14

Vor Mondenuntergang begann Stanach, Pfeifers Grab aufzuschichten. Tyorl, der auf dem Hügel Wache hielt, fand, daß der Zwerg so gelassen arbeitete wie ein Maurer, der eine Wand hochzieht. Der Abhang des Hügels war voller Steine, und Stanach benutzte sie als Grundlage für den Grabhügel des Magiers.

Der Zwerg bat nicht um Hilfe, doch er sagte auch nichts dagegen, als Tyorl die Wache an Kelida abgab und, anstatt sich auszuruhen, Steine zum Grabhügel schleppte. Sie wechselten keine Worte, weil beide müde ihren Gedanken nachhingen. Als die Morgendämmerung den dunklen Himmel mit einem weichen, kühlen Blau überzog, war die Grabkammer für Pfeifers Körper bereit.

Bis dahin hatte Tyorl einige Entscheidungen getroffen. Dankbar nahm er Kelidas Wasserflasche an, trank einen tiefen Schluck und reichte sie an Stanach weiter.

»Warte, Kelida«, sagte Tyorl, als sie sich wegdrehte, um ihre Wache wieder aufzunehmen.

Stanach, der mit dem Rücken gegen einen Haufen Grabsteine lehnte, sah sich um. Die Miene des Zwerges war kalt, seine großen, von der Esse vernarbten Hände glitten pausenlos über den breiten, flachen Stein, den er als Fußstein für den Grabhügel gewählt hatte. »Was jetzt?«

Tyorl wählte seine Worte vorsichtig. »Es wird Zeit, daß wir entscheiden, was wir tun sollen, Stanach.«

»Ich gehe nach Thorbardin.«

Tyorl nickte. »Das dachte ich mir.«

Er sah sich nach Lavim um, der mit untergeschlagenen Beinen neben dem Körper des Zauberers saß. Er fragte sich, was den Kender so faszinierte, daß er freiwillig die Totenwache hielt.

»Tyorl«, sagte Stanach, »ich gehe mit Sturmklinge nach Thorbardin.« Er lächelte, aber es stand überhaupt kein Humor in seinen schwarzen Augen. »Wenn du nicht mitkommst, werde ich Hauk gerne von dir grüßen. Falls er lebt.«

»Das Lied hast du jetzt einmal zu oft gespielt, Zwerg«, fauchte Tyorl.

»Er könnte am Leben sein. Willst du es riskieren?« Der Zwerg wies mit dem Kopf auf den leeren Grabhügel. »Du bist noch ein bißchen ungeschickt mit dem Bauen. Wenn du übst, wirst du besser werden.«

»Du hast ja reichlich Übung«, sagte Tyorl kalt. »Deine Freunde scheinen nicht sehr lange zu leben, Stanach. Wie viele Hügelgräber hast du gebaut, seit du Thorbardin verlassen hast?«

Kelida, die schweigend zwischen ihnen stand, ergriff Tyorls Schulter. »Nein, Tyorl, nicht.«

Stanach hielt die Hand hoch. »Leute sterben für dieses Schwert. Es werden noch mehr deswegen sterben, wenn ich es nicht dahin zurückbringe, wo es hingehört. Richtig, Tyorl?«

Tyorl sagte einen Augenblick gar nichts. Stanach sagte die Wahrheit, das konnte der Elf nicht abstreiten. Er sah Kelida an, die immer noch zwischen ihnen stand. Das junge Tageslicht fiel wie Gold auf ihre dicken, roten Zöpfe. In diesem Moment, in den grauen Jagdkleidern, die er ihr in Qualinesti gesucht hatte, und mit Sturmklinge an der Hüfte schien das verschreckte Mädchen, das er gekannt hatte, verschwunden. In dem verdreckten Leder, mit der Hand auf Sturmklinges Heft sah sie aus, als wäre sie ein Mitglied von Finns Waldläufertruppe.

