»Wo bist du?« hatte der Kender gefragt. Pfeifer wußte nicht, wo er war. Er hatte dem Kender gesagt, er wäre direkt hinter ihm. Das war eine vernünftige Antwort. Vielleicht war er da auch, denn er schien überall und nirgends zugleich zu sein. Was er »sah«, sah er nicht mit den Augen, sondern eher mit dem Verstand. Es war keine Magie, die ihm diese Dinge zeigte. Für ihn gab es keine Magie mehr, außer dem Zauber, in dem er jetzt gefangen war.
Pfeifer war ein Geist. Die Zauberkraft seiner Flöte hatte ihn dazu gemacht. Er war tot. Er hörte kurz auf nachzudenken. Es war eher ein Luftanhalten. Aber wie man ohne zu atmen nicht leben kann, hielt er es nicht lange ohne Denken aus. Zögerlich wie jemand, der vorsichtig über eine verheilende Wunde streicht, rief er sich die Erinnerung an die letzten Augenblicke seines Lebens ins Gedächtnis.
Da waren dieser Schmerz und diese abgrundtiefe Erschöpfung gewesen. Er hatte die junge Frau um Hilfe rufen hören, hatte gehört, wie sie Stanachs Namen schrie. Danach hatte er lange nichts mehr wahrgenommen, bis Stanachs trauernde, schwere Gedanken die Grenzen seines Geistes streiften.
Ach, Jordy! Es tut mir leid, Pfeifer!
Da hatte er sprechen wollen, um Stanach irgendwie vor Realgars Leuten zu warnen. Doch ihm fehlte die Kraft.
Als Stanach die Flöte neben ihn legte, sah er das Instrument, obwohl er sonst überhaupt nichts sehen konnte. Die Flöte enthielt seine Musik und seine Magie. Sie sang ihm seine eigenen Lieder mit der Stimme eines Freundes vor und spielte Lieder, die er sich nie hätte vorstellen können. Er sammelte die wenige Kraft für einen allerletzten Spruch. Die Magie entsprang der Flöte.
War sein geistähnlicher Zustand mehr oder weniger als der Tod? Sein Bewußtsein tastete umher. Er konnte nicht alles »sehen«, so wie er es sich bei einem Geist vorgestellt hatte. Er sah – oder wußte – nur wenig mehr als das, was er zu Lebzeiten gesehen hatte. Doch das begann sich zu verändern, als er seine neuen Sinne ausprobierte. Er wußte, daß die Fähigkeit, weiter zu »sehen«, mit ihrem Gebrauch wachsen würde. Nur mußte er diese Zwischenwelt so erforschen wie die richtige Welt, Stückchen für Stückchen. Er war hier nicht allein.
Es waren nur wenige Seelen, die er hinter dem Nebel spürte, und sie waren überhaupt nicht an ihm interessiert. Wie er waren es Wesen, die ihre eigenen Ziele verfolgten und höchstens wie Seufzer an ihm vorbeistrichen.
Pfeifer lachte reumütig, und der Nebel zitterte. Wie viele von den Geistern hier waren an einen Kender gebunden, solange der noch lebte?
Das hatte der Zauber der Flöte getan: ihn an Lavim gefesselt, und zwar für den Rest seines Lebens, weil der die Flöte gespielt hatte. Der Spruch verschaffte Lavim nicht nur einen Geisterfreund, sondern wegen der Verbindung zu Pfeifer auch Zugang zur Magie der Flöte.
Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, daß der Kender die Flöte als erster spielen würde. Er hatte an Stanach gedacht. Doch es war nicht der Zwerg gewesen, sondern Lavim. Der Beschwörungszauber hatte Pfeifer zurückgerufen, wunderbar, aber er hatte ihn ins Bewußtsein eines Kenders gebracht. Pfeifer hatte die ganze Nacht und einen halben Tag gebraucht, um sich in dem Labyrinth von Lavims verwirrendem inneren Geplapper zurechtzufinden und einen Platz im Gehirn des Kenders zu suchen, von dem aus Lavim ihn hören konnte.
