Das Licht der Dämmerung blitzte auf Finns Dolch, als er dem Drakonier die Kehle durchschnitt. Schnell zog er die Hand zurück, und die Klinge löste sich vom geschuppten Fleisch der Kreatur, bevor der Stahl vom versteinernden Körper festgehalten werden konnte. Sein Magen zog sich wie immer vor Abscheu zusammen. Er haßte diese Mißgeburten, wenn sie lebten, er verabscheute sie, wenn sie tot waren. Sie hatten seine Frau getötet und seinen Sohn ermordet. Er konnte nicht genug von ihnen umbringen. Der Gestank von Kampf, Blut und Feuer trieb über die kleine Lichtung. Im kalten Morgenwind stieg Rauch von verbrannten Proviantwagen auf, zog sich um die Wipfel der hohen Kiefern und sank am nahen Fluß herab. Er fing sich in einem Luftstrom über dem Wasser und trieb zurück an den Hang, wo die Drakoniereinheit mit ihren drei Wagen kurz vor Tagesanbruch Finn und seinen Waldläufern zum Opfer gefallen war.
Vor Tagesanbruch, dachte Finn, gerade rechtzeitig, um ihnen die letzten Alpträume ihres Lebens zu lassen.
Die dreißig Waldläufer hatten keinen Mann verloren, auch wenn einige verwundet worden waren. Finn lächelte kalt und zufrieden und sah sich nach Lehr um, in dessen dunklem, zotteligem Haar die sanfte Brise träge spielte. Als Lehr den Anführer der Waldläufer entdeckte, kam er über die Lichtung herangetrottet. Unterwegs umging er die pfeilstarrenden, verkohlten Wagen und sprang nachlässig über Körper, die sich in Stein und Staub verwandelten.
»Irgendwelche Spuren von noch mehr Drakoniern?«
Lehr schüttelte den Kopf. »Nur die hier, Herr. Ich bin auf die Anhöhe geklettert. Von da oben kann man meilenweit sehen. Da gibt’s nur Krähen, und die wollen nur wissen, wann wir endlich weg sind, damit sie frühstücken können.«
Sein schwarzer Humor brachte Lehrs Augen zum Leuchten. »Arme Tiere. Hier gibt’s nur das zu fressen, was die Drakonier gestern von ihrem Abendessen übriggelassen haben. Wenn sie nicht gerade Stein und Staub wollen.«
Finn grunzte. »Schlag am Fluß das Lager auf, Lehr. Wenn dein Bruder mit seiner Arbeit fertig ist, kommt ihr beide zu mir her.«
»Ja, Herr?« Das war eine Aufforderung, mehr zu erklären. Als Finn nicht darauf einging, zuckte Lehr mit den Schultern und machte sich auf, um seinen Bruder zu suchen. Finn erklärte seine Gründe selten. Lehr erwartete selten, daß er das tat, auch wenn er hin und wieder nach einer Erklärung bohrte.
Als er Kembal fand, verarztete dieser bereits die am schlimmsten Verwundeten. Er richtete ihm Finns Anweisung aus. »Irgend etwas geht da vor, Kem. Was meinst du?«
Kembal, der heilkundige Waldläufer, sah seinen Bruder nachsichtig an. »Weiß nicht, aber ich wette, es hat etwas mit den Spuren zu tun, die du gestern gefunden hast.« Kembal entfernte geschickt einen Pfeil aus dem Bein eines Mannes. Der Mann zuckte zusammen. Sein Gesicht wurde blaß und nahm dann den Ausdruck grimmiger Ergebenheit an, als das Blut aus der Wunde strömte. Er wußte genauso gut wie Kembal, daß Drakonierpfeile oft vergiftet waren. Der Blutstrom würde die Wunde säubern, deshalb akzeptierte er ihn, obwohl er es nicht gerne sah. Kem reinigte die Wunde und sah nicht auf, als sein Bruder ging.
Beide wußten, daß Finn wenig begeistert darüber war, daß sie so überraschend über einen Versorgungstrupp Drakonier gestolpert waren. Er wußte auch, daß ihr Anführer zwar Tyorl und Hauk nach Langenberg geschickt hatte, um genau solche Bewegungen in den Vorbergen auszukundschaften, aber die beiden waren noch nicht zurück.
