6

In einem Gäßchen hinter der einst besten Geschäftsstraße von Langenberg kniff ein alter Kender im feuchten Nachtwind die Augen zusammen und näherte sich einer verschlossenen Tür. Der Geruch nach verbranntem Holz erfüllte die Gasse, und der Kender nieste einmal und dann noch einmal. Dieser Laden war einer der ganz wenigen unversehrten in dieser Straße. Der Drache hatte ihn – absichtlich oder unabsichtlich – verschont, und nicht einmal die plündernden Soldaten hatten ihn besonders beschädigt. Der Kender hatte Schwierigkeiten mit dem Schloß.

Lavim Sprungzeh war nicht bereit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß er zu alt wurde, um dieses simple Schloß zu überlisten. Er war sechzig, und das war schließlich noch kein Alter. Warum auch. Lavim wußte wie jeder Kender, daß Onkel Fallenspringer erst mit weit über siebzig langsam eingeräumt hatte, daß er nicht mehr der Jüngste war.

Tatsächlich hatte Onkel Fallenspringer angeblich das enorme Alter von siebenundneunzig erreicht, bis ihn schließlich das schreckliche Phantom aus dem Sumpf von Rigar erwischte. Was Lavim anging, so war er sich nicht sicher, ob wirklich irgendein schreckliches Phantom Onkel Fallenspringer ›erwischt‹ hatte. Diese zweifelhafte Geschichte stammte von der Tante der Cousine seines Vaters, und man wußte in der Familie nur zu gut, daß Tante Evalia nie ganz bei der Wahrheit blieb. Lavim hatte immer gehört – vom Neffen der Schwester seiner Mutter, einer viel verläßlicheren Quelle, der über einen Cousin zweiten Grades direkt mit Onkel Fallenspringer verwandt war –, daß es Onkel Fallenspringer war, der das schreckliche Phantom erwischt hatte. Das klang jedenfalls nach einer viel besseren Geschichte.

Der etwas gebeugte und sehr weißhaarige Kender ließ seinen Blick noch einmal über das Gäßchen schweifen, lauschte sorgfältig auf Schritte, hörte keine und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Hintertür des Ladens zu.

Seine Augen waren nicht schwach, nur dieser ekelhafte Ruß und der Rauch, der jetzt in der Luft von Langenberg hing, machten ihm das Sehen schwer. Wenn seine Hände zitterten, dann war Lavim sich sicher, daß sie es nicht aufgrund seines Alters, sondern vor Hunger taten. Da der Ort, in den er eindringen wollte, ein Bäckerladen war, hielt Lavim es für wahrscheinlich, daß es dort etwas Eßbares gäbe, das niemanden mehr interessierte. Danach würde er das Schloß wieder zuschließen, so daß es noch besser absperrte als vorher.

Er legte den Kopf schief, warf seinen langen, weißen Zopf über die Schulter und ging wieder an die Arbeit. Jeder der dünnen Falten seines runzligen, braunen Gesichts vertiefte sich noch, während er sich konzentrierte. Er lehnte sich leicht gegen die Tür, nicht damit sein langes, spitzes Ohr das Klicken des Schlosses besser hörte, sondern damit er das notwendige Gleichgewicht fand.

Es heißt, daß Augenhöhe für einen Kender aus dem gleichen Grund Türschloßhöhe ist, aus dem ein Backenhörnchen eine Backentasche hat. Ein Drehen des mittleren Bolzens des Schlosses erbrachte das befriedigende ›Klick!‹ einer fallenden Halterung. Ein zweites Drehen, dann ein drittes, und das Schloß verschloß nichts mehr. Offensichtlich sollte dieses Schloß niemanden aussperren, dachte Lavim, als er leise von hinten in den Bäckerladen trat. Für ihn war das eine Einladung.

Auf einem Tisch lag ein kleiner, brauner Brotlaib. Lavim steckte ihn ein und überlegte, wie sich der Bäcker freuen würde, daß jemand seinen Laden vor den Verwüstungen der Mäuse gerettet hatte, die bestimmt bald scharenweise angerückt wären, wenn sie erst einmal herausgefunden hatten, daß hier Futter herumlag. Indem er drei kleine Honigkuchen aus einem nahen Regal entfernte, rettete Lavim den Bäcker vor den Ratten. Er verteidigte den bemitleidenswerten Ladenbesitzer vor Ameisen, als er einen kleinen Beutel mit Kuchenstückchen füllte, und betrachtete seine Arbeit für diese Nacht als abgeschlossen, nachdem er vier kleine Brötchen in die Tasche gesteckt hatte, was dem armen Bäcker eine Invasion von Kakerlaken ersparte.