Als Stanach von den Theiwaren geschnappt worden war, hatte er die Flöte fallen lassen, weil er Angst hatte, sie würde in den Händen der Theiwaren landen. Er hatte nicht wissen können, daß die Magie der Flöte jetzt nur noch durch Lavim wirken würde.
Pfeifer hoffte, daß er nicht mehr Probleme bekommen würde, als er bewältigen konnte. Er mußte Lavim überzeugen, Tyorl die Flöte auszuhändigen.
Der Nebel schien durch Pfeifers Furcht dichter und düsterer zu werden. Bald würde es zu spät sein, um Stanach zu helfen. Lavim hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. So entzückt und überrascht er auch von seinem Gespräch mit Pfeifer war, hatte er sich doch zusammengerissen, bevor er Kelida und Tyorl erreichte. Die Kirschholzflöte hatte er in die tiefste Tasche seines alten, schwarzen Mantels gesteckt, weil er sicher war, daß Tyorl sie ihm sofort aus der Hand reißen würde.
Jetzt quälte ihn Tyorl mit Fragen, und gleichzeitig flüsterte ihm Pfeifer seine Anweisungen zu. Er wußte nicht, wem er zuerst antworten sollte.
Erzähl von Stanach und gib ihm die Flöte.
Tyorl legte dem Kender beide Hände auf die Schultern und hielt ihn fest. »Lavim, was ist mit Stanach?«
»Mach ich. Gleich.« Lavim blinzelte, weil er nicht ganz sicher war, wem er gerade antwortete.
Tyorls blaue Augen flammten vor Ärger plötzlich auf. »Sofort!«
Sag’s ihm schon! Gib ihm die Flöte!
Lavim wich aus und brachte Kelida zwischen sich und Tyorl. Obwohl er schlank und leicht war, hatte der Elf den Griff eines Bären und sah aus, als wollte er am liebsten alles aus Lavim herausschütteln.
»Schon gut, schon gut, mach’ ich doch! Da oben sind ein paar Felsen, und da fand ich, äh, Fußspuren, und manche davon waren von Stanach und manche nicht. Stanach ist jetzt nicht da, und ich weiß nicht, wo er ist, aber ich bin zurückgekommen, weil – «
Weil du ihm die Flöte geben wirst. Erzähl ihm von der Flöte!
»Weil ich fand, daß ihr das wissen müßt.«
Lavim! Gib ihm die –
Lavim ignorierte standhaft die Stimme in seinem Kopf. »Tyorl, was glaubst du, was ihm zugestoßen ist? Die anderen Fußspuren stammten von einem Zwerg, und er war bestimmt einer von diesen, ähm – «
Theiwaren, murmelte Pfeifer.
»Theiwaren«, sagte Tyorl.
Lavim blinzelte. Bohrender Schmerz schoß durch seinen Kopf. »Genau. Das sind die Typen, die nach Kelidas Schwert suchen, nicht?«
Tyorl griff nach seinem Bogen. Er kniff den Mund grimmig zusammen, als er einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken zog. Kelida sah von einem zum anderen.
»Tyorl, sie werden ihn umbringen«, flüsterte sie.
Das Sonnenlicht auf dem Pfad schimmerte golden. Im Dickicht und zwischen den Bäumen wuchsen die Schatten, die sich bald zur Nacht über den ganzen Wald ausbreiten würden. Der Wind wurde bereits kälter.
Genau, dachte Tyorl, das werden sie. Früher oder später.
»Sie können ihn noch nicht weit geschleppt haben«, sagte der Waldläufer.
Er ist in den Höhlen am Fluß.
Lavim nickte. »Er ist in den Höhlen am Fluß, Tyorl.«
»Woher weißt du das? Verdammt. Lavim! Was weißt du noch?«
Lavim wußte nicht, was er noch wußte. Er hatte bis eben nicht einmal das gewußt. »Tyorl, ich – « Er wollte es erklären, hielt aber dann den Mund, weil Pfeifer mitten in seinem Kopf Nein! bellte.