Richtig, aber das war sie nicht! Das Mädchen konnte kaum einen Dolch benutzen und hatte erst gestern gelernt, mit Sturmklinge an der Hüfte zu laufen, ohne darüber zu stolpern. Sie war keine Waldläuferin, keine Kriegerin. Sie war ein Bauernmädchen, das Kellnerin geworden war.

Tyorl schüttelte den Kopf und erhob sich rasch auf die Beine. »Ich sage dir eins, Stanach: Ich weiß nicht, ob Hauk lebt oder tot ist, aber ich glaube dir die Geschichte mit dem Schwert. Sturmklinge gehört ihm nicht mehr. Das Schwert soll nach Thorbardin.« Er hörte Kelidas erleichterten Seufzer und sah seine Spiegelung tief in Stanachs dunklen Augen.

»Aber vorher kommt es woanders hin.« Er schnitt den Protest des Zwergs mit einer ärgerlichen Geste ab. »Meine Waldläufergruppe ist ganz in der Nähe. Du warst nicht der einzige, der auf der Straße Freunde treffen wollte, Stanach. Finn wird wissen wollen, was Hauk zugestoßen ist, und er muß etwas erfahren, was ich in Langenberg ausgekundschaftet habe.«

Schnell und ohne Einzelheiten erzählte Tyorl Stanach, was er und Hauk in Langenberg über Verminaards Plan, Versorgungseinheiten in die Berge zu verlegen, gehört hatten.

Die Nachricht durchzuckte Stanach schmerzhaft. »Verminaard will Thorbardin angreifen?«

»O ja«, sagte Tyorl trocken. »Dachtet ihr, eure kostbaren Berge wären für immer sicher? Dachtet ihr, der Krieg würde sich teilen wie Wasser, das eine Insel umgibt? Die ersten Versorgungstrupps sind jetzt wahrscheinlich schon an Qualinestis Grenzen. Das Jahr neigt sich dem Ende, und Verminaard wird die Einheiten an Ort und Stelle haben wollen, damit er vor dem Winter zuschlagen kann. Es wäre ganz gut, wenn wir diese Hügel vor einer Horde Drakonier erreichen, oder? Und bevor uns diejenigen finden, die den Zauberer umgebracht haben?«

Die Sonne, die jetzt über den Bäumen im Osten aufging, ließ ihr Licht über den Hügel strömen und vergoldete die Steine von Pfeifers Grabhügel. Der Zwerg stand langsam auf und ging ohne ein Wort an Tyorl oder Kelida den Hügel hinunter.

Kelida sah zu, wie Lavim auf die Füße kam und Stanach nachlief. Ihre Augen waren traurig und ihre Miene weich vor Mitleid. Als sie Tyorl ansah, war die Trauer verschwunden. Das Mitleid blieb, und Tyorl hatte das unangenehme Gefühl, daß es ihm galt.

»Das war grausam, Tyorl.«

»Was?«

»Was du über seine Freunde gesagt hast, die sterben.« Sie ließ ihn abrupt stehen und lief den Hügel hinunter.

Allein gelassen zitterte Tyorl im Sonnenlicht.

Das schrille, unmelodiöse Pfeifen einer Flöte stieg vom Fuß des Hügels auf. Unten auf der Lichtung quiekte Lavim, als Stanach ihm Pfeifers Flöte aus den Händen riß.

Tyorl lief in großen Sätzen den Hang hinunter. Zweifel und Argwohn waren vergessen. Drakonier und mordlustige Sucher nach von Göttern berührten Schwertern verblaßten im Vergleich zu der schrecklichen Vorstellung von einem Kender mit einer Zauberflöte.