Als er zufrieden feststellte, daß der Bäcker am anderen Morgen als glücklicher Mann in seinen Laden zurückkehren konnte, schlüpfte Lavim Sprungzeh wieder zurück auf die Gasse, verschloß die Tür und marschierte in die Taverne.

Er fragte sich, ob es in der Taverne wohl immer noch Zwergenschnaps gab. Die gegenwärtige Besatzung – Heimsuchung, hätte sein Vater gesagt – machte diese Möglichkeit hochgradig unwahrscheinlich. Heutzutage gelangte nur wenig Nachschub bis nach Langenberg, und das bißchen wurde von Verminaards Armee beansprucht und vertilgt. Lavim war allerdings ein zuversichtlicher Mann. Sein Vater, der über einen endlosen Schatz an Kendersprichwörtern verfügt und das meiste davon an seinen Sohn weitergegeben hatte, hätte gesagt: »Ein leerer Beutel wird niemals voll, wenn du ihn nicht öffnest.«

Während er einen großen Bissen Honigkuchen kaute, machte sich Lavim, gestärkt vom Optimismus seines Vaters, in die Taverne auf.

Die ganze Arbeit und die guten Taten hatten ihn durstig gemacht, und es würde noch ein paar Stunden dauern, bis der Nachtwächter die Sperrstunde ausrief.


Der Lärm und die Hitze in der Taverne machten Stanach zu schaffen. Der Raum stank nach nasser Wolle und Leder, nach saurem Wein und schalem Bier, das vor langer Zeit verschüttet worden war. Aber das war nicht schlimmer als die Gerüche in manchen Tavernen, die er und Kyan in Thorbardin häufig aufgesucht hatten. Seine bedrückte Stimmung rührte eher daher, ein Fremder unter Fremden zu sein. Im ›Tenny’s‹ waren mehr Menschen, als Stanach je gesehen hatte. Nur ein paar von ihnen, kleine Grüppchen hier und da, schienen sich zu kennen. Andere standen Schulter an Schulter neben ihren Saufkumpanen, doch jeder schien für sich allein zu sein.

Stanach fragte sich, ob es in diesem Gedrängel wohl genug Luft zum Atmen für alle gab.

Wir brauchen mehr Luft in unseren Lungen als du, hätte Pfeifer gesagt. Diese Bemerkung, dachte Stanach, hätte der Zauberer mit seinem schiefen Grinsen begleitet. Stanach wußte nicht, wo Pfeifer war. Er wußte nicht einmal, ob er noch lebte.

Zornig verschmierte er einen Ring aus Bier auf dem zerkerbten Tisch. Pfeifer lebte. Schließlich war er ein Magier, und zwar ein schlauer. Auch wenn er wie ein Hirsch von einem Rudel Wölfe umzingelt war. Aber selbst ein Hirsch kann durchbrechen. An diesem Gedanken hielt er sich fest und betete, daß Pfeifer es genau wie er geschafft hatte, Realgars Leute in den Wäldern abzuschütteln.

Stanach war letzte Nacht bei Sonnenuntergang mit einem kalten Wind im Rücken nach Langenberg gekommen. Als erstes hatte er sich nach einem Schlafplatz umgesehen, dann nach einem Essen. Beides hatte er im ›Tenny’s‹ gefunden.

Essen und ein Zimmer waren nicht alles, was er gefunden hatte. Sturmklinge war tatsächlich in Langenberg. Zumindest’ war es das bis gestern nacht gewesen.

Stanach legte seine Finger an seinen schwarzen Bart und zupfte daran. Als er gestern abend in die Schenke gekommen war, wurde überall von der riskanten Wette eines Waldläufers erzählt: sein Schwert gegen die Geldbeutel von drei Freunden.

Ein hinreißendes Schwert! Mit goldenem Heft und versilbert… fünf herrliche Saphire im Heft…

Riskantes Spiel, dachte Stanach. Ja, riskantes Spiel. Obwohl er den Waldläufer und sein Schwert gesucht und sogar diskret Erkundigungen eingeholt hatte, hatte er letzte Nacht keine Spur von ihm gefunden. Auch heute gab es keinen Hinweis auf Sturmklinge. Das Schwert und der Waldläufer, der beim Messerwerfen darum gewettet hatte, waren wie vom Erdboden verschluckt.

