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Die Bürger von Langenberg hatten sich nie besonders für Glaubensfragen interessiert, bis zu dem Tag, als der rote Drache zuschlug. Die Stadt beherbergte Anhänger der Religion der neuen Götter, der Religion der alten Götter und der verbreiteteren Religion der Gleichgültigkeit. Hier in Langenberg waren die Sucherfürsten keine Eiferer, und die Gläubigen der alten Götter machten nicht viel Aufhebens um ihr Bekenntnis. In manchen Städten schlugen sich Andersgläubige gegenseitig die Köpfe ein. In Langenberg verlief das Leben in Ruhe und Beschaulichkeit. Es war zu schön für religiöse Streitigkeiten.

Satt von den Produkten der fruchtbaren Höfe im Flußtal und dem Wild, das in Feld und Wald reichlich vorhanden war, bewies Langenberg den alten Spruch, daß der hungrige Mann kämpft, während der wohlgenährte zufrieden lächelnd seinem nächsten Mahl entgegensieht. Als im Norden Solace zerstört wurde, hätten die Bewohner von Langenberg zum Himmel schauen sollen. Doch das taten sie nicht.

Als Verminaard in seiner roten Rüstung, vom leichten Sieg über Solace gestärkt, anrückte, nahm er Langenberg in einem Tag ein. Er brauchte kein ganzes Drachenheer, nur einen einzigen, seinen feuerroten Ember. Auch seine Soldaten, die noch nach verbranntem Vallenholz und Tod stanken, brauchte er kaum.

Während seine Armee die Stadt überrannte, setzten Verminaard und der rote Drache Ember die Höfe im Tal in Brand. Unbarmherzig brachten sie Zerstörung und Tod. Bis die Felder zu brennendem Ödland geworden waren, hatten seine Truppen Langenberg umstellt, waren einmarschiert und hatten die Stadt erdrosselt, wie das nasse Lederband eines Folterknechts beim Trocknen schrumpft und die Kehle des hilflosen Opfers zuschnürt.

Der Drachenfürst gab seinen Soldaten die Freiheit, ihren Blutdurst zu befriedigen. Als die halbe Stadt zerstört und ein großer Teil der Bevölkerung tot war oder als die Sklaven für die Minen von Pax Tarkas ausgesondert waren, machte Verminaard dem Plündern, Schänden und Morden ein Ende. Er übergab dem Offizier Karvad das Kommando über die besetzte Stadt und trug ihm auf, jeglichen verbliebenen Reichtum aus der Stadt und ihren Bewohnern herauszupressen. Der dunkeläugige, hagere, junge Karvad erinnerte jeden, der ihm begegnete, an einen Vielfraß, auch wenn mancher diesen Vergleich gegenüber dem mißlaunigen, verschlagenen Tier wohl ungerecht fand.

Scheußliche Drakonier, betrunkene menschliche Soldaten und sogar Goblins bevölkerten jetzt die Straßen von Langenberg. Es waren brutale, zügellose Sieger, die sich nahmen, was sie wollten, wann sie wollten, und ohne Zögern jeden umbrachten, der sich dagegen wehrte. Sie waren wie Wölfe in einer Herde ohne Schäfer.

Während die Elfen den Menschen die Schuld in die Schuhe schoben, gaben die Zwerge, die voller bitterer, uralter Verachtung in ihrer Bergfeste Thorbardin hockten, beiden Rassen wegen ihrer vergangenen und gegenwärtigen Sünden die Schuld. Sie hätten sie auch gerne für die zukünftigen Sünden verurteilt.

In Langenberg versuchten die Menschen Tag für Tag, die Besatzung durch die brutale Armee des Drachenfürsten Verminaard zu überleben. Als sich die Sklaven in den Minen von Pax Tarkas erhoben und in die Berge flüchteten, wandte Verminaard seine Aufmerksamkeit von dem unbedeutenden Langenberg ab und überließ den Ort völlig Karvad.

In den kalten, dunklen Spätherbstnächten fragten sich die Menschen in Langenberg, ob sie ihren Göttern nicht besser mehr Aufmerksamkeit hätten widmen sollen.


Das Wirtshaus hieß einfach ›Tenny’s‹ und war – soweit das möglich war – eine freie Taverne. Das bedeutete, daß es nur gelegentlich von den Drakonieroffizieren der Besatzer besucht wurde und den gemeinen Soldaten auf Anordnung von Karvad verboten war. Es war ein offenes Geheimnis, daß Karvads Spione häufig herkamen, obwohl ihre Anliegen meistens mit Dingen zu tun hatten, mit denen die Stadtbewohner nichts zu schaffen hatten. Doch genau deswegen hatte Karvad der Taverne den freien Status gegeben.