Der Zwerg Brek rieb sich mit den dicken Fingern die Wange. Sein rechtes Auge begann wieder zu zucken. »Wo ist Mika?«

»Ich habe seine Spuren auf dieser Seite der Straße gesehen. Er wird schon zurückkommen.« Chert trat unruhig von einem Bein aufs andere, als er das wenige kundtat, das er herausgefunden hatte. »Der Zauberer ist tot.«

Die pralle Nachmittagssonne erregte in ihm solche Übelkeit wie der faulige Gestank eines frischen Kadavers. Goldene Lichtpfeile spiegelten sich in Cherts blutbefleckter Rüstung. Die felsigen Hügel waren von Licht überzogen. Die Südstraße nach Langenberg lag, von den flachen Hügeln aus betrachtet, wie ein dünnes, braunes Band da; dunkler Wald begrenzte die lange Geröllhalde, die an den Grabhügel eines Riesen erinnerte. Der kleinere, das wirkliche Steingrab, war aus dieser Entfernung nicht zu erkennen. Hinter ihnen erhoben sich im Osten die breiten, blauen Hänge der Kharolisberge in den Himmel. Unter diesen Bergen lagen die Tiefen Höhlen, ihr Zuhause.

Brek spuckte aus und fragte sich, ob er die Höhlen je wiedersehen würde oder ob ihn das Licht oder der Dolch des Herolds vorher umbringen würde. Er warf einen Seitenblick auf Agus, den Clanlosen. Er hatte sein Todesurteil in den Tiefen des einen Auges des Grauen Herolds gelesen, das dort glitzerte, seit Hornfells Schoßhund von Magier gestern verschwunden war.

»Woher weißt du, daß der Zauberer tot ist?«

»Da ist ein neues Steingrab im Wald«, erklärte Chert.

Für mich wird es nicht einmal das geben, dachte Brek. Meine Knochen werden verrotten und in der Sonne ausbleichen, wenn ich dieses Schwert nicht kriege!

Wieder blickte er zu dem Herold. Realgar duldete kein Versagen, und es würde ihm völlig egal sein, daß Brek ihm seit zwanzig Jahren treu gedient hatte.

»Was schert mich ein Steingrab?« blaffte er.

»Nun, es muß ja jemand gebaut haben. Wer außer einem Freund würde sich dafür die Zeit nehmen? Ich habe Spuren von drei, vielleicht auch vier Leuten gefunden.« Chert grinste und kratzte sich mit einer vernarbten Hand den zerzausten Bart. ›Kriegersilber‹ nannten die Theiwaren die Narben, die im Kampf erworben waren. Chert war davon übersät. »Einer war eindeutig ein Zwerg.«

Wulf, der etwas abseits von seinen Kameraden stand, lachte leise und kehlig. Der Klang erinnerte Brek an ein listiges Zischen.

»Genau, wer außer einem Freund? Hammerfels Schüler. Hast du herausgefunden, wo sie hinwollten?«

»Nach Osten in die Vorberge.«

Nach Osten in die Vorberge. Hammerfels Lehrling war zu Fuß und ohne die schützenden Zaubersprüche des Magiers unterwegs nach Thorbardin. Brek entspannte sich und lächelte.

Cherts Hand glitt zu der Armbrust, die über seine Schulter hing. »Verfolgen wir ihn?«

»Nein«, sagte Brek. »Wir schneiden ihm den Weg ab. Wulf! Los.«

Nicht ganz richtig im Kopf, dachte Brek wieder, als der schlanke Zwerg den Hügel hinaufsprang. Mit Augen wie vereister Schlamm hob Wulf den Kopf und stieß ein unheimliches, heulendes Gelächter aus. Er witterte Beute.

Als sei Wulfs Heulen das Signal gewesen, kletterte Mika auf den Hügel. Brek begrüßte ihn und wies ihn an, den anderen zu folgen.

Der Herold, der einäugige Agus, sagte kein Wort, während er den dreien durch die Hügel nach Norden folgte.