Er war mit einem Elf zusammen gewesen, hatte ein Mann gestern abend erzählt. Stanach nahm einen tiefen Schluck Bier und sah zur Theke. Der einzige Elf, den er gestern und heute hier gesehen hatte, war der große, schlanke Kerl, der jetzt mit der rothaarigen Kellnerin redete.

Stanach betrachtete ihn genauer. Er trug lederne Jagdkleidung und hohe Stiefel. An seiner Hüfte hing ein Dolch, über dem Rücken ein Langbogen und ein voller Köcher. Er trug seine Waffen mit selbstverständlicher Leichtigkeit. Stanach fand, er wirkte wie jemand, der mehr Zeit in den Wäldern als in Tavernen verbracht hatte. Wie ein Jäger. Oder ein Waldläufer.

Der Wirt rief nach dem Schankmädchen. Sein Kommando gellte durch das Stimmengewirr, das Stühlerücken und das Zischen und Knacken des Kaminfeuers. Der Ruf blieb dem Mann in der Kehle stecken. Schlagartig wurde es in der Taverne ruhig. Die Tür war aufgegangen, und der trockene, moderige Geruch von Reptilien erfüllte die Luft.

»Givrak«, flüsterte einer und erstickte fast an dem Namen.

Spontan wollte Stanach die Augen zumachen, er wollte nicht wahrhaben, was sich da durch die schweigende Menge schob. Als Kind hatte Stanach Alpträume über Monster gehabt, die aussahen wie Givrak. Doch er schloß die Augen nicht, sondern sah hin. Instinktiv wußte er, daß man diesen Givrak ganz genau im Auge behalten mußte, und wenn auch nur, damit man wußte, in welche Richtung man im Zweifelsfall rennen mußte.

Wie die Wesen aus Stanachs schlimmsten Träumen war Givrak so hochgewachsen wie ein großer Mensch, hatte breite Schultern und den Kopf eines Reptils, flach und mit einem knochigen Kamm. Auf seinem Rücken waren breite Flügel mit Krallen zusammengefaltet. Im Gegensatz zu den Figuren aus seinen Alpträumen trug Givrak ein Kettenhemd. Von seinem Platz an einem Ecktisch nahe der Tür konnte Stanach nicht feststellen, wo die Rüstung aufhörte und die schuppige Haut des Drakoniers anfing. Seine muskelbepackten Beine schienen nicht zum Laufen bestimmt, auch wenn sich Givrak auf seinem Weg zur Theke ganz gut auf ihnen hielt. Schlimmer aber waren seine schwarzen Augen.

Weder Gnade noch Mitleid hatten sich je in diesen Augen geregt.

Der Drakonier hob die Hand. Das Licht des Kaminfeuers und der kleinen Laternen glitzerte und tanzte über das Kettenhemd und die Haut.

Der Drakonier bewegte sich langsam wie eine Schlange, die sich entrollt. Stanach war noch nicht lange in der Stadt, aber nach zwei Nächten und einem Tag wußte er bereits, daß ein schlechtgelaunter Drakonier in Langenberg nicht oft abzog, ohne Schaden anzurichten.

Im ganzen Raum regte sich niemand. Der Lappen des Wirts hing wie eine schlaffe, schmutzige weiße Fahne in seiner Hand. Überall saßen und standen die Männer absolut still herum. Der Ort stank nach Angst. Stanachs Schwert lag quer auf dem Tisch. Er schob seine Hand näher an das Heft.

Das Schankmädchen, dessen Gesicht so totenbleich war, daß die Sommersprossen auf ihren Wangen wie Fieberflecken hervortraten, holte erschreckt Luft. Bei dem Geräusch drehte sich Givrak um.

Der viehische Drakonier roch die Angst des Mädchens. Seine schmale, gespaltene Zunge zuckte um seinen lippenlosen Kiefer. Stanachs Finger schlossen sich um den Schwertgriff.