Aber, widersprach er schweigend, wie soll ich es ihm sagen, wenn ich nicht von dir erzähle? Hör auf zu schreien, ja? Ich habe schon Kopfschmerzen und –
Du kannst es ihm später sagen. Jetzt haben wir keine Zeit, den Teil von mir zu erzählen, Lavim. So wie du erzählst, erklärst du den ganzen Tag. Stanach hat nicht den ganzen Tag Zeit.
Aber was soll ich denn sagen?
Pfeifer seufzte tief. Sag ihm, du hast die Höhlen gesehen.
Aber ich habe keine –
Du mußt nicht ausgerechnet jetzt bei der Wahrheit bleiben, Lavim.
»Ich habe die Höhlen gesehen. Wo soll er sonst sein?« Mit Pfeifer als Souffleur berichtete er den Rest. »Es sind fünf. Nicht Höhlen, Zwerge. Es sind nur drei Höhlen. Sie sind auf dieser Seite des Flusses und – «
Tyorl weiß, wo. Er war schon da. Finn lagert Waffen in einer Höhle im Wald, aber er weiß nicht, daß sie mit den Höhlen am Fluß in Verbindung steht.
Lavim nickte. »Oh, Finn lagert – «
Nein! Sag nichts davon1. Und gib ihm meine Flöte!
Lavim schob seine Hände in die Taschen und umklammerte die Flöte. Die wollte er noch nicht aufgeben. »– äh, Zeugs im Wald, oder? Waffen und so Sachen?«
Hat er je…?
»Hat er je diese La – ich meine, irgendwelche Höhlen hier benutzt?«
Der Elf schüttelte wieder ungeduldig den Kopf. »Doch, Lavim, das hat er. Aber diese Höhlen liegen im Wald und viel zu weit südlich, als daß sie mit Höhlen am Flußufer in Verbindung stehen könnten.«
»Ja, sie – ich – nun, ich meine, vielleicht doch.« Lavim legte seine Finger um die Flöte. Allmählich hatte er es raus, wie man mit zwei Leuten gleichzeitig redete. Hoffte er jedenfalls.
Du hast etwas über Höhlen gehört…
»Ich habe etwas über die Höhlen hier im Wald gehört. Ich weiß nicht mehr, wo das war, aber es stimmt. Etwas über, hm, genau, Höhlen, die am Fluß anfangen und hier hinten im Wald herauskommen. Damals in Langenberg hieß es, daß Banditen sie bewohnen und manchmal hier in den Wäldern untertauchen, weil sie ihre Verfolger abschütteln wollen. Man hört alles mögliche in der Richtung, wenn man einfach zuhört und – «
»Tyorl«, Kelidas Hand zitterte, als Kelida sie dem Elf auf den Arm legte. »Wir müssen Stanach helfen.«
Tyorl gab einen entmutigten Stoßseufzer von sich. Er war hin- und hergerissen, zwischen der Frage, ob er das glauben sollte, was ein Kender ›gehört‹ hatte – das heißt, er konnte es gehört haben, oder er konnte glauben, es gehört zu haben, oder er konnte sich die ganze Sache gerade jetzt ausdenken –, und der Erkenntnis, daß Kelidas Leben in Gefahr war, falls Stanach von seinen Häschern zum Reden gebracht wurde.
Wie im Sprichwort also: entweder Bär oder Klippe, dachte er bitter.
Wir müssen Stanach helfen, hatte Kelida gesagt. Das war ein weiterer Punkt. Er konnte sie nicht mit dem Schwert allein zurücklassen, das sie für die Zwerge zum Ziel machte, aber er wollte sie auch nicht zur Gefahr hinbringen.
Warum sind mir bloß die Hände gebunden, fluchte Tyorl. Wo war Finn? Dreißig Waldläufer in diesen Wäldern, da hätte er längst ihren Pfad kreuzen müssen. Er verfluchte das Schwert, verfluchte die Zwerge und traf die einzige Entscheidung, die er treffen konnte.
Nachdem er das Mädchen und den Kender ermahnt hatte, ihm so leise wie möglich zu folgen, verließ er den Pfad und eilte nach Süden.