Tyorl begrüßte es, daß sie wieder in den Wald zurückgegangen waren. Draußen auf dem Hügel, selbst auf der Windschattenseite, war er sich schutzlos ausgeliefert vorgekommen. Hier im Wald konnte er aufatmen. Die Erhebungen, die am Vortag noch mit einer dünnen Erdkrume und abgefallenen Blättern bedeckt gewesen waren, waren nur noch nackte, graue Felsen, die aus dem Boden ragten und oft die halbe Höhe der hochgewachsenen Kiefern erreichten. Sie folgten einem holprigen Pfad, der sich zwischen Steinen und dicken, knorrigen Baumwurzeln wand.

Obwohl der Wald wie ein Teil des Grenzlands von Qualinesti aussah, war er in Wirklichkeit der Anfang von Finns Revier. Der Anführer der dreißigköpfigen Waldläufergruppe aus Elfen und Menschen jagte auf dem schmalen Streifen zwischen Qualinesti und den Kharolisbergen. Ihr Lieblingswild waren Drakonierpatrouillen.

Finns Alptraum-Truppe war wie ein unermüdliches, tödliches Rudel unterwegs, seit die ersten Drakonier die Wälder mit ihrer Anwesenheit besudelt hatten. ›Grenzer‹ nannte man sie in manchen der abgelegenen Dörfer und Orte. Die Menschen halfen den Waldläufern, wo sie konnten. Manchmal war es nur ein Laib Brot oder Wasser aus dem Brunnen. Manchmal bestand die Hilfe aus Nachrichten oder – kostbarer – Schweigen, wenn eine Schwadron Drakonier auf der Suche nach denen vorbeizog, die eine Patrouille von Verminaards Soldaten aufgerieben hatten.

Tyorl fühlte sich in diesen Wäldern genauso zu Hause wie im Elfenwald. In ein oder zwei Tagen, wenn nicht schon früher, würde er Finn finden.

Oder, dachte er, Finn wird mich finden.

Tyorl ging voran. Auf der Sehne seines Bogens lag ein angelegter Pfeil. Er blickte über die Schulter und sah das Sonnenlicht auf dem Silberohrring des Zwergs blitzen. Stanach war ganz nach hinten gefallen. Obwohl Stanach sein altes Schwert immer auf dem Rücken trug, wußte Tyorl, daß er es trotzdem jederzeit einsatzbereit hielt. Der Zwerg hatte kein Wort darüber verloren, daß Tyorl die Waldläufer suchen wollte, aber Tyorl nahm es als Zeichen des Einverständnisses, daß Stanach noch bei ihnen war. Er würde dort hingehen, wo Sturmklinge hinging, und auch wenn sie ihn für seine angeblich grausame Bemerkung gescholten hatte, mußte Kelida zugeben, daß seine Idee gut war.

Er runzelte die Stirn. Pfeifers Flöte hing an Stanachs Gürtel. Obwohl Tyorl ihn zu überzeugen versucht hatte, das Instrument mit dem Magier zu begraben, hatte Stanach davon nichts wissen wollen.

»Ich habe ihn begraben«, hatte Stanach störrisch erklärt. »Ich werde nicht seine Musik begraben. Pfeifer war Hornfells Untertan. Ihm werde ich die Flöte bringen.«

Soweit sie das beurteilen konnten, hatte Lavims Flöten kein Unheil angerichtet. Doch was konnte alles noch mit der Flöte passieren! Wie Stanach gesagt hatte, war das Instrument nicht nur mit zahlreichen Sprüchen versehen, sondern hatte auch seine eigene Magie.

»Pfeifer sagte immer, sie hätte ihren eigenen Kopf«, hatte Stanach gemeint. »Manchmal wählte sie ein eigenes Lied, und dann war es völlig egal, was Pfeifer spielen wollte. Sagte er jedenfalls gern.«

Weiter hatte der Zwerg nichts gesagt, er hatte nur die Schnur mit der Flöte an seinem Gürtel festgemacht und war mit der Hand über das polierte Holz gefahren.

