naß wird.«

Finn ging als erster ins Wasser, wobei er seinen Langbogen über den Kopf hielt. Der Rauch, der den Fluß herauftrieb, machte ihn unsichtbar, bevor er sehr weit gewatet war.

Stanach hielt seine verbundene Hand in die Luft, vertraute darauf, daß seine gutgeölte Lederscheide das Schwert auf seinem Rücken schützen würde, und folgte Finn in den Fluß.

Als das eisige Wasser ihn erfaßte, gewaltsam an seinen Knien zerrte und ihm dann um die Brust wirbelte, schnappte Stanach nach Luft. Die Kälte tat seinen Knochen und Muskeln weh und betäubte seine Füße, als ob sie nicht in dicken Stiefeln steckten.

Als nächste wateten Tyorl und Kelida hinein. Nach Finns Vorbild hob das Mädchen Sturmklinge, das sie in ihren Mantel gewickelt hatte, hoch über den Kopf, um besser das Gleichgewicht zu halten und damit das Schwert trocken blieb. Kern sicherte die Durchquerung des Flusses seitlich und war auf dem Sprung, falls jemand in dem schneller werdenden Strom Hilfe benötigte. Lehr hielt sich nahe bei Kelida. Wenn sie es brauchte, reichte er ihr stützend die Hand. Einmal schlang er ihr den Arm um die Taille und zog sie eng an sich, als die Strömung an ihren Füßen riß.

Lehr lachte laut, als er Kelida wieder abstellte. Dem Waldläufer machte es eindeutig nichts aus, daß ihm ein hübsches Mädchen in triefnasser Lederkleidung am Hals hing. Tyorl wirkte, als wenn es ihm viel ausmachte. Überrascht stellte er fest, daß er überlegte, ob die Breitseite seines Schwerts dem unverschämten jungen Waldläufer wohl ein paar Manieren beibringen konnte. Dann zog Tyorl an Stanach vorbei, der bereitwillig etwas zurückfiel.

Lavim hatte keinen bestimmten Platz in der Reihe. Indem er sich dem Unvermeidlichen fügte, sprang er in den eisigen Fluß und pflügte mit der Begeisterung eines Fisches – aber ohne dessen Grazie – durch das Wasser.

Als Stanach endlich auf das steinige Ostufer trat, war er benommen vor Kälte, fühlte sich scheußlich und war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Er drehte sich in die Richtung um, aus der er gekommen war. Wie der Atem eines Geistes verschleierte der dunkle, wabernde Rauch das jenseitige Ufer. Kelida legte ihm die Hände auf die Schultern. »Geht es dir gut?«

»Ja«, sagte Stanach, obwohl er sich nicht sicher war. Nach der Überquerung des Flusses war ihm sehr kalt geworden.

Finn zeigte mit dem Daumen auf die niedrigen Hügel. Kern bildete rechts die Vorhut, und Tyorl bestand darauf, daß Lehr ihn links begleitete. Lavim schüttelte sich wie ein nasser Hund, eilte vor und ließ die beiden Waldläufer rasch hinter sich.

Der aufdringliche Geruch des brennenden Waldes folgte ihnen ins Hügelland. Das Gelände auf der Ostseite des Flusses war steinig und stieg an. Niedriges Gestrüpp kauerte sich in flächendeckendem Dickicht zusammen. Nach Osten erstreckten sich Hügel, dann hohe Berge. Kelida, die in Gedanken versunken war, paßte ihr Tempo dem Stanachs an. Jedesmal, wenn sie sich umsahen, erblickten sie den leuchtend roten Schein des Feuers am Himmel.

»Guyll Fyr«, flüsterte Stanach, als er stehenblieb und zusah, wie das Feuer nur eine Meile von der Flußhöhle entfernt einen Busch erfaßte. Trotz des beißenden Windes und der kalten Luft der frühen Morgenstunden lief ihm der Schweiß über die blassen Wangen, glitzerte an den Rändern seines Schnurrbarts und auf seinem dicken, schwarzen Bart. Als Kelida sah, daß er eine Rast brauchte, hielt sie mit ihm an.