Tyorl beobachtete Hauk über den Rand seines Bierkrugs. Hauk war genau die Sorte Mensch, die Finn am liebsten unter seinen Waldläufern hatte, in seiner Alptraum-Truppe. Jung und kühn, voller Haß auf die Drachenarmee im allgemeinen und Verminaard im besonderen. Jeder Mann oder Elf in der Gruppe hatte Freunde oder Verwandte durch Verminaards Drakonier verloren. Hauks Dorf war von den wilden Kriegern dem Erdboden gleichgemacht worden; den alten Vater, seinen einzigen Verwandten, hatten sie getötet. Tyorl, dessen eigene Sippe sicher nach Qualinesti entkommen war, hatte Freunde und die Heimat verloren. Die beiden waren typische Vertreter von Finns Waldläufern.

Finns Männer durchstreiften das östliche Grenzland zwischen Qualinesti und dem Kharolisgebirge, weil es ihnen Freude machte, ihren Unmut an einzelnen Drakonierpatrouillen auszulassen. Finn sah keinen Grund, sich den Status vom ›Tenny’s‹ nicht zunutze zu machen, und hatte Hauk und Tyorl losgeschickt, damit sie etwas über Karvads Pläne bezüglich der Patrouillen in dieser Gegend in Erfahrung bringen sollten.

Heute nacht hatte Tyorl etwas gehört, was das Gerücht über eine Truppenverlegung ins Kharolisgebirge bestätigte. Der Drachenfürst würde nicht nur Truppen verlagern, sondern auch eine Versorgungseinheit. Verminaard war immer noch wütend über den Verlust seiner achthundert Sklaven und suchte einen Weg, seinen verletzten Stolz zu besänftigen. Darum wollte er den Krieg nach Süden und Osten ausweiten. Er wollte Thorbardin einnehmen – und das noch vor dem Winter.

Der Führer der Waldläufer würde knurren, wenn er von Verminaards Plänen hörte, und das meiste von seinem Knurren würde sich gegen Thorbardin richten. Finn schimpfte unablässig über die Zwerge, denen es zwar gefiel, daß Einheiten der Waldläufer die Grenzen von Thorbardin beschützten, die sich aber immer noch gegen den Eintritt in den Krieg sträubten. Doch das würde ihn nicht davon abhalten, die Schergen des Drachenfürsten nach Kräften zu dezimieren.

Hauk legte sein Schwert auf den Tisch neben seinen Dolch mit dem Horngriff. Das Licht des Kaminfeuers streichelte das goldene Heft des Schwerts mit seinem silbernen Überzug und den fünf Saphiren. Das Licht erwärmte die perfekten, kalten Facetten der Edelsteine und beleuchtete den dünnen, roten Streifen, der im Herzen der Stahlklinge zu pulsieren schien. Die vier Männer am Nachbartisch, die getrunken und sich im Messerwerfen geübt hatten, wurden still.

Aha, dachte der Elf, Scherereien. Er hoffte, er würde sie beide heil und in einem Stück zu Finn zurückbringen. Tyorl setzte ein schiefes, möglichst unverfängliches Lächeln auf.

»Das ist ein schönes Schwert«, begann der größte von den Männern mit schleppender Stimme. Er rieb sich mit der Faust über das struppige Kinn, auf dem ein Siebentagebart sprießte, und hob seinen Krug, um auf die Klinge zu trinken. Das Bier schwappte über den Rand des Kruges und lief ihm über Hand und Arm.

Als Hauk den Mann aus Langenberg erkannte, betrachtete er mit schiefgelegtem Kopf das Schwert, als würde ihm jetzt erst auffallen, daß es wirklich ein schönes Stück war. Er nickte mit offenem, unschuldigem Lächeln. »Genau. Reicht das für eine Wette, Kiv?«

Kiv sah sich am Tisch um. Seine drei Kumpane nickten. Ihre Nasen steckten tief in ihren Krügen, ihre Augen waren zusammengekniffen, als wollten sie nicht zeigen, wie groß ihr Interesse an der Sache war. Diese Saphire waren ein Vermögen wert! Kiv schaute den Elf Tyorl an.