Pfeifers stürmischer Seufzer der Erleichterung ließ Lavim fast das Trommelfell platzen.
Panik kroch mit klammen, klebrigen Fingern in Stanach empor. Im Zauber des einäugigen Derros gefangen, konnte er weder richtig atmen noch richtig denken. Wie Echos von Träumen hörte er dünne, verzerrte Stimmen.
Kein klarer, blauer Himmel erstreckte sich hier über ihm, sondern nur eine unebene, niedrige Höhlendecke aus Stein, die nach Flußschlamm roch. Steine gruben sich in seine Schultern und seinen Rücken, denn er lag auf einem felsigen Untergrund. Obwohl seine Hände nicht gefesselt waren, konnte er sich nicht bewegen.
Nein, dachte er, das war es nicht. Er hatte nicht die Kraft, sich zu bewegen, oder er wollte sich nicht bewegen. Wie dicker, nasser Nebel schien die Trägheit in seine Muskeln, ja, in die Knochen selbst gesickert zu sein.
Weiches, nachlassendes Dämmerlicht schimmerte am Rand des Höhleneingangs. Stanach erinnerte sich nicht daran, wie er hierhergekommen war. Er erinnerte sich an gar nichts außer dem kalten Glitzern in dem einen schwarzen Auge des Herolds, die plötzliche, scheußliche Übelkeit, die den Transportzauber begleitete, und ein langes, ekelhaftes Hinübergleiten in den Schlaf.
Und die fernen Stimmen.
Sie wollten Sturmklinge.
Ein dünner Zwerg, dessen einer Arm steif an der Seite herabhing, trat in Stanachs Blickfeld, wodurch er das sanfte Licht abschirmte. Wulf nannten sie ihn. Stanach erkannte in ihm einen der Theiware, deren Blut er an der Straße nach Langenberg im Gras abgewischt hatte.
Die Angst zog Stanach den Magen zusammen. Er sah den Rachedurst in Wulfs Augen und hörte ihn mit seinem leisen, listigen Lachen.
Stanach war kein Magier. Er hatte keine übernatürlichen Kräfte, um sich zu verteidigen. Er hatte nur die eine Hoffnung, daß seine Gefährten nicht versuchen würden, ihn zu retten.
Tyorl, dachte er, bring das Königsschwert hier weg! Such deine Waldläufer und bring es nach Thorbardin!
Aber würde er das tun? Oder betrachtete er seinen Freund Hauk inzwischen doch als tot?
Doch, vielleicht. Aber Kelida nicht. Dafür hatte Stanach gesorgt. Er hatte ihr einen tapferen Waldläufer zum Lieben gegeben, und sie wußte nicht, daß dieser Waldläufer tot war. Sturmklinge würde nach Thorbardin gelangen, denn Kelida würde es dorthin bringen. Der Elf würde mit ihr gehen.
Stanach starrte an die Decke der Höhle. Er würde Hornfells Königsschwert nicht erneut verlieren. Er würde tun, was er tun mußte, wie Kyan Rotaxt, wie Pfeifer.
Wulf knurrte tief in seiner Kehle. Stanach sagte sich, daß er kein Schwertschmied mehr war. Er war ein Händler, und sein Geschäft war, Zeit zu kaufen.
Das Lager in der Höhle war leer. In der Nacht, bevor sie nach Langenberg aufgebrochen waren, hatten Tyorl und Hauk dabei geholfen, die Köcher voller Pfeile, Schwerter und Dolche zu verstauen. Wie es aussah, war Finn erst kürzlich hiergewesen, um Nachschub zu holen.
Tyorl wünschte wieder, daß er wüßte, wo die Waldläufer waren. Wenn das Lager leer war, hatten sie die Waffen gebraucht. Irgendwo kämpften sie, doch er hatte keine Zeichen dafür gesehen, daß in der Nähe ein Kampf stattgefunden hatte.
Verdammt! dachte er. Ich brauche sie, und sie wüßten wahrscheinlich meinen Bogen zu schätzen. Wo im Namen aller Götter sind sie?