Stumm probierte sie seine Worte aus. Dann sah sie auf und versuchte es laut: »Guill Feuer?«

Stanach lächelte schief. »Beinahe. Buschbrand.« Der Zwerg zeigte nach Süden am Waldrand entlang. »Das Unterholz ist verkohlt, aber in den Baumwipfeln brennt es noch. Wenn der Wind umspringt, kommt es über den Fluß.«

»Das ist ein Buschbrand?«

Stanach suchte die Dunkelheit vor ihnen ab. Kernbal wartete am Fuß einer Bergkette. »Nein«, sagte er, als er wieder losging. »Guyll Fyr wird es erst, wenn es in etwa dreißig Meilen die Ebene der Toten erreicht.«

Wenn der Wind richtig steht, dachte er finster, wird es morgen soweit sein.

Mehr sagte er nicht, weder über das Feuer noch über etwas anderes. Er mußte sich jetzt aufs Laufen konzentrieren. Kelida ging kurz vor ihm und hatte die Augen auf den dunklen Boden geheftet. So fand sie das Geröll auf dem Pfad und die Löcher und Mulden im Steinboden immer rechtzeitig genug, um nach seinem Arm zu greifen, bevor er stolperte.

Seine rechte Hand hing wie ein Stück Eisen gefühllos und schwer herunter. Stanach erinnerte sich an das Feuer, das erst Stunden zuvor gnadenlos in dieser Hand gebrannt hatte. Jetzt spürte er die Schmerzen nicht mehr. In seiner Brust wurde es kalt, sein Magen krampfte sich zusammen.

Er fragte sich, wie lange Kernbals Salben wohl wirken würden.


Tyorl hockte auf dem Berg und suchte am Himmel nach Anzeichen der Morgendämmerung. Die verblassenden Sterne verrieten ihm, daß der Horizont heller werden sollte, doch Feuerschein erleuchtete den Himmel, seit die Flammen den Wald erfaßt hatten und rasch nach Süden und Osten vordrangen. Sie übertönten jeden Anklang der frühen Dämmerung.

Hatte das Feuer den Fluß schon überquert? Tyorl glaubte es nicht. Er stand auf und streckte seine schmerzenden Glieder. Wann hatte er zuletzt geschlafen? Wann würde er wieder schlafen dürfen?

Finn, dessen scharfe Augen den Boden am Fuß des Hügels absuchten, stieß Tyorl an. Kern lief den Abhang hinunter, um Stanach und Kelida zu helfen. »Der Zwerg braucht bald eine Pause. Und so wie er aussieht, wird das schon unten am Hügel sein.«

»Wir können hier keine Rast machen. Das Feuer könnte über den Fluß kommen.«

Finn schnaubte. »Es wird über den Fluß kommen.«

Einen Augenblick standen sie schweigend da. Tyorl suchte den Westen ab, während er sich fragte, ob die anderen dreißig Waldläufer den Flammen entkommen waren. Er blickte zu Finn und sah dieselbe Frage im wettergegerbten Gesicht des Waldläufers. Und die Antwort in seinen Augen.

Sie konnten nicht entkommen sein. Sechs Meilen weiter nördlich war der Fluß ein wildes, tückisches Gewässer, das nicht zu überqueren war. Das Feuer mußte ungefähr am Lager von Finns Gruppe ausgebrochen sein. Was war passiert?

Ihr Götter, betete Tyorl, was er nicht oft tat, schenkt ein paar von ihnen das Leben, wenn Ihr schon nicht alle leben lassen könnt!

Kerrit. Bartt. Der alte Gart. Die Namen und die Gesichter der dreißig Menschen und Elfen, die so viele Jahre seine Freunde gewesen waren, schienen sich im Rauch zu formen. Tyorl erschauerte. So schnell konnten sie sterben, seine Freunde, so leicht, wie der Wind den Rauch verteilt.

Finn umrundete die Spitze des Hügels und kehrte wieder zurück. »Ich wüßte gern, wo der Kender hingelaufen ist.«

»Geht mir zweifellos aus dem Weg«, sagte Tyorl.