Der Elf zuckte nur mit den Schultern. »Es ist sein Schwert. Ich denke doch, er kann es setzen, wenn er will.«

Kiv wischte sich grinsend die biernasse Hand am Bein ab. Seine Lederhosen waren steif vor Schmutz. »So ist es.« Er drehte sich zu Hauk. »Also los, Kleiner, ich bestimme das Ziel. Wenn du verfehlst oder ablehnst, gehört das Schwert mir.«

Hauk legte seine Hände locker auf den dicken Holztisch, wobei er immer noch mit entwaffnender Unschuld lächelte. Nur der Elf sah die Kälte in Hauks Augen.

Seufzend nahm Tyorl seinen Krug und setzte sich an die Wand. Er kannte Hauk seit drei Jahren. In diesen drei Jahren hatte er gelernt, daß er sich darauf verlassen konnte, daß Hauk ihm im Kampf den Rücken deckte. Er würde sich zwischen Tyorl und eine Schwertklinge werfen, wenn es sein mußte. Doch er hatte auch gelernt, sich nicht einzumischen, wenn Hauks Augen so eisig blitzten.

Er und Hauk hatten den ganzen Abend gegen Essen und Trinken Messerwerfen gespielt und hatten bis jetzt noch keinen Krümel, keine Runde zahlen müssen. Das war auch gut so. Ihr letztes Geld war für die Übernachtung draufgegangen, und in ihren Geldbeuteln herrschte Ebbe. Hauk prahlte gern damit, daß er sie nur mit seinem Köpfchen und seinem Dolch durchbringen konnte. Normalerweise löste er sein Versprechen ein, doch diesmal spürte Tyorl, daß ein anderes Spiel gespielt wurde.

Keiner bot Speis und Trank als Einsatz an. Kivs Beutel am Gürtel hatte zu Beginn des Abends vor Stahlmünzen geklimpert. Obwohl er noch betrunkener war als eine Stunde zuvor, war der große Mann doch nüchtern genug, um zu wissen, daß er die Verluste dieses Abends wieder gutmachen mußte, wenn er morgen etwas zu essen haben wollte.

»Das Schwert«, sagte Kiv gedehnt, »gegen was?«

»Sag du etwas.«

Kiv lehnte sich zurück. Der Holzstuhl knarrte leise. Er faltete die Hände gemütlich über seinem Bauch und starrte an die niedrige Wirtshausdecke mit den schwarzen Balken. »Alles in den Beuteln meiner Freunde.«

Den dreien wurde unbehaglich. Einer hob zu einem Protest an. Kiv, dessen Augen immer noch an den rauchigen Balken hingen, wies nur abwesend auf das Schwert, als wollte er den Mann auf das Gold, das Silber, die Juwelen aufmerksam machen. Der Mann unterwarf sich mit einem gierigen Funkeln in seinen kleinen, dunklen Augen.

Hauk schnaubte. »Woher weiß ich, daß noch irgend etwas in diesen Beuteln ist?«

Kiv schnippte mit den Fingern, woraufhin die drei ihre Beutel auf den Tisch legten. Weder Hauk noch Tyorl überhörten den vollen, schweren Klang von Geld, das gegen Geld schlägt.

Der Elf mit seinen schläfrigen Augen lächelte wieder. Die Münzen waren nicht einmal ein Hundertstel des Schwertes wert, aber Hauk würde nicht verfehlen. An die Wand gegenüber hatte jemand eine graue, entfernt menschenähnliche Gestalt gezeichnet. Ein Weinfleck war das Herz. Von den zwei Dutzend Treffern in das Herz der Zielscheibe stammten nur fünf nicht von Hauk.

Um sie herum brandete Gemurmel auf. An einem Tisch nahmen vier Männer aus der Stadt frische Bierkrüge vom Schankmädchen entgegen und drehten ihre Stühle um, damit sie besser sehen konnten. Andere setzten sich zurecht, weil sie eine spannende Wette witterten.

Auf der anderen Seite der langen Gaststube beugten sich zwei dunkel gekleidete Zwerge etwas vor. Nicht genug, um besonders interessiert zu wirken, stellte Tyorl fest. Das an sich war schon bemerkenswert, wenn er bedachte, daß die beiden bisher nur für ihr eigenes Gespräch Interesse gezeigt hatten.

Das Schankmädchen, dessen Holztablett jetzt leer war, ging von dem Tisch neben Tyorl weg. Gewandt bahnte es sich erhobenen Hauptes einen Weg durch die Tische, wobei es betont den Händen der lachenden Stammgäste der Taverne auswich. Ihr Haar hatte die Farbe des Sonnenuntergangs und leuchtete im Feuerschein wie Kupfer. Es hing ihr in zwei dicken Zöpfen über die Schultern. Hübsches Ding, dachte Tyorl abwesend.