Lehr glaubte, daß die Spuren, die er gefunden hatte, von Tyorl stammten. Kembal erwartete, daß Finn derselben Meinung war. Er verband die Wunde und ging zu dem nächsten Mann, der auf ihn wartete. Er nahm an, daß Finn sich Zeit lassen würde, damit seine Männer sich ausruhen konnten, während er den Pfad zurückging und überprüfte, ob die Spuren von Tyorl stammten oder nicht.
Aber was tat der Elf bei einer so seltsam zusammengesetzten Gruppe wie der, von der die Spuren sprachen? Ein Zwerg, ein Kender und ein leichtfüßiger Mensch oder Elf?
Und wo, fragte sich Kem, war Hauk?
Die sinkende Nachmittagssonne war unverschämt heiß, wie das im Herbst mitunter vorkommt. Sie warf ihr weißes Licht auf die vorspringenden Felsnasen. Alte, braune Blätter raschelten im leichten Wind über die Steine. Stanach wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und ging auf dem schattigen Pfad in die Knie. Vor nicht allzulanger Zeit war jemand hier entlanggekommen. Der Zwerg sah Tyorl an, der bei seiner Schulter stand.
»Deine Waldläufer?«
Tyorl schüttelte den Kopf. Er zeigte auf einen weiß zerkratzten Stein auf dem Weg. Der Stein war von Stahl zerschabt. »Kein Waldläufer in Finns Gruppe trägt Stiefel mit Stahlkappen. Schau dir diesen Fußabdruck hier drüben an.«
An der Seite des Wegs, wo das Moos im Schatten einer hohen Lärche noch kühl und feucht war, sah man einen guterhaltenen Abdruck. Kein Waldmensch. Stanach schüttelte stirnrunzelnd den Kopf.
»Ein Zwerg«, sagte Tyorl geduldig. »Schau, die Größe entspricht ungefähr deiner.«
Stanach schloß die Augen, weil er an Pfeifers Steingrab dachte, das eineinhalb Tagesreisen von hier auf dem Hügel lag. Die Theiwaren mußten es gefunden und ihre Spur aufgenommen haben. Es war leicht zu erraten, wo die vier Gefährten hin wollten. »Realgars Leute.«
»Wahrscheinlich.« Tyorl folgte leise dem Weg, wobei seine Augen am Boden klebten. Einen Augenblick später war er schon zurück. »Sie wollten zum Fluß. Sieht so aus, als wären sie heute morgen hier vorbeigekommen.«
Der Pfad führte direkt zur einzigen Furt hier. Die nächste war zehn Meilen weiter südlich – ein voller Tagesmarsch. Stanach zupfte nachdenklich an seinem Bart, als er aufstand. »Verdammt!« murmelte er. »Sie wollen uns den Weg abschneiden.«
»Wo ist der Kender?«
»Hinten bei Kelida. Warum?«
»Ich will heute über den Fluß. Aber zuallererst will ich sicher sein, daß die Mörder des Zauberers nicht an der Furt warten. Du beherrschst dein Schwert, Stanach.« Der Elf zog seinen Langbogen von der Schulter, schnürte rasch die Sehne fest und holte einen Pfeil aus dem Köcher. »Bestenfalls sind wir drei gegen vier und müssen Kelida beschützen. Das wird nicht leicht. Das Schwert macht sie zum Ziel. Kannst du Lavim überreden, wieder bei ihr zu bleiben, während wir auf Kundschaft gehen?«
»Das würde ich nicht einmal versuchen wollen. Laß nur. Er plaudert mit Kelida, das beschäftigt ihn noch ein paar Minuten. Laß uns die Furt auskundschaften, solange wir noch können.«
Zögernd blickte Tyorl den Pfad hinunter. Der Weg bog da ab, wo Kelida und Lavim angehalten hatten. Das Mädchen, das nicht daran gewöhnt war, den ganzen Tag zu laufen und zu klettern, beschwerte sich mit keiner Silbe, aber sie nutzte jede Gelegenheit zu einer Rast. Lavim, der keinen Zuhörer freiwillig aufgab, hielt mit ihr Schritt.