Mit langsamen, geschickten Bewegungen löste sich der Elf von der Theke. Sein ungespannter Bogen würde ihm nichts nützen, aber seine rechte Hand hing nah an seinem Dolch. Ganz kurz bemerkte Stanach den kalten, blauen Blick, mit dem der Elf ihn rasch und befriedigt einschätzte. Der Zwerg sah zu dem Mädchen. Ihre Augen hatten die Farbe von Smaragden und waren vor Furcht weit aufgerissen.

In diesem Moment schlenderte der Kender Lavim Sprungzeh in die Taverne. Er trug eine enge, hellgelbe Hose, weiche, braune Stiefel und einen schwarzen, unförmigen Mantel, der ihm fast bis zu den Knien reichte. Der alte Kender hatte sein langes, weißes Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Ein zartes Runzelmuster ließ sein Gesicht wie das eines uralten, stupsnäsigen Kindes erscheinen. Er sah den Drakonier sofort, griff aber nicht nach dem Hupakstock auf seinem Rücken. Statt dessen marschierte er gezielt auf ihn zu, wischte sich die Hände an seiner gelben Hose ab und spähte zu Givrak hoch.

»Na also«, seufzte er. »Weißt du, daß ich die ganze Stadt nach dir abgesucht habe?«

Furchtlos, diese Kender, dachte Stanach, als er sah, wie der Atem des Mannes nur ein ganz klein wenig stockte, als Givrak sich zu ihm umdrehte. Aber, vielleicht auch nicht.

Der Drakonier runzelte die Stirn, was so abartig und furchtbar erschien, wie Stanach es noch nie gesehen hatte. »Nach mir, du kleiner Dieb?«

Der Kender zuckte bei dieser groben Beleidigung mit keiner Wimper, sondern grinste nur. Seine Stimme war weich und erstaunlich tief für so einen Winzling. »Ja, nach dir. Da ist jemand, der auf dich wartet, und er hat mich losgeschickt, um dich zu suchen.«

»Wer?«

Der Kender zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wer er ist. Er hatte eine rote Rüstung an und trug einen großen Helm. Du weißt schon, der Helm sieht genauso aus wie ein Drachenkopf. Er hatte Hörner und ein Visier, das wie Fangzähne aussieht. Na ja, jedenfalls finde ich, daß er wie ein Drache aussah – der Helm, natürlich. Ich habe noch nie einen echten Drachen gesehen außer dem roten, der jeden Tag hier herumfliegt. Aber der fliegt immer so hoch, daß ich sein Gesicht gar nicht richtig erkennen kann und – «

Givrak knurrte. Der Kender seufzte, anscheinend über die Ungeduld und die schlechten Manieren des Drakoniers.

»Jedenfalls hat er irgendwas über Truppenbewegungen oder den Drachenfürsten oder so was gesagt.«

Givrak zischte. Genau wie jeder andere im Raum erkannte er in der Beschreibung Karvad, den Hauptmann, der die Besatzungstruppen in Langenberg kommandierte. Und wenn er Karvads Ruf noch mißachten konnte, den des Drachenfürsten jedenfalls nicht. Keiner wußte heutzutage, wo Verminaard, dem der Verlust von achthundert gefangenen Sklaven noch weh tat, seine Wut als nächstes auslassen würde. Der Drakonier fauchte wieder und drehte sich dann um, wobei er einen Tisch aus dem Weg trat. Krüge und Kelche fielen auf den Boden. Er schlug die Tür so laut zu, daß die Wände wackelten.

Einen Augenblick war die Taverne noch still. Dann begann das gedämpfte Gemurmel wieder anzuschwellen und verschmolz rasch zu einer Woge von ängstlichen und ärgerlichen Stimmen.

Das Schankmädchen kam um die Theke gelaufen, um den Schaden aufzuräumen. Stanach hob einen Kelch und zwei Krüge auf und reichte sie ihr. »Das war knapp, Mädel.«

»O ja«, sagte das Mädchen mit immer noch weißem Gesicht. »Ich glaube, ich habe gerade mein Glück für das ganze Jahr aufgebraucht.«

»Wenn ja, dann ist es gut angelegt.«

Das Mädchen zitterte noch, als es zustimmend lächelte.

Stanach drehte sich wieder zu seinem Tisch um. Dort hatte sich der Kender einen Stuhl genommen. Mit einem Boten für einen Offizier der Drachenarmee, dachte Stanach, möchte ich den Tisch nicht teilen. Er stand auf, um sich einen anderen Platz zu suchen, als der Kender ihn heranwinkte. Die Augen des Alten waren so grün wie Frühlingsblätter und strahlten vor unterdrücktem Vergnügen.