Kiv sah über seine Schulter, rutschte weiter in seinem knarrenden Stuhl zurück und schloß die Augen. »Das Ziel ist das Mädchen«, sagte er weich.

Hauk setzte einen gespielt amüsierten Ausdruck auf und kratzte sich am Bart. »Er meint ihr Tablett, nicht wahr, Tyorl?«

Einen Augenblick lang glaubte Tyorl ganz und gar nicht, daß Kiv das Tablett meinte. Er nahm einen langen, gelassenen Schluck und setzte den Krug dann wieder auf den Tisch. Als ob er über Hauks Frage nachdächte, blickte er von dem Mädchen, das schon halb an der Theke war, zu Hauks Dolch auf dem Tisch. Auf der Klinge glitzerte verschüttetes Bier.

»Natürlich meint er das Tablett.« Tyorl zog seinen eigenen Dolch aus der Scheide. »Oder, Kiv?«

Kiv hielt die Augen geschlossen. Er grinste das faule, gefährliche Grinsen einer Katze. »Natürlich. Das Tablett. Genau in die Mitte, sonst gilt der Treffer nicht.«

Der Mann, der gegen den Einsatz seiner Börse gewesen war, lachte nervös. »Keine Punkte, wenn die Kleine getroffen wird?«

Auf der Kante von Tyorls Dolch tanzte das Licht des Feuers. Kiv öffnete die Augen, sah das Schwert und zuckte mit den Schultern. »Kein einziger«, sagte er nachdrücklich.

Jetzt war der Raum still, bis auf die leisen Schritte des Mädchens, das zur Theke lief. Niemand bewegte sich. Langsam drehte es sich um, das hölzerne Tablett in der Hand, weil es plötzlich merkte, daß alle es anschauten.

Als Hauks Finger sich um den Griff seines Dolches schlossen, waren seine Augen so hart wie die blauen Saphire seines Schwertes. Tyorl konnte ihn fast denken hören: Schlechte Wette! Aber er würde sich nicht herausreden.

Tyorl fluchte in sich hinein. Den eigenen Dolch immer noch in der Rechten, griff er sich mit der Linken einen Bierkrug und warf damit.

»Mädchen! Runter!«

Die grünen Augen weit aufgerissen, duckte sich das Schankmädchen und hob dabei das Tablett über den Kopf, um den Krug abzuwehren. Hauks Dolch zischte durch die Luft, ein silberner Blitz, dem das Auge nicht zu folgen vermochte.

Das Mädchen schrie, jemand brach in atemlosen, besoffenen Jubel aus, und dann waren die einzigen Geräusche das dumpfe Eindringen des Stahls in das Holz und das entsetzte Schluchzen des Schankmädchens. Dieses Schluchzen hing einen Augenblick in der Luft, bis es unter hochschlagendem Stimmengewirr und dem Knall eines umfallenden Stuhls verschwand. Einer der Männer aus der Stadt vom Nachbartisch lief zu dem Mädchen. Es war ohnmächtig geworden.

Das Serviertablett lag ebenfalls auf dem Boden. Genau in seiner Mitte zitterte Hauks Dolch.

Einer der Zwerge am anderen Ende der Taverne, ein Einäugiger mit schmalem Gesicht, stand auf und verließ die Wirtsstube. Frische, kalte Luft wehte in die Taverne. Der blaue Rauch des Kaminfeuers tanzte, um sich dann zu beruhigen, als die Tür sich hinter ihm schloß.

Tyorl bemerkte die Bewegung. Sein Freund raffte sich auf und schob das Schwert in die Scheide. Das Gesicht über dem kurzen, schwarzen Bart war erbleicht. »Genau in die Mitte, Kiv.«

Kiv schloß wieder die Augen. Er wollte nicht hinsehen. Eine leise Röte zog sich über sein Gesicht.

Tyorl schnappte sich die drei Geldbeutel vom Tisch. »Geh und entschuldige dich bei dem Mädchen, Hauk. Unsere Freunde wollen sich jetzt verabschieden.«

Kiv schüttelte den Kopf. »Ich kann nirgends hin.«

»Dann such dir einen Platz.« Tyorls Daumen fuhr am Heft seines Dolches entlang. »Du hast heute nacht genug getrunken und gespielt. Deine Taschen sind leer.«

Kiv sah von Tyorls Dolch zu Hauks Hand, die auf dem Heft seines eingesteckten Schwertes lag. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, weil seine Freunde aufstanden.