Sonnenlicht glitzerte golden in Tyorls Haaren, als er mit den Fingern hindurchfuhr. Stanach sah zu, wie der Elf überlegte.
Die beiden liefen den Weg hinauf, wobei ihre Schritte laut durch den stillen Wald hallten. Zehn Meter hinter der Stelle, wo sie die Spuren gefunden hatten, wandte sich der Pfad nach Osten und wurde so eng, daß sie nicht mehr nebeneinander laufen konnten.
Jetzt ging es steil bergauf. Schwere Erde klebte an den umgestoßenen Steinen auf dem Weg. Das Moos wuchs manchmal oben, manchmal an den Seiten, und an vielen Stellen war die dicke, grüne Decke zerfetzt und aufgerissen. »Sie hatten es eilig«, sagte Tyorl, »und haben sich nicht darum geschert, ihre Spuren zu verwischen. Sie sind genau da auf den Pfad gekommen, wo wir die Spuren zum ersten Mal gefunden haben.« Er sah über die Schulter. »Wir hätten sie nicht allein lassen sollen.«
Der Wind frischte auf, und die Schatten um den Weg verschwammen und tanzten. Stanach lauschte nach Kelidas Stimme, hörte aber nur alte Blätter über Steine rascheln. »Ich glaube, du hast recht. Geh zurück. Wenn Lavim noch da ist, sag ihm, er soll zu mir kommen.«
Tyorl runzelte die Stirn. Als Stanach seine Zweifel erkannte, schnaubte er. »Ich bin kein Waldläufer, Tyorl, aber ich bin auch nicht blind.« Er deutete mit dem Kopf auf die Spuren. »So was da kann ich folgen, und ich kann mich ruhig verhalten, wenn es sein muß.«
Er mußte es nicht aussprechen: Der Langbogen des Elfen konnte Kelida besser verteidigen als ein einzelnes Schwert. »Geh hier vom Pfad ab, Stanach. Behalte ihn in Sichtweite und geh parallel dazu im Wald. Wenn sie oben warten, werden sie eine Wache aufgestellt haben. Wenn du die entdeckst, kommst du schnell und leise zurück. Wenn wir es schaffen können, erledigen wir sie.«
»Und wenn nicht?«
Tyorl zuckte mit den Schultern. »Dann versuchen wir, den Fluß woanders zu überqueren. Aber eigentlich will ich nicht ständig auf der Hut sein müssen, ob diese Mörder noch einmal vor uns auftauchen.«
»Also, geh. Ich komme zurück.«
Stanach sah ihm nach. Der Zwerg suchte sich so leise wie möglich seinen Weg durch das raschelnde Unterholz, dessen dünne Zweige sich in seinem Bart verfingen und ihm Gesicht und Hände zerkratzten. Einige Dutzend Meter lief er parallel zum Pfad, dann hielt ihn eine breite Felswand auf. Drum herum oder drüber weg, fragte er sich, während er das Hindernis musterte. Der Stein war alt und hart und bot guten Halt. Stanach, der viel zu lange nur Wald gesehen hatte, grinste. Drüber weg, beschloß er. Vorsichtig glitt seine Hand über den Stein und prüfte, wo Hände und Füße Halt fanden. Die Kanten waren fest, und er kletterte geschwind hoch und hatte nach wenigen Augenblicken den oberen Rand des Felsens erreicht. Eine vorwitzige, junge Kiefer klammerte sich auf der Felsnase fest, der ein paar struppige Büsche Gesellschaft leisteten. Ansonsten war der Stein nackt und grau. Tief geduckt verharrte Stanach hinter der Nordseite des Kiefernstamms. Aus dieser Deckung sah er den leeren Pfad da unten. Keine Wache.
Mehrere Meter hinter dem Vorsprung bog der Pfad wieder nach rechts ab, verlief genau unter dem Felsen, auf dem Stanach hockte, und fiel dann plötzlich ab. Stanach rutschte vor, um besser sehen zu können.
