Tyorl sackte am rauhen Stamm einer hohen Kiefer zusammen. Seine Lederkleider hingen naß und schwer an ihm herunter. Sie waren vom Matsch des Sumpfes schlammverkrustet und mit schwarzer Asche und Dreck überzogen. Seine Beine waren kraftlos, Arme und Rücken nur noch schmerzende Muskeln – er wußte, ohne den Halt des Baums würde er umkippen. Rauch und Asche ließen heiße Tränen sein Gesicht hinunterlaufen. Zitternd vor Kälte wischte sich Tyorl mit dem Handrücken die Augen, wodurch er Ruß und Dreck auf den blassen Wangen verschmierte und einem Trauernden ähnelte, der sich Asche aufs Haupt streut.
Hinter ihm tobte eine rasch voranschreitende Flammenwand. Guyll Fyr lief Amok im Torfmoor, und seine Flammen Schossen hoch zum Himmel auf. Feuersäulen durchstießen die dichten Rauchschwaden, die auf die Ausläufer der Berge zutrieben. Er und seine Freunde würden nur wenige Augenblicke ausruhen können.
»Finn«, krächzte er. Das Wort blieb Tyorl in der heißen, trockenen Kehle stecken. »Finn, was weißt du über diese Berge?«
Finn schüttelte den Kopf, während sich seine Lippen zu einem bitteren, zynischen Lächeln verzogen. »Ich bin kein Zwerg. Über diesen Teil der Berge weiß ich genausoviel wie jeder andere – praktisch nichts. Ich habe gehört, daß die Zwerge diese Berge und Hügel die Außenwelt nennen. Aber sie haben schließlich Besucher nie willkommen geheißen. Schade, daß dein Freund mit seiner gebrochenen Hand nicht mehr bei dir ist.«
Wirklich schade, dachte Tyorl. Obwohl er den jungen Zwerg nie besonders gemocht hatte, hätte er sich jetzt als nützlich erwiesen. Doch der immer beherrschte, in sich gekehrte Stanach war wahrscheinlich bereits tot.
Die Herzlosigkeit dieses Gedankens ließ Tyorl zusammenzucken. Kühl und unzugänglich war Stanach immer gewesen, aber Tyorl wußte, daß Stanach mehr wegen Kelida als wegen dieses verdammten Schwertes Sturmklinge auf den Drachen gesprungen war und sich – erschöpft und einhändig – auf den Rücken des Untiers gezogen hatte.
Tyorl schüttelte den Kopf. Er war müde vom Laufen, müde vom Grübeln. Seine Gefährten waren inzwischen beide tot. Sie waren ein Teil von Sturmklinges Blutpreis.
Finn hustete in der dicker werdenden Luft, so daß Tyorl aufblickte. »Wir haben keinen Führer, Finn. Wir müssen das Beste daraus machen und uns nur zum Ziel setzen, dem Guyll Fyr zu entkommen.«
»Dieses Ziel werden nicht alle von uns erreichen.« Finn zeigte auf Lavim.
Der Kender lehnte am Stamm einer Kiefer und ließ den Kopf hängen, während sein Japsen seinen ganzen kleinen Körper erschütterte und in seiner Brust rasselte wie der Wind im Schilf. Die letzten Meile hatte er gehinkt und etwas über Steine im Schuh gegrummelt.
Das Loch in einem der alten Stiefel des Kenders war groß genug, um diese Ausrede zu untermauern. Aber es war trotzdem eine Ausrede, die Tyorl ihm nicht glaubte. Im Moment beugte sich Lavim gerade zu seinem rechten Knie, weil er sich unbeobachtet fühlte, und rieb es mit langsamen, sorgfältigen Bewegungen. Als er aus dem Sumpf gekommen war, hatte er es sich verrenkt.
