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Sturmklinge. Königsschwert aus Bruchstücken der Dämmerung mit einem Mitternachtsstern.

Obwohl es ihm gehörte, hatte Hornfell sich das Schwert seit dem Kampf vor drei Tagen in Nordtor noch nicht an die Hüfte geschnallt. Obwohl die Zwerge von Thorbardin ihn – teils überglücklich, teils skeptisch – als Regenten anerkannt hatten, würde er sein Amt erst in sieben Tagen antreten. Es wäre unpassend, das Königsschwert schon vorher zu tragen.

Hornfell hob den Deckel der Vitrine, in der Sturmklinge lag. Der mit rauchfarbenem Samt und rotschimmerndem Satin ausgepolsterte Kasten enthielt die Königsschwerter der Hochkönige von Generationen.

Jetzt enthält er das eines Prinzregenten, dachte er, und zwar hier in der Halle der Lehnsherren, gut bewacht, aber für alle zugänglich, die es sehen, bewundern und bestaunen wollen.

Sie waren gekommen, als wollten sie den Segen einer Reliquie erbitten. Die Halle der Lehnsherren war noch nie so streng bewacht gewesen wie in diesen letzten beiden Tagen. Leibgarden aus jeder der sechs Zwergenstädte standen Tag und Nacht rund um die Uhr gemeinsam Wache.

Hornfell trat von der Truhe und dem langen Schaukasten zurück, der jedesmal, wenn er ihn ansah, mehr einer Bahre glich. Er fragte sich, ob je ein Königsschwert so teuer erkauft worden war wie Sturmklinge.

Als die Theiware, die die Stadt der Klar angriffen, davon erfuhren, daß ihr Lehnsherr tot war, hatten sich ihre Formationen aufgelöst, und sie waren zurück in ihre schwarzen Städte geflüchtet.

Aus diesem Durcheinander, dachte Hornfell jetzt, würden die Theiware sich erst dann wieder erheben können, wenn sie ihre blutigen, inneren Querelen beendet hatten, um unter den Überlebenden einen neuen Anführer zu wählen.

Obwohl Ranze keine Zählung der Gefallenen zuließ, hatten seine Daergars einen raschen, ungestümen Ausfall gegen die Flüchtlinge in den Ackerhöhlen gewagt. Sturm hatte sie jedoch sauber am Südeingang der Ackerhöhlen festgenagelt, während Caramon von Norden auf sie eingedrungen war. Tanis und seine Offiziere hatten sich gut bewährt.

Das war das Ende der Revolution. Ranze behauptete weiterhin, er hätte seine Stadt nur verteidigt, weil er glaubte, die Ausländer würden den Aufstand der Theiware zum Plündern und Brandschatzen nutzen. Niemand konnte ihm nachweisen, daß er mit Realgar verbündet war.

Hornfell erschauerte und merkte, wie seine Augen von dem Königsschwert angezogen wurden. Versilberter Goldgriff, makellose Saphire und eine Klinge aus feinstem Stahl mit Flammenherz: Es hatte so viele Leben gekostet!

Seine Seele war tief erschöpft, und er wußte nicht, ob seine Regentschaft den Tod so vieler Zwerge aus seiner Sippe, so vieler Freunde und Fremder wert war, die ihr Leben dafür gelassen hatten.

Hinter sich hörte er Schritte. Hornfell drehte sich um, weil er plötzlich an Pfeifer dachte. Fast hätte er den Namen des Magiers laut ausgesprochen, doch er hielt inne, als er Lavim, den Kender, hinter einer breiten, hohen Säule auftauchen sah.

Hornfell starrte den Kender an. Er war an vierundzwanzig bewaffneten Wachen vorbeigekommen, und keine von ihnen hatte mehr als einen huschenden Schatten wahrgenommen!

Der Kender grüßte Hornfell unbekümmert und voller Zutraulichkeit. »Wißt Ihr, Sir, man sucht Euch schon überall. Es ist schon fast Sonnenuntergang. Sie warten alle im Tal der Lehnsherren auf Euch. Ich hatte gedacht, Ihr wärt vielleicht hier, darum kam ich Euch holen. Außerdem wollte ich doch noch mal einen Blick auf Sturmklinge werfen.« Er zeigte auf das Königsschwert. »Ich habe das Ding da ein paar Wochen lang vor den Augen gehabt. Ich muß schon sagen, da drin sieht es ganz anders aus.«

Hornfell lächelte. »Wie sieht es denn aus?«

»Hm, größer, glaube ich.«

Lavim trat näher an die Vitrine, um besser sehen zu können. Hornfell ließ ihn nicht aus den Augen. Obwohl Lavim unterhaltsam und einfallsreich war, blieb er doch immer noch ein Kender.

»Nein«, sagte Lavim und berichtigte seine Aussage. »Nicht größer. Nur – weiß nicht, nicht wie Kelidas Schwert. Oder Hauks. Oder wessen auch immer.« Lavim zuckte mit den Schultern und schaute dann mit zusammengekniffenen Augen in eine dunkle Ecke an der fernen Decke. »Richtig. Seins.«

Ein Schauer, teils vor Furcht, teils vor Aufregung, lief über Hornfells Arme. »Lavim«, sagte er langsam und vorsichtig, »mit wem redest du da?«

Lavims wettergegerbtes, runzliges Gesicht hellte sich auf. »Mit Pfeifer natürlich.«

Pfeifer. Hornfell hatte die Geschichte im Torhaus gehört – Lavims wortreiche Erklärung, wie er dreihundert Meter über dem brennenden Tal über den eineinhalb Meter breiten Sims nach Nordtor gelangt war. Der Kender behauptete, daß er mit Pfeifers Geist reden konnte. Hornfell wußte nicht, ob er das glauben sollte.