Finn grunzte. »Kommt er zurück?«

»Er ist ein Nachtschwärmer, aber er kommt immer zurück. Um so schlimmer für mich.«

»So?« Finn betrachtete den Elf nachdenklich. »Ich dachte, ihr wäret Freunde. Habt ihr Ärger miteinander?«

»Eins schließt das andere nicht aus«, sagte Tyorl müde.

Die Monde waren längst untergegangen. Sie konnten keine Schatten mehr werfen. Und trotzdem sah Tyorl plötzlich einen riesigen Schatten von Gefahr und Verhängnis.

Finn stieß einen Fluch aus. Wie als Echo kam Lehrs Entsetzensschrei von unten, als dieser seinem Bruder eine Warnung zurief.

Wie ein Stück Mitternacht schoß mit dem Kriegsruf einer Todesfee ein schwarzer Drache vom Himmel.


Der Augenblick, in dem der Drachenschrei ertönte, war wie ein Moment, der aus jeglicher Zeit herausfiel. Kelida schlug das Herz bis zum Hals. Ihr war schlecht vor Angst. Bis ins Mark erstarrt vor kalter Furcht, sah sie bewegungslos zu, wie die Flügel der Kreatur an ihren glitzernden, ebenholzschwarzen Seiten zurückschlugen und das Wesen mit hochgerecktem Kopf den Boden berührte. Mit beängstigender Geschwindigkeit schossen die Vorderbeine des Drachen vor, als ob sie nach etwas griffen. Nach ihr!

Stanachs Entsetzensschrei zerschlug Kelidas Angstfesseln wie ein scharfes Schwert. Sie warf sich zur Seite. Sturmklinge!

Sie dachte nicht daran, daß sie so ungeübt war, daß sie wahrscheinlich eher sich selbst als den Drachen verwunden würde. Messerscharfe Klauen hingen schwarz und gekrümmt über ihr wie ein Käfig, der sich schließen wollte. Kelida fummelte an den Friedensknoten herum und versuchte, das Schwert aus der Scheide zu ziehen. Rotleuchtender Stahl und eisblaue Saphire – Sturmklinges Gewicht würde an ihren Muskeln zerren, wenn sie versuchte, es in die Luft zu heben, doch was machte das schon. Sie mußte es tun.

Ein fürchterlicher Triumphschrei gellte durch die Nacht, bevor sie das Schwert ziehen konnte. Der Drache trug einen Reiter! Ein Zwerg in dunklem Mantel und Kapuze saß rittlings auf dem Untier.

Stanach brüllte – ein Geräusch wie ein wortloser Fluch – und warf sich zwischen Kelida und das Monster. Die Riesenschwinge des Drachen erwischte ihn mit Wucht und warf ihn zu Boden. Instinktiv rollte er ab, kam taumelnd hoch und fiel auf ein Knie. Schnell wie ein Blitz peitschte der lange Hals des Drachen zur Seite. Seine geifernden Zähne waren gefletscht, die Augen leuchteten vor Mordlust.

»Nein!« schrie Kelida. »Nein! Stanach!«

Ein fliegendes Gewicht erwischte Kelida schwer wie ein gefällter Baum von hinten. Sie schlug hart auf, wobei alle Luft aus ihren Lungen gepreßt wurde. Noch einmal versuchte sie zu schreien. Sie hatte nichts mehr zum Schreien in sich, keine Stimme, keine Luft. Eine Hand faßte sie am Arm und zog und zog, und Kelida kam schluchzend auf die Knie. Lehrs widerspenstiges, dunkles Haar flatterte im Wind der Drachenflügel. Er stand zwischen Kelida und dem Drachen. Mit erhobenem Schwert sprang der Waldläufer hoch, obwohl er wissen mußte, daß seine Klinge den Schuppenpanzer des Drachen keinesfalls durchbohren konnte.

Lehrs Schwert traf, prallte jedoch von der pechschwarzen Haut ab. Der Drache brummte in seiner mächtigen Brust. Der tiefe, donnernde Laut klang wie ein belustigtes Lachen.