Tyorl blickte zu Finn. Der Anführer der Waldläufer schüttelte wieder den Kopf, wobei Mitleid in seinen rauchblauen Augen aufschimmerte. Obwohl Finn sich dafür ausgesprochen hatte, dem Kender die Kehle durchzuschneiden und ihn im Sumpf liegen zu lassen, war sein Zorn wie immer von kurzer Dauer gewesen. Er war es, der Lavim fluchend und spritzend aus den letzten, tiefsten Wasserlöchern gezogen hatte.
Wir sind die letzten von den vieren, die aufgebrochen sind. Lavim und ich, dachte der Elf. Und keiner von uns wußte viel mehr als die Namen der anderen. Plötzlich erkannte er, daß ihm diese Kameraden in den paar Tagen ans Herz gewachsen waren. Der Tod von zweien – auch der des finsteren Stanachs! – würde lange Jahre dunkel in ihm brüten.
Tyorl stieß sich vom Baum ab.
»Wir verschwenden unsere Zeit. Stanach ist nicht bei uns. Ich weiß, welche Richtung er einschlagen wollte. Im Süden aus dem Sumpf, dann nach Osten. Ich weiß nicht viel über Thorbardin, aber ich weiß, daß wir noch nördlich davon sein müssen. Der Wind treibt das Feuer nach Nordost. Es wird ein harter Aufstieg im Süden nach Thorbardin. Wir sollten besser aufbrechen. Was Lavim angeht, Finn: Er wird es so weit schaffen wie ich, denn wenn er nicht mehr kann, werde ich ihn tragen.«
Ohne weitere Worte ging Tyorl zu Lavim. Dort ließ er sich auf ein Knie herunter und legte dem alten Kender die Hand auf die Schulter. Lavim sah sich um und setzte sein jederzeit verfügbares Grinsen auf. Er brauchte jedoch einen Augenblick, um dieses Grinsen an die rechte Stelle zu schieben.
»Wie geht es dir, Kenderchen? Bist du bereit für die nächste Etappe?«
»Ich bin bereit, Tyorl, wenn ihr es seid. Und ich glaube – na ja, ich meine, Pfeifer glaubt – «
»Was glaubt Pfeifer?« fragte Tyorl argwöhnisch.
»Er glaubt, daß er uns von hier aus nach Thorbardin führen kann. Er erkennt die Landschaft irgendwie und meint, daß es richtig ist, wenn ihr nach Südosten wollt. Er will wissen, ob ihr euch eine Zeitlang von ihm führen lassen würdet.«
Ein Geist als Führer? Tyorl seufzte erschöpft. Warum nicht. Wenn man aus einem brennenden Haus flieht, gibt man alles auf, um lebend davonzukommen. Er drehte sich zum Westhimmel um, der purpurrot leuchtete und von dicken, schwarzen Rauchschwaden verhangen war.
»Nun, im Moment haben wir überhaupt keinen Führer. Sag Pfeifer, daß ich seine Hilfe dankbar annehme.« Tyorl lächelte. »Aber laß es mich Finn erzählen, ja?«
Lavim nickte grinsend. »Er mag Pfeifer nicht besonders, hm?«
»Sagen wir mal, er mag die Vorstellung von Pfeifer nicht besonders.«
Tyorl fuhr mit der flachen Hand abwesend über das weiche Kirschholz der Flöte an seinem Gürtel. Er hatte sie Lavim im Sumpf weggenommen und mit dem Lederriemen an seinem Gürtel festgemacht. Seitdem hatte er sie ständig im Blick.
Tyorl lächelte.
Er würde es Finn irgendwie beibringen. Es wurde Zeit, alles aufzugeben, selbst den klaren Verstand, den er sich einst zugute gehalten hatte.
Hauk hatte keine Ahnung, wo er war, und er war dieses Gefühl bald leid. Es gab keine Möglichkeit, unter dem Berg die Richtung zu bestimmen, weil er keine Fixpunkte hatte und nur dem Licht nachlaufen konnte, das von Isarns flackernder Fackel ausging. Er folgte dieser Fackel durch die dunklen, tiefen Gänge, wie er in fremden Ländern dem Polarstern folgen würde.