Tyorl lächelte schief. Wahrscheinlich wußte Finn inzwischen sowieso über die Versorgungseinheiten der Drachenarmee Bescheid. Wahrscheinlich wußte die Drachenarmee inzwischen auch von Finn und seiner Alptraum-Truppe.
Die Höhle war nicht hoch genug, daß Tyorl darin hätte aufrecht stehen können, und so kurz, daß nur er und Lavim eintreten konnten. Kelida hielt Wache. Tyorl lauschte auf ihre Schritte, die über die Steine liefen, erhaschte einen Blick auf golddurchwirkte, rote Zöpfe und wandte sich an Lavim.
»Von hier aus gibt es keinen Weg zum Fluß zurück«, sagte er gereizt.
Der Kender nickte heftig, wobei sein langer, weißer Zopf gegen seinen Hals schlug. »Doch, doch, Tyorl. Er ist, ähm, genau hinter der Rückwand.«
»Lavim, hinter dieser Wand ist bloß Erde und Stein.«
Tyorls Hand glitt über den Fels. Sein Daumen untersuchte die Risse, die die dicken Wurzeln der Kiefer verursacht hatten, die über ihnen in den Felsen wuchsen. Der Ort roch nach satter, schwarzer Erde und nach Stein. Tyorl vermißte das warme Licht der untergehenden Sonne. Höhlen waren ganz gut, um darin heimliche Waffenlager einzurichten, aber das Gewicht der Erde machte sie zu schwer und zu dunkel für einen Elf.
Lavim quetschte sich an Tyorl vorbei und hockte sich vor den breitesten Spalt. Er schob seine rechte Hand in den Spalt und legte seine Finger um den Stein wie um ein Türblatt. Mit leuchtenden, grünen Augen lachte er den Elf an.
»Hier hinten zieht’s, Tyorl.«
Lavims linke Hand tastete die Wand in Schulterhöhe ab und folgte dem dünnen Riß, den er da fand, bis zum Boden. Kräftig blinzelnd spähte er zur Decke und fand auch da einen schmalen Spalt. Sein Lächeln wurde zum Grinsen, als er die Spanne zwischen seinen ausgestreckten Armen maß. »Da passen wir leicht durch.«
»Genau«, murrte Tyorl, »wenn wir durch Stein gehen könnten.«
»Nein, das müssen wir nicht. Da ist…« Lavim legte den Kopf schief, als würde er auf etwas lauschen. Dann nickte er. »Ich glaube, ich höre ein Echo. Wie von Wasser – der Fluß – und wenn wir den Stein hier bewegen können, kommen wir direkt zum Wasser. Die Höhle da hinten geht… äh, der Geruch des Flusses bedeutet, daß er geradeaus geht, und geradeaus ist Osten, und… äh, da ist wahrscheinlich Stanach.«
»Vermutungen, Kenderchen.«
»Oh, nein, keine Vermutungen. Ich – « Lavim räusperte sich und nickte. »Du hast recht. Vermutungen. Ich höre den Fluß, Tyorl, und ich kann die Kante von diesem Stein fühlen.« Er zog seine rechte Hand weg und hielt sie Tyorl hin. »Die Wand hier ist nicht dicker als meine Hand, und die Kante ist glatt. Ich wette, wenn wir es nur schaffen, diesen Stein zu bewegen…«
Lavim drückte seine Schulter gegen die Wand und schob.
»Lavim«, seufzte Tyorl ergeben.
Der Kender stemmte seine Füße gegen den Steinboden und preßte die Augen fest zu, als er sein ganzes Gewicht einsetzte.
»Lavim, ich denke nicht – «
Der Kender grunzte. »Kannst du nicht mal aufhören, zu denken, Tyorl, und mir helfen? Lehn dein Gewicht gegen die rechte Seite des Steins.«
Um den Kender von seinem Unsinn abzubringen, machte Tyorl das, worum er gebeten hatte. Fast augenblicklich begann der Stein, sich zu bewegen. Stickige Luft drang aus der Öffnung. Dem Geruch nach Erde und Stein folgte der Geruch des Flusses: Fische, Schlick und absterbende Pflanzen.