»Komm, setz dich zu mir. Du bist genau der, den ich gesucht habe.«

Stanach musterte den Kender vorsichtig, prüfte, ob seine Wertsachen sicher verstaut waren, und setzte sich wieder. Er war neugierig.

»Mich, Kender? Ich dachte, du hättest Givrak gesucht.«

Der Kender zuckte mit den Schultern. »Nein, eigentlich nicht. Givrak, sagst du? Heißt er so? Als ich hereinkam und ihn sah, fand ich, es wäre besser für alle Anwesenden, wenn er irgendwo eine Verabredung hätte.« Er grinste. »Sie behaupten, ich werde alt, aber mein Denken ist immer noch jung.«

Stanach lachte. »Das ist wohl wahr. Aber kannst du auch weiter denken?«

Der Kender legte den Kopf schief. »Was meinst du damit?«

»Was geschieht, wenn Givrak zu seinem Hauptmann kommt und herausfindet, daß überhaupt nicht nach ihm geschickt wurde?«

»Oh.« Die Falten um die langen, grünen Augen des Kenders verzogen sich kurz zu einem Stirnrunzeln. Aber das Lächeln war hartnäckiger. »Ich hatte gehofft, Givrak würde mindestens ein paar Stunden brauchen, bis er ihn aufspürt und das herausfindet.«

»Genau, das hoffst du. Vielleicht solltest du schnell reden, nur für alle Fälle. Warum hast du mich gesucht?«

»Ach, nicht unbedingt genau dich. Einfach einen Zwerg. Mein Vater sagte immer, wenn du Zwergenschnaps trinken willst, dann halt dich zuerst an einen Zwerg. Der sagt dir, ob er gut ist. Gibt es hier Schnaps, und ist er gut?«

Stanach sah den kleinen Kender zweifelnd an. Ein guter Becher Zwergenschnaps ließ bekanntlich gestandene Menschen umkippen. Dieser dürre, gebrechlich wirkende Kender sah nicht aus, als könnte er auch nur einen Schluck des kräftigen, klaren Getränks vertragen.

Stanach zuckte mit den Schultern. Der Gedanke war überflüssig. In dieser Taverne gab es nur Bier und dünnen Elfenwein. »Kein Tropfen«, sagte er. »Du mußt dich mit Wein oder Bier begnügen. Wie heißt du, Kender?«

»Lavim Sprungzeh.« Der Kender streckte die Hand aus. Stanach, der an den Ring seines Vaters dachte, den er am Finger trug, nicht zu erwähnen die Kupfernieten am Ärmel seines Lederhemds, schüttelte Lavim nicht die Hand, sondern lächelte.

»Stanach Hammerfels aus Thorbardin. Ich geb dir einen aus, was immer du willst, Lavim Sprungzeh, und wir wünschen uns heimlich Zwergenschnaps statt dessen.«

Das mußte reichen. Lavim bot an, die Krüge zu holen, doch Stanach schüttelte den Kopf. So wie Lavim Sprungzeh aussah, war er schon lange genug auf der Welt, um einem Drachen die Zähne aus dem Rachen stehlen zu können. Ein Gang durch den Schankraum, und die Besitzer der fehlenden Geldbeutel, Dolche, Taschenmesser, Armbänder und Reorx weiß, was noch, würden ihn nur zu gern an seinem langen, weißen Zopf vom nächsten Dachsparren baumeln sehen.

Stanach holte die Getränke selbst. Als er an die Theke kam, nickte der Elf ihm zu, eine Bestätigung dessen, was sich kurz zwischen ihnen abgespielt hatte, als Givrak es vorhin auf das Schankmädchen abgesehen hatte. Stanach erwiderte das Nicken. Jetzt war weder Zeit noch Ort dafür, doch er wußte, wenn er den Elf auf das Thema Sturmklinge ansprach, hätte er eine Chance, endlich Antwort auf seine Fragen zu bekommen.

Stanach dankte dem Schicksal, das den Drakonier Givrak in die Taverne geführt hatte.


Lavim Sprungzeh spähte auf den sich rasch nähernden Boden seines vierten Bechers Bier und erleichterte ganz nebenbei einen vorbeigehenden Städter um seinen Beutel. Er dachte intensiv nach, weshalb er gar nicht richtig merkte, daß er die Börse geschnappt hatte, und sehr erstaunt war, als Stanach ihm seine große, vernarbte Hand unter die Nase hielt.