Isarn hatte aus seinen Vorräten in der geheimen Höhle einen Dolch und ein Schwert herausgeholt. Die hatte er Hauk mit einem stolzen Funkeln in seinen verrückten, alten Augen überreicht.
»Die habe ich gemacht«, sagte er nur, während er zusah, wie Hauk die gutgearbeiteten Waffen ausprobierte. »Nimm sie. Ich nehme die Fackel.«
Mit dem Dolch im Gürtel und dem Schwert in der Hand fühlte sich Hauk besser als seit Tagen. Mit den Waffen kam er sich richtig vollständig vor, fast schon stark.
Die Tunnel, durch die Isarn ihn führte, schienen ein gewundenes, verschlungenes Labyrinth zu sein, das keinem vernünftigen System folgte. Manche waren breit und hatten Fackelhalterungen an den hohen, glatten Wänden. Andere waren eng und so niedrig, daß Hauk nur gebückt hindurchlaufen konnte. Der Rauch von Isarns Fackel zog dann nach hinten und drängte sich in Hauks Lungen, was ihm fast die Luft nahm. Am Ende solcher Gänge war sein Rücken stets steif, und die Schultern schmerzten. Er ergriff Isarn am Arm und hielt ihn fest.
»Wie weit noch? Und wo sind wir?«
Der alte Schwertschmied entwand sich Hauk. »Tiefe Höhlen. Nicht mehr weit. Nur ein paar Tunnel.«
»So? Wenn sie so niedrig sind wie der letzte, werde ich niemandem helfen können.«
Isarn erwiderte nichts, sondern zuckte nur mit den Schultern, als ob er darauf verweisen wollte, daß die Tunnel schließlich nicht für große Ausländer gebaut worden waren. Sie waren auch nicht für den normalen Verkehr in Thorbardin gebaut. An vielen Stellen fand Isarn sie selbst ziemlich eng. Als Hauk sah, wie sich Isarn am Ende eines weiteren Gangs tief bückte, stöhnte er innerlich und ließ sich auf alle viere nieder.
Ich werde noch auf dem Bauch rutschen, dachte er, bevor ich je dahin komme, wo der verrückte, alte Knabe mich hinschleppt!
In diesem Tunnel war die Decke so niedrig, daß es Hauk so vorkam, als würde er vom Gewicht des ganzen Berges heruntergedrückt. Die Wände waren so eng, daß der rauhe Stein an seinen Schultern und Armen schabte. Der Rauch von Isarns Fackel zog über dessen Schulter nach hinten, um dann plötzlich nach vorne zu schweben, als er von einer kalten Querströmung gepackt wurde.
Da erkannte Hauk, daß dies hier gar kein Gang war, sondern eine Art Verbindungsstück zwischen zwei Tunneln. Auf den Ellbogen robbte er durch den Tunnel und richtete sich dann vorsichtig wieder auf.
Isarn, der bisher ruhig und fast gelassen gewesen war, trat von einem Fuß auf den anderen. Sein Atem ging schneller, und seine Hände zitterten so sehr, daß das Fackellicht die Tunnelwände zum Tanzen brachte. »Was ist los?« flüsterte Hauk. »Hier. Sie sind hier. Der Junge und das Mädchen.« Hauks Herz machte einen Satz und klopfte ihm bis zum Hals. »Wo?«
Isarn antwortete nicht, sondern drückte Hauk die Fackel in die Hand und schlüpfte in die finsteren Schatten vor ihnen. Hauk folgte ihm mit trockenem Mund, während ihm das Blut in den Ohren sang.
Sie war hier! Das Mädchen mit dem Feuerhaar, dessen Namen er nie erfahren hatte. Nur die Erinnerung an sie und ihre leuchtenden grünen Augen hatte ihn während all der Folterqualen, die Realgar ihm zugefügt hatte, nicht wahnsinnig werden lassen. Als er nicht mehr wußte, ob er tot oder lebendig war, als er Tyorls Tod gesehen und gespürt hatte und wußte, daß er ihn getötet hatte und es doch wieder nicht gewesen war, da hatten die Augen des Mädchens wie Smaragde in seinem Herzen geleuchtet. Sie war hier.