Tyorl sah den Kender an, der neben Kelida hüpfte und irgendeine unzusammenhängende Geschichte voller unwahrscheinlicher Begebenheiten spann. Immer wenn Lavim Kelida ansah, wanderte sein Blick zu Stanach und der Kirschholzflöte. Tyorl wäre glücklich gewesen, sowohl den Kender als auch die Flöte los zu sein. Wenn er Kelidas Lächeln sah, wußte er jedoch, daß sie sicher nichts davon hören wollte.

Er wagte nicht, darüber nachzudenken, warum es ihm wichtig war, was Kelida wollte.

Die Schatten wurden länger, und das Sonnenlicht verlor seine Wärme, als Tyorl Stanach nach vorn winkte. Kelida, deren Gesicht deutlich ihre Erschöpfung verriet, sank an einem flechtenbewachsenen Findling zu Boden und lächelte nur matt, als Stanach ihr im Vorübergehen ermutigend die Hand auf die Schulter legte.

Unaufgefordert – was ihn nicht im geringsten bekümmerte – folgte Lavim ihm. »Warum halten wir, Tyorl?«

Tyorl fuhr mit dem Daumen seine Bogensehne entlang. »Wir halten an, um zu jagen, Lavim. Du hältst an, um das Lager aufzubauen.«

»Aber ich will – «

»Keine Widerrede, Lavim. Hinter diesen Felsen liegt eine Senke.« Tyorl zeigte mit seinem Bogen auf ein paar Bäume, die sich aus dem steinigen Hang zur Linken erhoben. »Da findest du Wasser in einem Wildbach und sicher das nötige Feuerholz.« Er warf dem Kender seine Wasserflasche zu und wies Stanach an, das gleiche zu tun. »Füll die Flaschen und such dann Holz und Zunder.«

Lavim runzelte die Stirn, wobei sein Gesicht von einem Netz empörter Falten überzogen wurde. »Weißt du, daß ich die ganzen letzten Tage immer nur das Lager aufgebaut habe? Wieso darf Stanach jagen gehen, und ich muß dann das Fell abziehen und Holz und Zunder schleppen?« Er zog seinen Hupak vom Rücken und sah von einem zum anderen. Schnell, wie Kender sind, änderte sich sein Gesichtsausdruck in ein pfiffiges Lächeln. »Ich bin ein furchtbar guter Jäger.«

»Daran zweifelt auch keiner, Kenderchen«, knurrte Tyorl. »Was ich bezweifle, ist ob wir dir zutrauen können, daß du uns Abendessen bringst, wenn dir irgendein Vogel oder ein Busch oder eine Wolke in die Augen sticht.«

Lavim wollte streitlustig hochfahren, doch Stanach hob beschwichtigend die Hand.

»Er hat es nicht so gemeint, Lavim. Er meinte – «, Stanach hielt inne. Tyorl hatte genau das gesagt, was er meinte. Er versuchte es noch einmal. »Nun, jemand muß bei Kelida bleiben.«

»Ja, aber…«

»Dieser Jemand bist du. Du willst sie doch nicht kränken, oder?«

»Nein, aber ich verstehe nicht, wieso ausgerechnet ich – «

Tyorl wollte ungeduldig einschreiten, aber Stanach brachte ihn zum Schweigen. »Wenn Tyorl oder ich hierbleiben, dann kommt sie sich auf jeden Fall, na ja, beaufsichtigt vor. Sie denkt vielleicht, wir würden ihr nicht zutrauen, daß sie auf sich selbst aufpassen kann.«

»Tut ihr das nicht?«

»Wenn sie könnte, dann schon. Aber sie kann es nicht. Und du kannst so etwas besser als wir. Das liegt dir, Lavim.«

Der Kender hakte störrisch nach. »Kelida kann ihren Dolch benutzen. Ich hab’s ihr beigebracht und – «

»Oh, ist sie so eine gute Schülerin, hm? Wir können bestimmt bald alle von ihr lernen.«