Mit einem nachlässigen Schlag seiner messerscharfen Klauen riß der Schwarze dem Waldläufer das Herz aus dem Leib, während seine Augen sich wieder Kelida zuwandten. Lehrs Blut spritzte wie heißer Regen über Kelidas Gesicht und Hände. Sie wollte schreien, konnte aber kaum stöhnen, versuchte zu rennen und stürzte.

Wie ein Käfig, hatte sie als erstes gedacht, als sie die Drachenpranken sah. Wie ein Käfig schlossen sie sich jetzt um sie und gingen so weit zu, daß sie einander berührten, während sie Kelida fingen, mit sich zerrten und in die Luft hoben. Nein, kreischte ihr Kopf. Nein!

Der Drachenreiter griff nach ihrem Arm, machte einen Ruck und hievte sie über den Hals des Untiers. Ihr Kopf fiel zurück, und ihr drehte sich der Magen um.

Kelida war völlig außer sich und dachte nur noch daran, wie sie sich befreien konnte. Sie trat heftig nach hinten, schaffte es, sich aufzusetzen, und zerkratzte dem Zwerg das Gesicht. Ihre Finger zerrten die Kapuze weg, woraufhin sie sah, daß er nur ein Auge hatte.

Als der Drache sich vom Boden abstieß und mit ausgebreiteten Flügeln aufzusteigen versuchte, schlug Kelida mit dem Instinkt einer Bergkatze nach diesem Auge. Vage fühlte sie, wie eine Hand sich mit der Kraft der Verzweiflung um ihren Knöchel schloß, um dann genauso schnell wieder loszulassen. Zwei dicke, starke Arme schlossen sich um ihren Bauch. Die rechte Hand war in Verbände gewickelt, die sie von ihrem grünen Mantel abgerissen hatte. Die Hand rutschte ab, preßte sich dann aber wieder fest gegen ihre Rippen. Stanach!

Von der Stirn des Drachenreiters strömte Blut, das sich in seinem grauen Bart sammelte. Er riß sich von ihr los. Kelida erkannte den schrillen Triumphschrei in ihren Ohren kaum als ihren eigenen. Der Himmel schoß auf sie zu und erschien beim wilden Gebrause des Windes unter den schwarzen Drachenflügeln schwindelerregend.

Obwohl schlank und leicht, war sie doch ein Bauernmädchen und stärker, als sie aussah. Kelida balancierte auf dem Drachenhals wie auf einem Pferd. Wieder warf sie sich auf den Drachenreiter, ohne seinen Dolch zu bemerken, bis eine feuervernarbte Hand sich um das Handgelenk ihres Gegners schloß.

Stanach!

Kelida sah voller Panik genauer hin und entdeckte, daß er sich hinter dem dunkel gekleideten Zwerg an den Kamm auf dem Drachenrücken klammerte.

Knochen knackten, und der Drachenreiter schrie. Die starken Muskeln des Drachen spannten sich unter Kelidas Knien an, als er hochfuhr und sich umdrehte. Wie in einem Traum ohne Ton, wo alles ganz langsam geht, merkte Kelida, wie sie das Gleichgewicht verlor, sah, wie der Drachenreiter über die lange, schwarze Schulter herunterrutschte und wie sich sein Mund zu einem vergeblichen Schrei öffnete, als er keinen Halt fand. Wild in der Luft herumrudernd fiel er mit ausgebreiteten Armen und Beinen in die Tiefe.

Ihre Hände waren vor Schreck gefühllos und ihre Beine zu schwach, um sich weiter festzuklammern. Kelida sackte über dem Hals des Drachen zusammen und wartete, ohne sich in der brausenden Luft bewegen zu können. Die graubraunen, steinigen Hügel würden auf sie zukommen und sie packen, so wie sie den einäugigen Zwerg gepackt hatten.

Doch das taten sie nicht.