Hauk folgte langsam dem Klang von Isarns aufgeregtem Atmen und bog um eine Ecke. Orangefarbenes Fackellicht fiel an die jenseitige Wand und zeigte, wo der Zwerg vor einer unregelmäßigen Felsspalte kniete. Sie war gerade breit genug für Hauk und reichte vom Boden bis weit außer Sichtweite des Waldläufers. »Dahinter?«
Isarn nickte. »Genau. Der Junge und – «
Tief und bedrohlich füllte ein Grollen den Gang, das zu seinem schrillen Schrei anstieg, in dem Hauk irgendwie eine dunkle, wilde Freude wahrnahm. Der Felsen schien bei diesem Schrei zu vibrieren und Echos dorthin zurückzuwerfen, wo dieser markerschütternde Schrei ausgestoßen worden war.
Isarn heulte auf, ein dünner, hoher Entsetzensschrei. Das schreckliche Brüllen traf Hauk wie ein Schlag und warf ihn auf die Knie. Mit beiden Händen hielt er die Fackel fest, wobei er sein Schwert losließ. Er hörte nichts davon, wie der Stahl klirrend zu Boden fiel. Das Brüllen steigerte sich, als ob das Wesen, das den Schrei ausstieß, aufstieg. Schatten vom Fackellicht zuckten wie verrückt über Wände und Boden. Schwaches, orangerotes Licht flackerte durch den Gang und zeigte ihm abwechselnd die rauhen Wände und die Nischen, in denen die Finsternis zusammenfloß.
Von Isarn keine Spur.
Hauk hob die Fackel mit der linken Hand in die Höhe und ergriff mit der rechten Hand sein Schwert. »Isarn!« rief er leise. »Isarn!«
In dem Felsengang bewegten sich nur das zitternde Licht und die irren, tanzenden Schatten, die die Fackel warf. Angst erfaßte Hauk und jagte durch sein Herz. Isarn war nirgends zu sehen. Hauk hielt den Atem an, um zu lauschen. Er hörte nur das Zischen und Knistern der Fackel. Wo war der Zwerg?
Dann dachte er nicht mehr an Isarn. Leise wie das Heulen des Windes drang ein ersticktes Stöhnen durch den Spalt in der Wand. Noch während er darin eine Frauenstimme erkannte, erstarb das Stöhnen.
Mit klopfendem Herzen und ohne nachzudenken, schoß Hauk durch den Spalt in der Wand. Isarn lag klein und zusammengesunken links vom Zugang. Hauk stellte ungerührt fest, daß der Zwerg sich nicht bewegte. Die Höhle war kalt und von trockenem, moschusartigem Reptiliengestank erfüllt. Hinten in der Ecke wurde ein Traum Wirklichkeit. Da kauerte ein Mädchen mit dicken, kupferroten Haaren.
Sie hockte auf Knien und streckte die Fäuste hoch. Die grünen Augen waren weit aufgerissen, das halb im Schatten liegende Gesicht war blaß und weiß. Ein Zwerg mit schwarzem Bart und dicken Armen stand vor ihr. Mit seiner verbundenen Hand griff er nach ihr.
Hauk stieß ein Bärengebrüll aus und rannte durch die Höhle. Dabei erkannte er, daß der Zwerg zu nahe bei dem Mädchen stand, als daß er mit dem Schwert zustechen könnte. Er wendete die Waffe und hob den Griff hoch in die Luft.
Sie sah und erkannte ihn in dem Moment, als er dem Zwerg den Schwertgriff zwischen die Schultern donnerte. »Hauk!« schrie sie. »Nicht!«
Ihr Schrei übertönte das Keuchen des Zwergs und das Aufschlagen seines Körpers auf den Felsboden. Und er hallte in dem Entsetzen und dem Zorn in ihren grünen Augen wider, als sie sich über den Zwerg warf, als wollte sie ihn vor dem glitzernden Stahl des Schwerts beschützen.