Lavim holte tief Luft und stieß einen Seufzer aus. »Nein, natürlich nicht. Ich habe ihr noch nicht meinen doppelt fiesen Rückwärtswurf über die Schulter gezeigt – unter anderen. Aber, Stanach, ich – «

»Ach so? Willst du sie sich selbst überlassen, um das Lager aufzuschlagen, und einfach hoffen, daß sie noch da ist, wenn wir wiederkommen?« Er seufzte absichtlich. »Ich glaube, ich habe mich da in dir getäuscht.«

Lavim sah so aus wie einer, der schon ahnt, daß er geführt wird, aber er konnte der Frage nicht widerstehen. »Wieso?«

»Ich hatte gedacht, daß du Kelida unter deine Fittiche genommen hast. Du weißt schon, ihr das Messerwerfen beibringen, Geschichten erzählen, die sie von Müdigkeit und Angst ablenken.« Stanachs Augen waren so groß wie die eines Kenders, als er mit den Schultern zuckte. »Ich habe mich wohl geirrt.«

Tyorl unterdrückte ein Lächeln, als Lavim zu Kelida zurückschlurfte und dabei kleine Steine vor sich her trat. »Ich habe noch nie gehört, daß jemand versucht hat, vernünftig mit einem Kender zu reden. Und ich habe bestimmt noch nie gehört, daß es geklappt hat«, sagte Tyorl.

Stanach zuckte mit den Schultern. »Er hat Kelida wirklich gern. Ich dachte, ich könnte das ausspielen. Ich glaube nicht, daß der Trick jedesmal klappt.« Er wies mit dem Daumen auf Tyorls Langbogen. »Ich nehme an, ich soll die Moorhühner aufscheuchen?«

»Außer wenn du ein oder zwei Eichhörnchen mit dem Schwert erlegen willst.«

Stanach folgte dem Elf wortlos in den Wald.


Die Sterne versprachen gutes Wetter für den nächsten Tag. Die Monde, der rote und der silberne, hingen hoch am mitternächtlichen Himmel und beleuchteten den Wald. Schatten huschten wie Geister über den Boden.

Eines Tages, sagte sich Lavim, werde ich mich so leise wie ein Gespenst bewegen können. Er kauerte sich ans Ufer des Baches und schöpfte eine Handvoll eiskaltes Wasser. Ohne natürlich wirklich einer zu sein. Aber es wäre doch vorteilhaft.

Im Mondlicht glitzerte etwas, das direkt unter der Wasseroberfläche lag.

Lavims Finger glitten ins Wasser zurück und holten einen faustgroßen, glänzenden Stein aus dem Bachbett. Der rotbraune Stein war grün gemasert und schimmerte nicht. Gelbe und weiße Flecken tanzten auf seiner Oberfläche.

Wie Gold und Diamanten! Nun, wahrscheinlich waren es nicht gerade Gold und Diamanten. Eher etwas, wovon nur Zwerge und Gnome den Namen kannten.

Lavim steckte den Stein in einen seiner Beutel. Er hockte sich wieder auf die Fersen und betrachtete das Mondlicht, das sich auf dem Wasser spiegelte. Ein Graufuchs bellte hinter ihm im Dickicht. Eine Eule schrie hoch am Himmel, jenseits des Dachs des Waldes, und ein Kaninchen huschte zitternd vor Schreck in seinen Bau. Überall um den Kender raschelten die Blätter vom Kommen und Gehen der jagenden und gejagten Nachttiere. Warum eigentlich, fragte er sich, sagen die Leute immer ›still wie ein Nachtwald‹? Hier ist es lauter als auf einem Jahrmarkt! Der Kender lachte stillvergnügt. In letzter Zeit hatte er angefangen, Selbstgespräche zu führen. Wahrscheinlich weil ich alt werde, dachte er. Die Leute sagen immer, daß die Alten mit sich selber reden, weil sie wissen, daß sie die einzigen sind, die sich eine vernünftige Antwort geben können. Lavim suchte sich eine bequemere Position und setzte sich zurecht, um den Wald zu betrachten und im Mondlicht nachzudenken.