»Räuberhöhlen!« schrie Lavim. »Siehst du! Wir – ich hatte recht!«
Er huschte in die Öffnung, und Tyorl konnte ihn gerade noch am Kragen seines unförmigen, schwarzen Mantels erwischen. »Warte, Lavim!«
Aber der Kender wartete auf niemanden. Er entwand sich dem Griff des Elfen und schoß los.
Rasch rief Tyorl Kelida. Sie schlüpfte in die Höhle, betrachtete den dunklen, schmalen Eingang in die Erde und dann das Licht hinter sich. Ihrem Blick nach war sie genauso skeptisch wie Tyorl.
»Wo ist Lavim?«
Tyorl zeigte mit dem Daumen auf den Spalt. »Dort. Wo sollte man ihn sonst erwarten. Fertig?«
Kelida nickte.
»Bleib dicht bei mir. Wir wollen sehen, ob wir den Kender einholen können.«
Das sollte kein Scherz sein, aber als Kelidas smaragdgrüne Augen plötzlich lachend aufleuchteten, lächelte Tyorl und trat zur Seite, als würde er sie in eine sichere, bequeme Kammer schleusen. Ohne darüber nachzudenken, legte sie ihm im Vorübergehen die Hand auf die Schulter. Er spürte die leichte Berührung ihrer Finger noch lange, nachdem er die Öffnung und das schwache Licht hinter sich gelassen hatte.
Drei!
Stanach hielt sich an der Vorstellung von dieser Zahl fest, während er wieder in die rotvernebelte Finsternis taumelte. Drei Finger hatten sie ihm gebrochen. Sieben, dachte er, noch sieben. Oder zwei, wenn sie mir nur eine Hand nehmen wollen. Sieben oder zwei…
Die Lethargie des Schlafzaubers war vergangen, aber er konnte sich immer noch nicht bewegen. Es war, als ob ihn unsichtbare Fesseln am Steinboden festhielten. Auch das Werk des Herolds, dachte er.
Der rote Stern, das Feuer aus Reorx’ Schmiede, hing tief am Abendhimmel. Das einzige, was Stanach bewegen konnte, waren seine Augen. Mit ihnen fixierte er den Stern.
Sieben oder zwei. Es macht nichts… es macht nichts… bald werde ich es überhaupt nicht mehr fühlen können.
Wulf, dessen schwarze Theiwaraugen wie endlostiefe Gruben in der Nacht wirkten, lehnte sich vor. »Wo ist das Schwert?«
Stanach hatte weder den Mut noch die Kraft, sich zu fragen, warum Wulfs Ton so kalt und bedacht war. Er schluckte hochgewürgte Galle runter.
»Ich hab’s doch gesagt«, flüsterte er mit dünner, krächzender Stimme, »ich weiß es nicht. Ich habe… es nicht gefunden.«
Der Herold nickte lächelnd.
Stanachs Schrei übertönte den brennenden Schmerz und ein weiteres Knacken.
Vier! Sechs, keuchte sein Gehirn, sechs oder einer… sechs oder –
Fünf!
Als schließlich sein Daumen gebrochen war, hörte sich Stanachs Schrei in seinen eigenen Ohren wie triumphierendes Gelächter an. Seine rechte Hand war eine geschwollene, blaue Fleischmasse.
Das sieht nicht aus wie Finger, stellte eine Stimme in seinem Kopf nüchtern fest, überhaupt nicht. Diese Hand wird keinen Hammer mehr heben.
Hinter ihm gab der Herold eine Art knurrendes Lachen von sich. Einer der anderen Theiware kam beim Wachgang am Eingang der Höhle vorbei, ging wieder zurück, drehte wieder um. Wie schwache, alte Erinnerungen roch Stanach den Rauch vom Lagerfeuer der Wachen.
Der rote Stern blinkte, verschwand, tauchte wieder auf. Kalter Schweiß tropfte Stanach in die Augen, lief wie Tränen die Wangen hinunter in seinen Bart. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, wobei er nur feststellte, daß die Höhle an den Rändern etwas dunkler wurde.