»Na los«, sagte einer verdrießlich, »du hast unser Geld verspielt, Kiv. Laß uns wenigstens unsere Köpfe, ja?«

Kiv leckte sich über die Lippen und holte vorsichtig Luft. »Ich finde, man hat uns übers Ohr gehauen. Du hast dich eingemischt, Elf.«

»Nein«, sagte Tyorl einfach.

Zwischen Hauks Fingern strahlten Saphire wie kalte, blaue Augen. Kiv machte einen Schritt vor, aber die Hand seines Kumpels fiel ihm hart auf die Schulter und hielt ihn fest.

»Komm schon, Kiv. Gib’s auf.«

Tyorl lächelte.

Der große Mann kam mit einem Ruck auf die Beine, stieß den Stuhl hinter sich weg und zog von dannen. Hauk ließ sein Schwert los und ging durch den Raum, um seinen Dolch zurückzuholen.

Tyorl lehnte sich wieder an die Wand. Er konnte es kaum erwarten, Langenberg hinter sich zu lassen.


Der schale Geruch von verschüttetem Bier mischte sich mit dem sauren Gestank ungewaschener Spüllappen. Im Nebenraum hockte Kelida mit klappernden Zähnen und schluckte heftig. Sie schloß die Augen und sah wieder das Licht des Feuers über die Dolchklinge flackern.

Sie hörte ein Stöhnen, das sie als ihr eigenes erkannte. Er hätte sie fast umgebracht! Draußen in der Gaststube wurde wieder in normaler Lautstärke geredet. Tenny, der Wirt, gab dem Putzjungen eine kurze Anweisung. Aus dem Faß an der Tür ergoß sich Bier in einen Krug.

Sie arbeitete erst zwei Wochen in der Taverne, aber das erste, was sie gelernt hatte, war, einem Dolch aus dem Weg zu gehen. Tenny bewunderte diesen Sport und machte sich nichts daraus, daß seine Wand als Ziel diente. Er schien sich auch nichts daraus zu machen, daß gerade eben seine Kellnerin das Ziel gewesen war.

Allmählich kehrte ihr Bewußtsein zurück. Jemand hatte sie aufgerichtet und ihr Wasser ins Gesicht gespritzt. Dann hörte sie Schritte hinter sich. Sie drehte sich um. Es war der junge Messerwerfer.

Sein Dolch steckte wieder in seinem Gürtel. Das Gesicht unter der gebräunten Haut war grau, als er sich neben sie hockte, und Kelida merkte, daß er schwitzte.

»Es tut mir leid«, sagte er. Seine Stimme war tief, und als er versuchte, leise zu sprechen, brach sie leicht.

»Du hast mein Leben aufs Spiel gesetzt«, klagte sie ihn an.

Er nickte. »Ich weiß.«

Als er seine große, schwielige Hand ausstreckte, zuckte Kelida zurück. Er war wie ein Bär: untersetzt, mit breiten Schultern und einem schwarzen Bart. Nur seine Augen waren nicht bärenähnlich; sie waren blau. Als ihr plötzlich bewußt wurde, daß er zwischen ihr und der Tür zum Schankraum stand, wandte sie den Blick nicht mehr von ihm ab. Er las die Wut auf ihrem Gesicht und sprang auf. Dann trat er zurück, um ihr den Weg zur Tür freizumachen.

»Es tut mir leid«, wiederholte er.

Kelida wollte zur Tür. »Laß mich bloß in Ruhe!«

»Es ist vorbei«, sagte er. Dann lächelte er, und seine Lippen verzogen sich selbstverächtlich. »Es tat mir schon leid, als der Dolch losflog.«

Ohne nachzudenken, baute sich Kelida mit geballten Fäusten vor ihm auf. »Würde es dir noch mehr leid tun, wenn ich tot wäre?«

Er wich nicht aus. »Aber ich hatte nicht vor, daneben – «

»Du hast mit meinem Leben gespielt!« Auf einmal glühte sie vor Zorn und Wut. Kratzend und tretend stürzte sie sich auf ihn. Sie fuhr ihm mit den Fingernägeln durchs Gesicht. Bis er ihre Handgelenke mit seiner einen großen Hand gepackt hatte, sah sie bereits Blut aus den Kratzern über seinem Bart quellen. Er hielt ihre Hände hoch und von seinem Gesicht fern. Sie spuckte ihm in die Augen.

Mit der Rückseite seiner freien Hand wischte er sich das Gesicht ab und zog sein Schwert. In diesem Moment sah Kelida seine blauen Augen sehr deutlich. Er zögerte und ließ dann plötzlich ihre Hände los.