In Lavims Augen spiegelte sich Schabernack, als er wieder den Kopf schief legte und einer Stimme lauschte, die Hornfell nicht hören konnte. »Oh«, sagte er, als hätte man ihn an etwas erinnert, »richtig. Hab’ ich vergessen.« Schnell wie ein Kender griff er in eine tiefe Tasche seines alten, schwarzen Mantels und brauchte nicht lange zu suchen. Was er aus dieser Tasche zog, brachte Hornfell zum Lächeln. Es war aus glattpoliertem Kirschholz und so vertraut – der Kender hielt Jordys Flöte hoch.

»Die kennt Ihr, nicht wahr? Pfeifers Flöte. Sie kann zaubern. Ich weiß das, weil ich sie zweimal benutzt habe. Einmal, um den guten Stanach vor den – wie-heißen-sie-bloß-gleich – «

»Theiware.«

»Genau. Und einmal, um mich und Finn und Kern und…«, Lavim zögerte nur kurz, doch seine Augen verdüsterten sich, »und Tyorl von den Bluthügeln wegzuschaffen. Stanach wollte sie Euch zurückbringen, weil er sagte, daß Ihr und Pfeifer so enge Freunde wart.«

»Enge Freunde, hm? Das hat Stanach gesagt?«

»Eigentlich nicht. Das war ich. Aber Stanach hätte es gesagt, wenn es ihm eingefallen wäre.«

Hornfell griff nach der Flöte und fuhr mit dem Finger an ihr entlang. »Redet er wirklich mit dir, Lavim?«

Lavim nickte eifrig. »Oh, ja, natürlich. Er hat mir alles erzählt, wie Ihr ihn vor dem Kerker bewahrt habt, und wie Licht von draußen in die Stadt, die Gärten und die Felder kommt.« Lavim zwinkerte. »Und er hat mir auch etwas anderes gesagt. Er sagte mir – oh. Na gut, das darf ich nicht verraten.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber was soll’s, Ihr werdet es sowieso bald erfahren. Eins darf ich aber noch erzählen.«

Amüsiert lächelte Hornfell nachgiebig. »Und das wäre?«

Plötzlich ernst stopfte Lavim die Flöte wieder in die Tasche. »Er sagte, Ihr solltet Sturmklinge ins Tal der Lehnsherren mitbringen, wenn Ihr zu – wenn Ihr kommt.«

Zu Tyorls Beisetzung. In den letzten Tagen hatte es reichlich Beerdigungen gegeben. Hornfell war nach Möglichkeit dabeigewesen. Diese letzte, klein und privat, sollte anders sein. Tyorls Begräbnis würde, zumindest für Hornfell, auch für Pfeifers stehen. Und für Kyans. Elf, Zwerg und Menschenzauberer – sie waren für Sturmklinge gestorben. Und für ihn.

Obwohl es passend wäre, daß das Königsschwert anwesend war, wollte Hornfell es nicht vor seinem Amtsantritt tragen. Nicht einmal bei dieser Gelegenheit.

Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Lavim. Ich kann es noch nicht tragen.«

»Hmmmm. Wirklich nicht? Wäre es bloß unhöflich, oder ist es ein Gesetz oder so?«

»Beides.«

Lavim dachte kurz nach oder lauschte. »Na gut. Dann schnallt es nicht um. Bringt es bloß mit.«

»Lavim, ich denke nicht – «

»Seht mal«, sagte Lavim ernsthaft, wobei er näher an die Vitrine trat. »Das ist genau das Problem, das anscheinend alle haben. Sie sagen ›Ich denke nicht‹, und sie glauben in Wirklichkeit, daß sie doch denken. Das bringt nichts, das Denken. Macht einem nur Probleme.«

Flink wie eine aus dem Wasser auftauchende Forelle ergriff Lavim das Königsschwert und warf es Hornfell zu, der es auffing. »Da! Jetzt habt Ihr es. Wenn Ihr ein Gesetz gebrochen habt oder unhöflich wart – auch wenn ich finde, daß Ihr bis jetzt wirklich ausgesprochen höflich wart –, dann könnt Ihr das doch auch eine Stunde oder so tun, anstatt zehn Sekunden. Stimmt’s?«

Sturmklinge lag vorzüglich in Hornfells Hand. Es war für seine Hand geschaffen und paßte perfekt hinein.

»Pfeifer sagt, ich soll es mitbringen?« fragte Hornfell.

Lavim nickte feierlich.

»Na gut, dann werde ich es tun. Was ist mit der Flöte?«

»Ach die.« Lavim tätschelte seine Tasche. »Ihr müßt schon das schwere Schwert schleppen. Macht Euch keine Sorgen wegen der Flöte. Ich heb sie noch etwas für Euch auf, genau hier in meiner Tasche.«

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