Stanach schlang rasch seine zitternden Arme um Kelidas Bauch, während sein Atem in der eisigen Höhenluft dünne Wölkchen bildete. Er zog sie zu sich hin und drückte sie fest an sich. Sie spürte seinen warmen Bart in ihrem Rücken. Dann sah sie wie von weitem, wie er mit der linken Hand um sie herumgriff und sich am knochigen Kamm des Drachen festhielt.

Das Ungeheuer brüllte und stieg auf, wobei es die grauen Wolkenschleier des Morgens durchbrach. Kelida hörte Stanach hinter sich seufzen. Er stammelte etwas vor sich hin.

Es hörte sich an wie ›Lyt Chwaer‹. Kleine Schwester.

Wegen des Windes, der von der hohen Geschwindigkeit des Drachen herrührte, schloß sie die Augen und konzentrierte sich darauf, sitzenzubleiben, bis sie das unbekannte Ziel des Drachen erreicht haben würden.

Lehrs Blut hatte dunkle Flecken auf Kelidas grauen Jagdkleidern hinterlassen und klebte an ihren Händen und Armen. Sie erschauerte, begann heftig zu schluchzen, und ihre Tränen gefroren auf den Wangen zu Eis.


Nachtschwarz brüllte und schwang sich in den Himmel auf. Tief unter ihm fiel Realgars kleiner Zauberer, den sie den Grauen Herold nannten, wie ein Stein dem Boden entgegen.

Ein Flug anderer Art! Der schwarze Drache stieß ein heulendes Gelächter aus. Er hatte die herrischen Kommandos des Zauberlings, den Klang seiner Gedanken und den Geruch seiner Ausdünstungen gehaßt. Jetzt drehte er den Hals nach hinten, um die anderen beiden zu betrachten, die nun da ritten, wo der Graue Herold gesessen hatte. Wieder ein Zwerg, genauso leicht wie Agus, und ein Menschenmädchen. Sevrist kniff die Augen wegen des Windes zusammen. Die lange, gespaltene Drachenzunge glitt über die messerscharfen Zähne. Er roch ihre Angst, und die roch wahrlich süß.

Nichts war zäher als ein sehniger, muskulöser Zwerg. Nichts war zarter als junges Menschenfleisch. Das Mädchen trug das Königsschwert, und Nachtschwarz freute sich auf Realgar. Der würde zufrieden sein und ihm die beiden als Belohnung überlassen. Als Abendbrot, dachte er.

Der schwarze Drache gab sich große Mühe, seine Reiter auf dem Rücken zu behalten. Sein Flug war gleichmäßig, und er mied die turbulenteren Windströmungen wie ein Kapitän, der sein Boot durch eine Meerenge steuert, ohne daß die Wellen die Ladung von Bord spülen.


Stanach fühlte nichts, weder Erschöpfung noch Angst, noch Kelidas heftiges Schluchzen, bis der Drache über die Ebene von Dergod, die Ebene der Toten, jagte. Als der Schwarze dann hoch aufstieg, um eine günstige Windströmung zu nutzen, und sich schräg stellte, um den Wind in den Rücken und unter seine breiten Flügel zu bekommen, sah er den nach Osten vorrückenden Flammenteppich.

Vor ihm zitterte Kelida wie eine Pappel im Sturm, doch er fand keine tröstenden Worte für sie.

Hoch am Südosthimmel strahlte die Sonne über einer Art langem, feuerrotem Pfeil. Ein zweiter Drache, ein feuerspeiender Roter, schoß durch den wogenden, schwarzen Rauch über dem Wald zu der hohen, düsteren Kette der südlichen Berge nach Pax Tarkas hinunter.

Da wußte Stanach, was den Wald in Flammen gesetzt hatte. Nur wußte er nicht, warum. Wenn Verminaard Truppen und Vorräte in die Berge schickte, warum sollte er es dann riskieren, den Wald anzustecken und die Angriffsreihen zu vernichten, die er gerade erst aufgestellt hatte?

Der Drache fand weiter unten einen Aufwind und sank mit einer Geschwindigkeit, bei der sich ihnen der Magen umdrehte. Stanach hielt Kelida fest. Als er zur Seite blickte, wurde Stanach der Grund für das Feuer klar. Tiefe, breite Brandschneisen, die aus dieser Höhe wie Pflugspuren aussahen, führten direkt zur Ebene.