»Gib das her«, sagte der Zwerg mit fester Stimme.

Lavim zog eine Augenbraue hoch. »Gib was her? Oh, das hier?«

»Genau das.«

Lavim hielt den weichen Lederbeutel hoch und sah aus, als könnte er gar nicht so recht verstehen, wie er dazu gekommen war. »Wie nachlässig von dem Mann, daß er ihn einfach verloren hat.« Lavim wog den Beutel in der Hand. Er war voller Münzen, die erfreulich klimperten, als er die Börse von einer Hand in die andere warf.

Stanach fing die Börse aus der Luft. Er drehte sich um, klopfte dem Städter an die Schulter und hielt ihm die Börse hin.

Der Mann riß ihm den Beutel aus der Hand. Er wollte anfangen zu schimpfen, sah jedoch etwas Gebieterisches in der Miene des Zwergs, so daß er nur ein widerwilliges Danke murmelte. Stanach nickte und widmete sich wieder seinem Bier.

Er denkt nicht über Bier nach, befand Lavim, aus irgendeinem Grund beobachtet er diesen Elf an der Theke.

Selbst der unaufmerksamste Kender riecht ein Geheimnis auf eine Meile. Lavim Sprungzeh beobachtete Stanach so sorgfältig wie der Zwerg den Gesprächsfetzen lauschte, die um ihn herumschwirrten.

Obwohl Stanach bereitwillig für alles aufgekommen war, was der Kender trinken wollte, manchmal das Mädchen gerufen hatte, manchmal selbst zur Theke gelaufen war, hörte er Lavims Geschwätz nur abwesend zu und antwortete nur abwesend. Lavim wurde still. Er betrachtete das Feuer, das in dem rauchigen Amethystring an Stanachs Finger glühte und von dem kleinen Silberring an seinem linken Ohr blitzte.

Nichts an Stanach schien zusammenzupassen. Der Ring ließ Lavim an jemanden denken, der mit Reichtum ganz selbstverständlich umgeht; der Ohrring beschwor Bilder von Wegelagerern und Banditen herauf. Das bärtige Gesicht des Zwergs hatte erst einen grimmigen, abweisenden Ausdruck gehabt. Dann wiederum gab es Momente, wo er vergaß, daß er grimmig aussehen wollte, wo die Verwundbarkeit der Jugend seine kohlschwarzen, blaugesprenkelten Augen sanfter wirken ließ.

Dieser Stanach, dachte Lavim, ist jetzt ruhiger als am Anfang, wie ein fest verrammeltes Haus. Verschlossene Dinge, verriegelte Dinge – das reizte Lavim am meisten.

Lavim beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und fing an, auf – wie er glaubte – subtile Weise nach dem Geheimnis zu forschen. Bei Stanachs Schwert setzte er an. Das Heft war einfach und schmucklos. Die Stelle, wo der Handschutz auf den Griff traf, war nicht glatt angesetzt, doch soweit Lavim sehen konnte, war das der einzige Fehler an der Waffe.

»Ich sehe«, sagte Lavim, als wäre ihm das gerade erst aufgefallen, »daß du keine Axt als Waffe hast.«

Stanach nickte.

»Ich erwähne das nur, weil ich nicht sicher bin, ob ich schon einmal einen Zwerg ohne Axt gesehen habe.«

»Die meisten von uns bevorzugen Äxte.«

»Aber du hast ein Schwert. Es ist schon irgendwie ein abgenutztes, altes Ding, hm? Nicht, daß es keine gute Klinge ist, natürlich. Bestimmt ist es das, aber ich wundere mich halt.«

»Es ist alt.«

»Hat es vielleicht deinem Vater gehört?«

Stanach sah ihn mit scharfem, mißtrauischem Blick an. »Es gehört mir.« Dann, als wäre ihm die Kurzangebundenheit dieser Antwort klar geworden, lächelte er etwas. »Ich habe es selbst gemacht.«

»Du bist ein Schwertschmied! Natürlich, das hätte ich an deinen Händen erkennen können. Die ganze Haut ist voller Narben. Von der Esse, nicht?«