Mit zitternder Hand und wild klopfendem Herzen senkte Hauk sein Schwert. Die Fackel flackerte auf und erlosch. Dunkelheit verschluckte die Höhle. Die einzigen Geräusche, die Hauk vernahm, waren das Raunen des Windes an einem fernen Ort über ihm und der stoßweise Atem des Mädchens.
Er griff nach ihrer Schulter und berührte sie sanft. Als sie zurückzuckte, traf ihn ihr Angstschrei mitten ins Herz.
Nach einer Weile entsetzlicher Finsternis streichelte eine Hand mit zitternden Fingern die Seite von Stanachs Kopf.
»Oh, bitte«, flüsterte eine vertraute Stimme. »Oh, bitte, Stanach. Bitte, mein Freund, sei am Leben.«
Es war eine kindliche Bitte, die ohne jede Rücksicht auf Logik von Herzen kam. Typisch Kelida.
Langsam fand Stanach das Bewußtsein wieder. Er erinnerte sich an kaum etwas außer dem plötzlichen Brüllen des Drachen. Kelida hatte entsetzt aufgeschrien. Sein eigenes Herz hatte ausgesetzt: Er hatte die reißenden Zähne von Nachtschwarz erwartet. Ganz sicher hatte er nicht erwartet, daß ihm ein Schwertknauf in den Rücken geschlagen würde.
»Lyt Chwaer«, seufzte er, ohne die Augen öffnen zu können, »es hat keinen Sinn, die Toten zu bitten, daß sie leben.«
Sie hielt überrascht den Atem an und nahm seine linke Hand fest in die ihre.
Da machte Stanach die Augen auf, obwohl das abrupte Eindringen von Licht ihm Kopfschmerzen bereitete. Flackerndes Licht von der erneut entzündeten Fackel warf dunkle Schatten auf Kelidas Gesicht. Ihre grünen Augen schienen das Flackern der Flamme zu spiegeln.
»Stanach?«
»Hmm«, seufzte er. »Was hat mich erwischt, Kelida?«
Hinter Kelida trat ein junger Mann mit schwarzen Haaren und schwarzem Bart in seinen Gesichtskreis. Die braune Lederkleidung hing lose um einen Körper, der normalerweise muskulös und füllig sein mußte.
Füllig, dachte Stanach, wenn er regelmäßig ißt. Der da hat in letzter Zeit weder regelmäßig noch oft gegessen.
»Ich habe dich erwischt, Zwerg.«
Aus der kalten Stimme sprach keinerlei Reue. Ein raubtierhaftes Leuchten drang aus den blauen Augen des jungen Mannes – Augen eines Wolfes, der zu lange gefangengehalten wurde, Augen eines Wolfes, der von seinem Rudel getrennt war und Angst hatte.
Stanach richtete sich zum Sitzen auf. Der junge Mann beobachtete jede seiner Bewegungen. Stanach erschauerte und dachte einen langen Augenblick, er würde einem Geist gegenüberstehen. Die Kleider eines Waldläufers und das Aussehen eines Raubtiers. Plötzlich wurde ihm bewußt, wer der junge Mann war. Aber wie konnte er noch leben? Wie konnte er die Folter überlebt haben, die Realgar ihm angetan haben mußte? Es mußten wirklich schreckliche Qualen gewesen sein. Der Mensch, den Stanach hinter Hauks dunklen Augen erblickte, war auch innerlich ausgemergelt und schwach.
Rasch blickte der Zwerg zu Kelida. Sie schien verwirrt und mißtrauisch, als hätte sie zwar etwas Verlorenes wiedergefunden, könnte sich nun aus irgendeinem Grund aber nicht dazu entscheiden, sich zu freuen, weil sie Angst davor hatte.