»Es tut mir leid. Ich habe wirklich dein Leben aufs Spiel gesetzt.« Er wog das Schwert in seinen beiden, offenen Händen und hielt es ihr wie anbietend hin. Die Saphire auf dem Griff sogen alles Licht in dem düsteren Lagerraum in sich auf und ließen die Steine wie Zwielicht schimmern. Ein dünner, roter Streifen zog sich durch den scharfen, blauen Stahl, als wäre er die Seele der Klinge.

Kelida wich zurück, denn sie verstand die Geste nicht.

»Nimm es.«

»Ich – nein. Nein. Ich will es nicht.«

»Es gehört mir. Ich kann es also auch verschenken.« Er lächelte aufmunternd. »Das habe ich heute abend gesetzt. Nimm du es; rechtmäßig gewonnen, weil dein Leben auf dem Spiel stand.«

»Du bist betrunken.«

Er senkte den Kopf. »Betrunken? Aber ja, ein bißchen bestimmt. Doch ob betrunken oder nüchtern, ich gebe dir dieses Schwert.«

Da sie sich nicht anschickte, die Waffe zu nehmen, legte er sie ihr zu Füßen auf den Boden. Er löste die einfache Lederscheide von seiner Hüfte und legte sie neben das Schwert. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging.

Lange starrte Kelida diese Kostbarkeit aus Gold, Stahl und Juwelen an. Dann ging sie sehr vorsichtig um das Schwert herum, als wäre es nicht kalter Stahl, sondern eine Schlange, und trat in den rauchigen Bierdunst des Schankraums.

Der junge Mann ging gerade nach draußen. Sein Freund, der Elf, lehnte bequem an der Wand. Er sah von seinem Bierkrug auf, schenkte ihr einen langen, nachdenklichen Blick und hob grüßend den Krug. Kelida wich seinem Blick aus.

Die Männer am Nachbartisch des Elfen standen auf. Wieder drang frische Luft in die Taverne, als sie aufbrachen. Der Tisch blieb nicht lange leer. Ein Zwerg mit schwarzem Bart nahm dort Platz. Er warf sein Bündel auf den Boden, nahm eine alte Lederscheide vom Rücken und legte sie griffbereit neben sich. Dann winkte er nach etwas zu trinken, und Kelida machte sich wieder an die Arbeit.


Der einäugige Zwerg, der vor der Taverne lauerte, hatte keinen Rang und – was schlimmer war – keinen Clan. Die Theiwaren waren trotz allem Zwerge von Thorbardin und sahen in einem clanlosen Zwerg nicht viel mehr als einen lebenden Geist. Er war ein Geschöpf, das man ignorierte, an dem man vorbeisah, als würde es nicht existieren. Kein überflüssiges Wort wurde je von Realgars Wachen an ihn gerichtet. Im normalen Verlauf des Gemeinschaftslebens gab es einen wie ihn einfach nicht. Niemand wußte, was der clanlose Wachmann getan hatte, um ein solches Schicksal zu verdienen, auch wenn viele darüber spekulierten.

Manche sagten, er hätte auf Befehl des Lehnsherrn eine Todsünde begangen. Andere hingegen sagten, er hätte aus eigenem Antrieb zum Besten des Lehnsherrn gehandelt. Egal, warum er es getan hatte, Realgar schätzte ihn sehr.

Zaubererblut rann in seinen Adern, und obwohl er selbst kein voll ausgebildeter Zauberer war, kannte er sich in den einfachen Gefilden der Magie soweit aus, daß er kleinere Sprüche wirken und als Realgars Auge und Stimme dienen konnte. Durch seine Augen sah der Lehnsherr; mit seiner Stimme sprach der Lehnsherr.

Sein Name war Agus. Bei den Theiwaren war er als der Graue Herold bekannt. Es wurde gemunkelt, der Graue Herold könnte einem Mann die Kehle aufschlitzen und ihm dabei ins Gesicht lächeln.

In den dunklen Schatten der Gasse zwischen Taverne und Stall wartete Agus jetzt auf Hauk. Am jenseitigen Ende der müllübersäten Straße lagen die Pferche des Stalls und die Schmiede. Dort wartete Ruel, der Begleiter des Grauen Herolds.

Drüben liefen zwei Soldaten der Drachenarmee, beides Menschen, schwankend zu ihrem Quartier. Betrunken, dachte der Graue Herold. Kein Problem für mich.

Aus dem Stall kam das ungeduldige Stampfen eines Pferdes, das gegen seine Box trat. Der Zwerg fühlte das Holz an seinem Rücken bei dem Tritt zittern. Ein Stallbursche fluchte, und das Pferd wieherte schrill.