Eigentlich denke ich nur nach, grübelte er. Ich rede gar nicht mit mir selbst, weil ich nämlich überhaupt noch nicht so alt bin.

Sechzig ist wirklich nicht sehr alt. Vielleicht sind meine Augen nicht mehr das, was sie mal waren, aber ich konnte immer noch den guten Stanach vor den ganzen Drakoniern retten!

Er lächelte. Richtig. Und wenn wir schon bei Stanach sind…

Lavim wußte – und erkannte das mit einem sorglosen Schulterzucken an –, daß er die ganze Zeit eigentlich nur eines gemacht hatte (neben den Selbstgesprächen natürlich): Er hatte versucht, eine Antwort auf das Problem zu finden, wie er Pfeifers Flöte in die Hände bekommen konnte. Stanach hatte sie den ganzen Tag nicht aus den Augen gelassen. Alles, was ich will, redete sich Lavim ein, ist, sie für ein oder zwei Minuten zu borgen. Dann könnte ich sehen, warum ihm die Flöte eigentlich so wichtig ist, wo sie doch Pfeifer gehört hat und die beiden so gute Freunde waren. Armer Stanach. Er muß einsam sein, so ohne Pfeifer. Er hat sich richtig darauf gefreut, Pfeifer wiederzusehen. Er ist weit weg von zu Hause und hätte bestimmt gern ein vertrautes Gesicht gesehen. Auch wenn man meinen sollte, daß er glücklich wäre, das Schwert zurückzubringen. So, wo war ich? Ach ja. Die Flöte. Er wäre wirklich glücklich, wenn er hinterher merken würde – nachdem ich sie erst einmal in der Hand gehabt habe –, daß er sie nicht verloren hat, sondern daß ich sie nur geliehen habe.

Lavim grinste zu den Monden hoch. Er hegte nicht den geringsten Zweifel, daß er es schaffen würde, die Flöte zu bekommen. Es war nur eine Frage der richtigen Gelegenheit.

Das lange, leichte, rotbraune Kirschbaumholz beschäftigte den Kender, seit er es zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte ihr nur ein, zwei Töne entlocken können, bevor Stanach ihm das Instrument entrissen hatte. Jetzt fragte er sich, was für ein Zauber in der Flöte eines Magiers schlummern mochte. Vielleicht einer, der einem Lieder beibrachte?

Lavim schlang die Arme um die angezogenen Knie. Ja, die Art, die einem Lieder beibringt. Er verstand nichts von Liedern und Musik, aber er wußte einfach, daß sich das ändern würde, wenn er Pfeifers Flöte in den Händen hielt.

Der Kender kam staksig auf die Beine. Der Boden war kalt, und er hatte noch nichts zum Frühstück erlegt. Das war so ziemlich das einzige, was man ihn tun ließ, außer Lager aufbauen, Holz sammeln, Wasser holen und Lager abbauen.

Er schlüpfte in die Schatten und sann über verzauberte Flöten, Kaninchen und heiße Brühe aus den Resten der Moorhühner nach.


Der aufsteigende Rauch verbreitete immer noch den Duft des gebratenen Moorhuhns. Stanach sah zum Lager hinunter und fragte sich, wann Kender wohl schliefen. Lavim war nirgends zu sehen. Kelida schlief nah beim Feuer. Tyorl, der an einen Weißdorn lehnte, hatte im Schlaf den Kopf auf seine Knie gelegt.

Nicht mehr lange, dachte Stanach, als er hinunterkletterte. Tyorl hätte die Wache längst übernehmen sollen, und der Zwerg würde nicht länger auf ihn warten. Jetzt wollte Stanach nur noch einen Augenblick die Wärme des Feuers genießen und sich dann einen nicht zu steinigen Schlafplatz suchen.