Stanach stand auf, wobei ihn jeder Muskel schmerzte. Hauk sah ihn mit erhobenem Kopf angespannt an. Er verfolgte immer noch jede Bewegung mit seinen mörderisch kalten Augen. Der Zwerg zwang sich ein hoffentlich trockenes, anerkennendes Lächeln auf.
»Du bist Kelidas Hauk. Du hast einen guten Schlag.« Hauks zusammengebissene Kiefer entspannten sich, und Stanach wurde klar, daß der Waldläufer nicht einmal ihren Namen gewußt hatte.
»Richtig«, sagte er und rieb sich dabei vorsichtig den Nacken.
»Kelida.«
Kelida schluckte trocken und kam auf die Beine. Fahrig strich sie sich das zerzauste Haar aus der Stirn und glättete ihren zerknitterten, fleckigen Mantel. »Du – erinnerst dich an mich?«
Seine Lippen bewegten sich, obwohl er keinen Ton sagte. Er nickte.
»Steckst du… dann bitte dein Schwert weg?«
Er versteifte sich und hielt die Waffe fester.
»Bitte.« Mit ausgestreckter Hand kam sie einen kleinen Schritt auf ihn zu. »Wir haben dich gesucht.«
Hauk warf einen scharfen, argwöhnischen Blick auf Stanach. Dann senkte er das Schwert. »Und Tyorl?«
Kelida legte ihm die Hand auf den Arm und drückte das Schwert herunter. »Geht es hoffentlich gut.« Sie schaute Stanach an.
»Mir geht es gut.« Er lächelte mit einem ironischen Zug um den Mund. »Erzähl ihm lieber von seinem Schwert, Kelida. Und wenn er uns gefunden hat, weiß er vielleicht einen Weg nach draußen. Daß dieser Drache so plötzlich aufgebrochen ist, bedeutet bestimmt nichts Gutes.«
Stanach sah sich in der Höhle um. In den schwarzen Schatten nahe des Eingangs zur Höhle lag eine zusammengesunkene Gestalt. Der Zwerg holte tief Luft.
»Isarn«, sagte Hauk ungerührt. »Ich glaube nicht, daß er tot ist. Ich – er hat mich hierher geführt, und wir haben dieses Schreien und Brüllen gehört. Er ist zuerst reingegangen und muß gesehen haben, wie der Drache wegflog.«
Wie Hauk vermutet hatte, war der alte Meister nicht tot. Noch nicht. Er lag in den Schatten und atmete kurz und flach. Stanach erkannte ihn kaum. Der Wahnsinn, der so lange an seinem Verstand gezerrt hatte, und der Kummer, der genausolange seine Seele gequält hatte, waren auch äußerlich sichtbare Zeichen geworden. Der alte Zwerg war abgemagert. Seine einst starken Arme waren nur noch Haut und Knochen. Sein früher voller, sauberer und immer schneeweißer Bart war struppig, verfilzt und schmutzig.
Die sanft starrenden Augen zwinkerten nicht einmal, als Stanach sich näherte.
Er fiel neben ihm auf die Knie. Einst hatten diese trüben braunen Augen im Geist Isarns Meisterstück geschaut. Einst hatten sie das erste Licht von der Klinge des Königsschwerts strahlen sehen. Stanachs Herz krampfte sich zusammen.
»Meister«, flüsterte er. Der alte Titel kam ihm leicht von den Lippen. »Meister Isarn.«
Diese Stimme kannte der Alte gut, und lange hatte er sie nicht gehört. Isarns trockene Zunge fuhr über seine aufgesprungenen Lippen. »Junge«, sagte er geistesabwesend. »Ja, Meister, ich bin es. Ich bin zurück.« Isarn sah den schmutzigen grünen Verband um Stanachs rechte Hand. Trauer stand wie Tränen in seinen Augen. »Was ist mit deiner Hand passiert, Kleiner?«
Stanach zuckte zusammen, wußte jedoch keine Antwort. Er brauchte auch keine, denn Isarn vergaß die Frage. Als er wieder redete, sprach aus seiner Stimme feste Überzeugung: »Sturmklinge wird den Hochkönig töten!«
Stanach hielt den Atem an. Die Worte klangen wie eine Prophezeiung, wie eine Vorahnung, und Stanach spürte diese Vorahnung als kalte Angst auf der Haut. Es wird den Hochkönig töten.