Schneisen, dachte er bitter, die den Wald im Norden und Süden schützen und die Flammen in die Ebene der Toten lenken.

Von da aus würde das Feuer als Guyll Fyr wie die unbarmherzige Vorhut einer verheerenden Armee nach Thorbardin rasen.

Stanach stöhnte laut auf. Kein Heer mit hungrigen Plünderern konnte schlimmeren Schaden anrichten.

Vor hundert Jahren war ein Waldbrand über die Ebene der Toten gefegt. Damals hatten die Zwerge versucht, ihn aufzuhalten, um die Moore zu retten. Sie waren karg und häßlich, aber sie waren ein Teil der Wildnis des Zwergenreiches, Nistplatz für Vögel, Tränke für viele Tiere und Lebensraum für Fische. Und die Moore waren wichtig für die Versorgung von Thorbardin.

Vor einem Jahrhundert hatte man die Moore nicht retten können. Es stimmte zwar, daß die Ackerhöhlen tief im Berg Thorbardin ernähren konnten. Aber es bestand auch stets die Gefahr einer Hungersnot, falls das Getreide verdarb und die Tiere krank wurden.

Wir werden belagert!

Kelida drehte sich schlaff vor Erschöpfung um und barg ihr Gesicht an Stanachs Schulter. Er löste seine Hand vom Kamm des Drachen und schob seine verbundene Rechte höher, um das Mädchen besser festhalten zu können. Sie sagte nichts, doch seit ein paar Minuten weinte sie nicht mehr. Stanach versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, konnte es aber nicht.

Der Drache sank tiefer und wurde langsamer. Dort unten im Südosten lag Thorbardin. Die Stadt lag in den hohen Berggipfeln, über denen die Sonne gerade aufging. Schnee errötete sanft auf den höchsten Spitzen, wo der Winter schon herrschte. Als der Drache nach unten kreiste, konnte Stanach den noch schattigen Hohlweg nach Nordtor erkennen, der vor dreihundert Jahren in den Zwergentorkriegen zerstört worden war. Der Mund des Tores öffnete sich weit klaffend auf einen verräterisch schmalen Sims. Die Steine schienen immer noch stumm vor Schmerz zu schreien. Da sein Mechanismus im Krieg beschädigt worden war, stand dieses Tor seit dreihundert Jahren offen. Daher war Nordtor strenger bewacht als das noch funktionstüchtige Südtor.

Wind brauste um sie herum, als der Drache noch tiefer sank, unter den Hohlweg, unter den Sims, und schließlich in die letzten Schatten der Nacht am Fuß des Berges eintauchte.

Kalte Angst bemächtigte sich Stanachs. Nordtor war von starken, kaltblütigen Daewarkriegern bewacht. Die Höhlen da unten jedoch, geheime Gänge, die die Theiware die Tiefen Höhlen nannten, lagen weit unter dem Tor.

Realgar hatte einen Drachen, der ihm gehorchte und ihn wahrscheinlich Drachenfürst nannte. Jetzt wartete er in den Tiefen Höhlen auf Sturmklinge. Das Königsschwert würde ihn nicht nur zum Drachenfürsten machen, sondern zum Prinzregenten der Zwerge und damit zum Herrscher von Thorbardin.

Stanach schloß die Augen.

Er fühlte das Aufsetzen, als der Drache landete, und hörte seine Klauen über die Steine schleifen. Kelida bewegte sich und löste sich von ihm.

»Wo sind wir? Weißt du das?«

Stanach wußte es. Seine Augen hingen an dem glitzernden Schwert an ihrer Seite, und er wollte sagen, daß sie zu dem Ort gekommen waren, an dem sie bald sterben würden. Er sprach es nicht aus, sondern schüttelte nur den Kopf.

»Zu Hause.« Das Wort kam nur mühsam über seine Lippen, als ob es eine Lüge wäre. »Wir sind in Thorbardin.«

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