Das Feuer warf dunkle Schatten an die Bäume und ließ sie aussehen, als wenn sie sich in einem leisen Wind wiegten. Stanach sah Sturmklinge unter Kelidas ausgestreckter Hand. Die Friedensknoten an der Scheide waren aufgegangen, und die Klinge hing halb aus der Scheide. Er kniete sich hin, um das Schwert zurückzuschieben.

Seine Handfläche berührte die rauhe Stelle an der Versilberung. Er hatte das Silber geglättet, als das Königsschwert gestohlen worden war, als die Wände der Schmiede vor seinen Augen eingestürzt waren. Feuer war in seinem Kopf explodiert, und er hatte Blut gespürt, das ihm den Hals hinunterlief, bevor Dunkelheit die Welt verschlang und er betäubt auf den Boden gefallen war.

Ein rotes Licht pulsierte in dem Stahl, und das kam nicht vom Feuer. Stanach zog Sturmklinge vorsichtig aus der Scheide. Kelidas Atem blieb ruhig und gleichmäßig. Er stand langsam auf, ging zur Seite und hielt Sturmklinge auf beiden Händen.

Für dieses Schwert war Kyan Rotaxt gestorben. Und auch Pfeifer war dafür gestorben.

Realgars Männer mußten den Magier gesucht haben. Sie mußten den Steinhügel gesehen haben. Ich hätte ihn nicht bauen sollen, dachte er und schüttelte dann den Kopf. Nein, früher oder später hätten die Theiwaren Pfeifers Körper ohnehin gefunden. Wegen der Aaskrähen. Stanach erschauerte.

Tu, was du tun mußt. Das war das letzte, was Pfeifer ihm gesagt hatte.

Das tue ich, dachte Stanach.

So hatte er es die ganze Zeit geplant. Pfeifer finden, das Schwert nehmen und zu Hornfell zurückkehren. Wenn er jetzt das Schwert nahm, konnte er seine Gefährten dem Tod überlassen, falls die Theiwaren sie einholten.

Stanach sah Kelida an. Ihre Gedanken waren so leicht zu lesen! Er fragte sich, wann sie wohl merken würde, daß sie sich in den halbbetrunkenen Waldläufer verliebt hatte, der ihr das Schwert gegeben hatte.

Wenn sie erfährt, daß er tot ist, flüsterte die Stimme in seinem Kopf. Sie wird es wissen, wenn sie endgültig erfährt, daß er tot ist.

Stanach betrachtete das Königsschwert in seinen Händen. In jener ersten Nacht in Qualinesti hätte er es gern genommen. Er hätte sie, Tyorl und Lavim ohne Zögern im Wald zurückgelassen und sich nach Thorbardin aufgemacht. Weil er das nicht konnte, hatte er das Zweitbeste getan: Er hatte Kelida einen Grund geliefert, Sturmklinge nach Thorbardin zu bringen. Er hatte ihr sozusagen einen toten Mann als Liebhaber vorgeschlagen.

Es tut mir leid, hatte sie gesagt, als er um Pfeifer trauerte. Sie hatte lange neben ihm gesessen, seine Hand gehalten und ihm warm und wortlos zu verstehen gegeben, daß er wenigstens in jenem Moment nicht allein war. Der Trost, den sie ihm angeboten hatte, war so selbstverständlich wie der einer Verwandten, wie das stillschweigende Verständnis einer Schwester.

Obwohl er wußte, daß er jetzt gehen müßte, daß er mit dem Königsschwert im Wald verschwinden müßte, daß er Zeit schinden sollte, indem er die drei hier den Theiwaren überließ, kniete Stanach sich hin und steckte Sturmklinge wieder in die Scheide.

Genau, dachte Stanach, du verstehst es, nicht wahr? Du hast Familie und Freunde verloren. Du verstehst es, lyt Chwaer, kleine Schwester.

Er zog die beiden Lederbänder an den Seiten der Scheide fest, die Friedensknoten, und stand leise auf, um Tyorl zu wecken.

Загрузка...