Aber es gab keinen Hochkönig in Thorbardin. Seit dreihundert Jahren hatte keiner auf diesem Thron gesessen. Und seit dreihundert Jahren war kein Königsschwert mehr in Thorbardin entstanden.
»Meister«, flüsterte er, »das verstehe ich nicht.«
Das leere Starren in Isarns Augen füllte sich jetzt mit Leben. Er sah Stanach direkt an, und seine Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln.
»Ach, Junge, du sagst immer, daß du nicht verstehst. Aber du tust es trotzdem immer.«
Wie Gespenster hörte Stanach wohlbekannte Worte aus seiner langen Vergangenheit – aus einer Zeit, als seine Hände voller Entdeckungsfreude waren und sein Kopf mit Lernen beschäftigt.
Deine Hände haben das Wissen, Stanach, mein Junge, und dein Herz hat die Wünsche. Deshalb muß dein Kopf – der manchmal härter ist als der Stein, nach dem du benannt bist – nur noch verstehen.
Nach diesen Worten würde Isarn ein weiteres Bröckchen Wissen weitergeben, um Stanachs Hand in der Schmiede anzuleiten.
Stanach beugte sich vor. »Meister, es gibt keinen Hochkönig. Ich verstehe nicht, warum du…«
Isarns Brauen verzogen sich zu einer Miene, die Stanach gut kannte. Es war das grimmige Stirnrunzeln, das einem Lehrling oder Gesellen blühte, der seinen Erklärungen nicht zugehört hatte.
»Es gibt einen König, Junge«, flüsterte er heiser und ungeduldig. »Es gibt einen König. Für ihn habe ich das Schwert gemacht. Sturmklinge habe ich es genannt – es gibt einen König.«
Hornfell! Stanach zitterte vor Erschöpfung, und weil er plötzlich begriff, was Isarn sagen wollte. Hornfell würde Hochkönig sein.
Stanach schloß die Augen, um nachzudenken. Isarn war unbestreitbar verrückt. War das weiteres Geschwätz? Es hieß, daß Isarns Abstieg in den Wahnsinn begonnen hatte, als Sturmklinge gestohlen wurde. Stanach wußte, daß dieser lange Abstieg angefangen hatte, als sein Meister das leuchtende Herz aus Feuer in Sturmklinges Stahl gesehen hatte.
Genau, aber nicht für einen Hochkönig. Für einen Regenten. Sogar Hornfell strebte nur die Regentschaft an. Der alte Schwertschmied war verwirrt und wanderte durch die trüben Nebel von Irrsinn und Tod. Er wußte nicht mehr, was er sagte. »Meister Isarn«, sagte Stanach sanft. Isarn antwortete nicht. Stanach betrachtete ihn mit klopfendem Herzen genauer. Die Augen des alten Schmieds starrten nicht mehr weit aufgerissen in die Luft, sondern waren still und trüb. »Meister?«
»Ich habe das Schwert gemacht«, hauchte Isarn, »für einen Lehnsherrn. Realgar wird damit einen Hochkönig töten.« Seine vom Alter knorrige, von Brandnarben übersäte Hand kroch über seine Brust. Als seine Finger Stanachs Hand berührten, waren sie trocken wie altes Pergament. »Du hast das Schwert nach Hause gebracht. Finde es wieder. Finde es.«
Ein schmerzhafter Knoten erstickte wie Tränen jede Entgegnung, die Stanach hätte geben können.
Er schloß seine Finger um die Hand des alten Zwergs. »Bitte nicht, Isarn. Trag mir das nicht auf…« Seine Worte verklangen flüsternd in einem Seufzer. Isarn Hammerfels war tot.