Wulf zog einen Dolch aus dem Gürtel. Das einzige Licht in der Höhle war ein nachlassendes Zwielicht, das sich auf der Stahlklinge spiegelte. Zögernd krochen Rauchschwaden in die Höhle, die Stanachs Augen und Kehle reizten, als sie ihn erreichten.
Stanach blickte zur Seite, sah die gesunden Finger seiner linken Hand und schloß die Augen. In der Dunkelheit sah er das Königsschwert: rotgeäderter Stahl, vier Saphire von der Farbe des Zwielichts, ein fünfter wie ein Mitternachtsstern. Er hatte gesehen, wie der Stahl im Feuer geboren wurde, und er hatte Isarns Erstaunen gesehen, als der Widerschein des Feuers nicht nachließ. Er hatte voller Trauer und Mitleid zugesehen, wie sein alter Meister allmählich wahnsinnig wurde, nachdem Sturmklinge gestohlen worden war. Königsschwert!
Königsschwert, dachte er. Königsschwert, Realgar! Bei der Esse Gottes, du wirst es nicht bekommen!
Eisiger Stahl berührte den Daumen seiner linken Hand kalt liebkosend am ersten Gelenk. Stanach holte tief Luft und stieß einen abgehackten Seufzer aus.
Er wird das Gelenk wie eine fest geschlossene Nuß knacken, Stanach, alter Junge, ein Stoß, ein Knirschen…
»Wo ist das Schwert?«
Stanach fand, er konnte ein bißchen verrückt sein. Er lachte, und das Lachen paßte genau zu dem Pochen und Wüten des Feuers, das seine rechte Hand auffraß. »Ich – hab’s dir doch gesagt. Ich habe es nicht.«
Nein! Das war die falsche Antwort! Stanach sah es an dem interessierten Aufflackern in Wulfs Augen.
Die Stimme des Theiwars war jetzt weich wie Rauch. »Wer dann?«
Stanach konnte den Stern nicht mehr sehen. Die Wache stand zwischen ihm und dem Himmel. Wieder schloß er die Augen.
Wenn Realgars Männer Kelida mit dem Schwert finden, töten sie sie.
Lyt Chwaer hatte er sie genannt, kleine Schwester. Sie hatte versucht, seine Trauer um Pfeifers Tod mit dem Verständnis und dem sanften Schweigen einer Verwandten zu lindern. Lyt Chwaer, die einen toten Waldläufer liebte.
Ich tue, was ich tun muß. Ich lüge einsame Schankmädchen an und sehe meine eigenen Freunde sterben. Was gleicht das aus, was gleicht das aus?
Stanach spürte Wulfs heißen Atem auf seinem Gesicht. Seine seltsame Derro-Seele offenbarte sich in dem Wahnsinn, der aus seinen Augen sprach. Er war jetzt ganz nah, und die Klinge seines Dolches lag an Stanachs Kehle. »Wer hat das Königsschwert?«
Der Herold bewegte sich auf ihn zu. Stanach hörte sein leises Atmen, das dem Zischen einer Schlange glich.
Er betrachtete seine rechte Hand, die verrenkt und bis zur Unkenntlichkeit geschwollen war. Nie wieder würde er einen Hammer heben. Nie wieder würde er den Zauber seines Handwerks erfahren. Sein eigenes Meisterschwert ruhte leblos wie eine Fehlgeburt zwischen seinen verkrüppelten Fingern. Das hatte Wulf ihm genommen. Auf diese’ Weise würden er und seine irrsinnige Derro-Rasse Thorbardin alles rauben, alles Schöne unter ihrer Herrschaft zerstören und zertrampeln.
Die Spitze des Dolches zeichnete eine dünne, blutende Linie bis genau unter Stanachs rechtem Auge. Die Muskeln an Wulfs Handrücken spannten sich.
»Ich frage noch einmal, aber zum allerletzten Mal. Wer hat Sturmklinge?«
Stanach spuckte aus und bereitete sich darauf vor, sein Auge zu verlieren.