Die Tür der Taverne ging auf. Licht und Lärm quollen auf die Straße und versiegten dann wieder, als die Tür sich schloß. Der Graue Herold löste sich mit dem Dolch in der Hand von der Stallwand. Hohle, langsame Schritte kamen näher. Weiter unten in der Gasse trat Ruel aus dem Schatten.

Der Graue Herold holte kurz Luft und spähte auf die Straße. Mit gesenktem Kopf ging Hauk nachdenklich von der Taverne weg in die Richtung, die aus der Gasse herausführte. Lächelnd bewegte der Graue Herold blitzschnell die Hand. Im Schatten der Gasse seufzte Magie.

Hauk blieb an der Straßenecke stehen und legte den Kopf schief, als hätte er seinen Namen vernommen. Er sah in die Richtung, aus der er gekommen war, erblickte aber niemanden. Die Straße war leer. Alles, war er jetzt hörte, war das gedämpfte Gelächter aus der Taverne. Der Herold bewegte wieder die Hand, diesmal zu einer komplizierteren Figur.

Obwohl er glaubte, daß er weiter die Straße hinunterging, trat Hauk in die Gasse zurück. Der Schlafspruch des Zwerges wirkte. Der Einäugige bezweifelte, ob Hauk sich überhaupt an den langsamen Fall erinnern würde.


Kelida stellte den letzten Stuhl hoch und tauchte den Schrubber in einen Holzbottich mit schmutzigem Wasser. Jetzt war es still in der Taverne, abgesehen von dem Töpfeklappern in der Küche und Tennys Gefluche, als er die leeren Bierfässer in die Gasse rollte. Mit dem Handrücken strich sie die Haare zurück, die sich aus ihren Zöpfen gelöst hatten. Mit wunden Füßen und wehen Armen vom Tragen der vollen Bierkrüge fühlte sie sich heute nacht müder als je zuvor. Nicht einmal während der Erntezeit, wenn Feld um Feld voll Mais, Weizen und Heu zu schneiden, zu binden und wegzutragen war, hatte sie solche Müdigkeit empfunden.

Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Unwillkürlich bildeten sich Tränen hinter ihren Augen. Dieses Jahr würde es keine Ernte geben. Und nächstes Jahr auch nicht. Jemand hatte mit Galgenhumor gesagt, die Höfe wären von der Pest befallen. Der Drachenpest.

Nein, dachte Kelida jetzt, ein einziger Drache. Einer hatte gereicht. Sie würde noch lange, lange Alpträume von jenem Tag haben, an dem der rote Drache zugeschlagen hatte.

Als sie hörte, wie sich die Vordertür öffnete, drehte sie sich um. Ein Herbergsgast, der spät zurückkommt, dachte sie und schaute, wer eingetroffen war. Der Elf, dessen Freund beim Messerwerfen um ihr Leben gewettet hatte, schloß leise hinter sich die Tür. Kelida bückte sich nach ihrem Eimer, woraufhin der Elf mit drei langen Schritten den Raum durchquerte und ihn ihr aus der Hand nahm.

»Laß mich«, sagte er. »Wo kommt das hin?«

Kelida zeigte hinter den langen Schanktisch. »Danke.« Sie ging hinter den Tisch, um zu Ende zu putzen.

Der Elf ließ den Eimer an der Küchentür stehen und kam in die Gaststube zurück. Er stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke und sah Kelida schweigend beim Arbeiten zu.

»Das Wirtshaus ist geschlossen«, sagte sie zu ihm, ohne ihre Augen vom Putzen abzuwenden.

»Ich weiß. Ich will gar nichts trinken. Ich suche Hauk.«

»Wen?«

»Hauk.« Tyorl lächelte ein wenig und ahmte einen Messerwurf nach. »Du hast ihn vorhin kennengelernt. Hast du ihn gesehen?«

»Nein.« Kelida schrubbte verbissen an einem klebrigen Weinfleck.

»Scheint dir egal zu sein, ob du ihn jemals wiedersiehst.«

Jetzt blickte sie ihn an. Seine schrägen, blauen Augen blitzten vor Spaß. Im Gegensatz zu seinem kräftigen, muskulösen Freund war dieser Elf groß und dünn. Hauk hatte den festen Schritt eines Bären gehabt. Der hier hatte die Gewandtheit eines Hirsches. Kelida war es unmöglich, sein Alter zu schätzen. Er konnte jung oder alt sein. Bei einem Elfen konnte man das nie wissen.

»Tyorl«, sagte er, als hätte sie ihn nach seinem Namen gefragt.