Schlanke, zitternde Finger berührten ihn an der Schulter. Getroffen vom Tod seines Verwandten und Meisters, drehte sich Stanach blind um. Kelida ging neben ihm auf die Knie.
Im flackernden Fackellicht fiel ein schwarzer Schatten auf das Mädchen und den Leichnam. Aufblickend sah Stanach Hauk hinter Kelida stehen. Seine zuvor wolfsartigen Züge hatten sich etwas entspannt, wirkten aber immer noch gehetzt. Die Bilder der Folter spiegelten sich darin.
Der Zwerg versuchte aufzustehen, sank jedoch wieder auf die Knie zurück. Er war anscheinend sogar dafür zu müde. Wie sollte er das schreckliche Gewicht von Sturmklinge tragen können?
Kelida griff nach seiner Hand. »Laß mich dir helfen.«
Stanach wollte ihre Hilfe annehmen. Bevor sie seine Hand nehmen konnte, ging Hauks dazwischen.
Es war eine große Hand mit groben Fingern, die von Schwert- und Dolchschnitten vernarbt waren. Als er Stanach auf die Beine half, ließ er nicht sofort wieder los, wie es der Zwerg erwartet hatte. Statt dessen schlossen sich seine Hände zum langen Druck der Kameradschaft unter Kriegern.
Stanach sagte nichts. Es gab nichts zu sagen.
»Ich habe gehört, was der alte Zwerg zu dir gesagt hat«, erklärte Hauk. »Ich weiß nicht, ob dieses Schwert, diese Sturmklinge, mir gehört. Ich glaube nicht… Aber ich bin ein Teil der Geschichte. Realgar…«, Hauks Stimme senkte sich, »hat mir so viel angetan. Er hat mir Tyorls Tod gezeigt und mir eingeredet, ich hätte ihn getötet. Ich weiß… ich weiß, ihr sagt, daß er lebt, aber die Erinnerung an den Mord steckt immer noch tief in mir drin. Er hat mich sterben lassen und mich zurückgeholt.« Seine Augen waren jetzt auf Stanach gerichtet, weil er nicht wollte, daß Kelida die nackte Leere darin sah. »Und er hat mich wieder sterben lassen. Stanach, Realgar schuldet mir etwas.«
Stanach blickte auf seine Hand mit den gebrochenen Fingern. Er schloß die Augen und sah Krähen am kalten, blauen Himmel, hörte den Wind um einen Grabhügel in den Hügeln pfeifen. Isarns letzte Worte waren verrückt gewesen, geisterhafte Träume aus Mythen und Legenden. Die Wahrheit war, daß Freunde und Verwandte wegen Realgars giftigem Streben nach Macht gestorben waren. Und es würden nicht die letzten gewesen sein, die sterben mußten.
Stanach sah mit kalter Angst, wie Hauk Kelida seinen Dolch gab. »Du auch? Nein, Kelida.«
»Doch.« Sie sah sich zitternd in der kalten Höhle um. »Ich werde nicht hierbleiben. Ich gehe dahin, wo Hauk hingeht. Wo auch du hingehst.« Sie fuhr mit dem Daumen über den Messergriff. »Schließlich hast du darauf bestanden, daß ich lerne, wie man damit umgeht. Ich glaube, unser Freund Lavim war ein guter Lehrmeister. Ich weiß nicht, ob ich damit töten kann, Stanach. Aber ich glaube, ich kann mich verteidigen. Ich komme mit.«
Sanft berührte sie seine verbundene Hand. »Meinetwegen haben sich Leute foltern lassen. Ich muß mit euch gehen.«
Der Zwerg blickte Hauk an und sah ein lebendiges Flackern in seinen Augen. Aber er sah auch die Angst. In diesem Augenblick verstanden sich Waldläufer und Zwerg ohne ein einziges Wort. Gut, sie würde mitkommen, aber beide versprachen einander, daß sie nicht verletzt werden durfte.