»Richtig.«

»Hast du viele gemacht? Dauert es lange, ein Schwert zu schmieden? Du hast bestimmt auch Dolche gemacht, wetten, und eine Menge anderer Sachen. Hast du schon mal eine Axtklinge gemacht? Es heißt, daß eine Zwergenklinge das Beste ist, was man finden kann, und – «

Stanach lachte aus voller Brust. Gestatte einem Kender eine Frage, und du kannst dein Leben lang nicht die tausend anderen beantworten, die folgen! »He, immer langsam, Lavim Sprungzeh. Ja, ich habe viele Schwerter gemacht. Das hier war mein erstes. Die Klinge ist gut, die Balance vielleicht nicht so gut, aber ich bin daran gewöhnt. Und, ja, auch Dolche und Äxte.«

Lavim schaute wieder die Hände des Zwergs an, die jetzt um seinen leeren Krug gefaltet waren. Während manche Narben schon weiß waren, waren andere frischer. Eine – eine lange Brandwunde am rechten Daumen – sah noch ganz neu aus. Die rührte nicht von einem Lagerfeuer her.

Als hätte er seine Schmiede gestern erst verlassen, dachte Lavim. Aber Thorbardin war Hunderte von Meilen entfernt. Und trotzdem war er hier. So wie er aussah, war er ein Hylar aus dem Herrscherclan von Thorbardin. Lavim wußte, daß die ihre Berge so gern verließen wie ein Fisch das Wasser.

Langenberg war fest unter Verminaards Hand. Ember, der rote Drache des Drachenfürsten, flog täglich über die Stadt. Wer nicht während der Schlacht um die Stadt umgekommen war, konnte gerade so eben überleben. Warum sollte irgend jemand – außer ihm natürlich – nach Langenberg kommen? Lavims Neugier war wie der Funken auf Zunder.

Was würde einen Zwerg aus der Sicherheit von Thorbardin an diesen gottverlassenen Ort führen?

Es war keine Zeit mehr für Fragen. Ein Spektakel vor der Tür und schließlich ein Wutschrei brachten die Taverne zum Schweigen.

»Givrak!« Stanach ergriff den Arm des Kenders und riß ihn auf die Beine. »Schnell weg, Lavim. Er ist zurück, und wen außer dir sollte er suchen?«

Lavim zuckte nur mit den Schultern. »Vielleicht.« Seine grünen Augen tanzten vor Bosheit, als er sich setzte. »Ich kannte mal einen Drakonier, der konnte sich nie merken, wonach er gerade suchte. Das hat ihn entsetzlich geärgert, wie du dir vorstellen kannst. Nach einer Weile wurde er knallrot, auch wenn er, genau genommen, vielleicht gar kein Drakonier war – «

»Wenn du nicht abhaust, wird alles Bier, was du noch trinkst, durch dich hindurchlaufen wie durch ein Sieb, Kender. Es muß eine Hintertür im Lagerraum geben Geh jetzt, geh.«

»Aber – «

»Geh!« Stanach schubste den Kender durch den halben Wirtsraum zur Theke hin.

Lavim stolperte, fing sich und sah sich um. Wer versteht schon einen Zwerg? Eine Minute trübselig, die nächste gesellig, dann ganz plötzlich und völlig ohne Grund wie Donner und Blitz! Er machte sich zu der Tür hinter der Theke auf. Nicht aus Angst vor Givrak – Angst war ihm gänzlich fremd –, sondern weil Stanach die Sache so wichtig schien.

Zwerge, dachte er. Immer ein bißchen empfindlich. Das machen all die Jahrhunderte allein in den Bergen.

Er grinste das Schankmädchen breit an. Ein großer Elf, dessen blaue Augen vor Belustigung glänzten, ergriff Lavims Arm und zerrte ihn durch die Tür in einen Lagerraum.

»Los, Kender«, flüsterte er, »und hör erst auf zu rennen, wenn du aus der Stadt raus bist!«

Lavim wollte irgendwo hinrennen. Er wurde hinten ausschlüpfen, weil das anscheinend allen so wichtig war, aber er würde Stanach nicht vergessen. Der Kender steckte einen Spundzapfen, eine kleine Flasche Wein und verschiedene andere, interessante Dinge ein und schlüpfte gerade durch die Hintertür auf die Gasse, als Givrak durch die Vordertür hereinkam und etwas über einen ›gottverdammten, lügenhaften Kender‹ brüllte, der länger gelebt hatte, als ihm oder irgend jemand anders guttat.

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