Kelida nickte. »Ich habe deinen Freund nicht mehr gesehen, seit – seit er heute abend die Taverne verlassen hat.«

»Er ist nicht zurückgekommen, um sein Schwert zu holen?«

»Er hat es mir geschenkt.«

Tyorl zuckte mit den Schultern. »Oh, ja. Hauks Entschuldigungen, wenn er zuviel getrunken hat, sind immer außergewöhnlich.«

Kelida sah ihn rasch an. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß dieses schöne, wertvolle Schwert durchaus aus den Schätzen eines Elfenfürsten stammen konnte.

»War es deins? Er hat gesagt, er durfte es setzen. Aber…«

»Doch, natürlich, es ist seins. Er ist der Schwertkämpfer, junge Dame, ich bin der Schütze. Wen ich etwas anderes brauche, habe ich meinen Dolch.« Tyorl lächelte. »Ich habe ihm das Messerwerfen beigebracht, und ich kann ihn immer noch darin schlagen. Das genügt mir.«

Unwillkürlich lächelte Kelida. »Dieses Schwert ist die halbe Stadt wert.«

»Es ist die ganze Stadt und noch zwei solche Städte wert. Ist er überhaupt nicht zurückgekommen?«

»Nein. Ich – ich habe das Schwert.« Sie hatte es in einen alten Mehlsack eingewickelt und hinter zwei alten Weinfässern im Lagerraum versteckt. Es war Tennys bester Wein, und aus diesen Fässern würde niemand außer ihm zu zapfen wagen. Heute abend hatte er keinen Grund gehabt, dorthin zu gehen. Sie hatte über das Schwert und den Wert, den das Gold und die Saphire darstellten, den ganzen Abend nachgedacht. Vielleicht konnte sie es verkaufen und Langenberg irgendwie verlassen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wohin sie sich wenden sollte.

»Soll ich es dir holen?«

Er runzelte die Stirn. »Du würdest es mir einfach geben?«

»Was soll ich damit?«

»Es verkaufen.«

Kelida schüttelte den Kopf. »Und was dann?«

»Ich weiß nicht. Hier weggehen.«

»Ich kann nirgends hin. Meine Familie – meine Familie ist tot. Niemand reist allein auf der Straße. Und wenn ich etwas Wertvolles bei mir hätte, würde ich das erst recht nicht tun.« Sie sah ihn forschend an. »Außerdem ist es das Schwert von deinem Freund. Warum willst du, daß ich es verkaufe?«

»Ich will nicht, daß du es verkaufst. Ich bin nur überrascht, daß du es nicht verkaufen willst. Auch gut. Früher oder später wird er es holen kommen.«

Kelida fing wieder an zu wischen. »Ich habe gesagt, er hat es mir geschenkt.«

Tyorl nickte. »Stimmt, unser Freund Hauk hat eine kleine Strafe verdient.« Er stieß sich lächelnd von der Theke ab. »Gib es ihm nicht ganz ohne Widerspruch zurück, Kleine. Laß ihn ein bißchen zappeln, ja?«

Kelida sagte nichts, sondern sah Tyorl hinterher, als er die Gaststube verließ und nach oben in sein Zimmer ging. Dann holte sie das sperrige Bündel mit dem Schwert in dem alten, braunen Sack hervor und brachte es in ihr kaltes, zugiges Dachzimmer oben in der Taverne.

Kelida fiel auf den Haufen aus Stroh und rauhen Wolldecken, der ihr als Bett diente. Sie wickelte das Schwert aus, zog es ein Stück weit aus der einfachen, schmucklosen Scheide und sah zu, wie das Gold und das Silber, die Saphire und der Stahl das schwache Licht der Sterne einfingen.

Hauk hatte all diesen Reichtum auf die Geschicklichkeit seiner Hand gesetzt! War er verrückt, oder hatte er einfach zuviel getrunken? Aufgrund seiner ledernen Jagdkleider und hohen Stiefel hielt sie ihn für einen Waldläufer.

Seine Stimme, befand sie, war eher daran gewöhnt, über eine gelungene Jagd zu jubeln oder einen Schlachtruf zu brüllen. Die leise Entschuldigung war ihm nicht leichtgefallen. Plötzlich merkte sie, daß sie sich auf den Morgen und Hauks Rückkehr wegen des Schwerts freute.

Dann fiel ihr ein, daß sie ja wütend auf ihn war. Eine kleine Strafe, hatte der Elf gesagt. Kelida lächelte. Sie fand, eine kleine Strafe stünde ihm zu.

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