Hier hörten die Bäume plötzlich auf, und der Pfad schlängelte sich in ein steiniges Flußtal hinunter. Der Fluß selbst war ein schmales Silberband, die Furt eine seichte Stelle am Ende des Weges, die von braunem Riedgras eingerahmt war. Es gab kein Anzeichen dafür, das diejenigen, die vor ihnen den Pfad entlanggekommen waren, jetzt in dem steinigen Tal lauerten.
Hoch über dem Tal kreiste ein Falke und segelte in weiten, trägen Spiralen auf der Suche nach Beute abwärts. Die vom Wind geriffelte Wasseroberfläche teilte sich, als ein kleiner Barsch wie ein silberner Blitz in der Sonne hochsprang. Noch bevor der Fisch am höchsten Punkt seines Bogens war, schoß der Falke hinunter und fing ihn mit einem triumphierenden Schrei.
Genau, Abendbrot für dich, dachte Stanach, und wahrscheinlich hast du uns noch was übriggelassen.
Das Tal war leer, der Fluß voller Fische, und die Furt würde leicht zu durchqueren sein. Lächelnd stand Stanach auf und drehte sich um.
Vor ihm stand der einäugige Theiwar, der in Thorbardin als der Graue Herold bekannt war.
Kalte Angst breitete sich in seinem Bauch aus. In der Falle!
Noch während er das begriff, duckte sich Stanach instinktiv nach rechts und zog sein Schwert aus der Scheide an seinem Rücken. Das hohe Singen des befreiten Stahls wurde vom harten, trockenen Lachen des Grauen Herolds übertönt. Stanach befürchtete, daß er keine Chance hatte. Er wußte, daß es so war, als sein gewaltiger, beidhändiger Schlag eine Handbreit vor Agus’ Hals zurückprallte. Die Luft um den Zauberer flammte scharlachrot auf, spie heiße, dicke Funken, und Stanach taten die Arme bis zu den Schultern weh, als hätte er gegen einen Felsen geschlagen.
Agus hob, immer noch lachend, die rechte Hand und fuhr sanft durch die Luft. Er flüsterte ein Wort, dann ein anderes, und die sonnendurchflutete Luft um Stanach wurde so kalt wie eine Winternacht. Der Himmel, der eben noch blau gewesen war, wurde drückend und schmeckte nach Angst und Verzweiflung. Als wenn eine riesige Hand ihn von hinten niedergeschlagen hätte, fiel Stanach auf die Knie. Er nahm gerade noch wahr, wie sein Schwert auf den Stein schepperte, und sah, wie Agus danach griff und es aufhob.
Stanach rang nach Luft. Es gab keine. Es war, als hätte ihm der Spruch des Grauen Herolds alle Luft aus der Lunge gesaugt.
So, dachte Stanach, haben sie Pfeifer erwischt. Mit einem Hinterhalt von einem Theiwar-Zauberling.
Der Gedanke an Pfeifer erinnerte ihn an die Flöte seines Freundes, die an seinem Gürtel hing. Obwohl Pfeifer sie mit zahlreichen Sprüchen versehen hatte und obwohl die Flöte ihre eigene Zauberkraft hatte, war sie nutzlos für Stanach, der nicht magiekundig war. Er wußte sofort, daß sie in den Händen des Grauen Herolds ein mächtiges Werkzeug sein würde. Der Theiwar würde sicher herausfinden, wofür sie gut war, wenn er Zeit fand, sie zu untersuchen. Indem er so tat, als würde er sich gegen den Zauber wehren, löste Stanach die Flöte von seinem Gürtel und schob sie in eine Felsspalte.
Wieder hob Agus die Hände. Stanach kannte die Gesten, die er jetzt machte. Er sprach bloß drei seltsam sanfte Worte, die Stanach jedoch überhaupt nicht trösteten. Es waren die Worte eines Transportzaubers.
Agus griff hinunter, berührte Stanachs Kopf und lächelte ihn an. Gefangen im vertrauten Griff eines Transportzaubers, krümmte sich Stanach, als alles Gefühl aus seinen Armen und Beinen, aus Herz und Kopf wich.
Lavim thronte auf einem Felsen abseits des Weges, von wo er den Pfad nach oben und unten überschauen konnte. Seinen Hupak balancierte er auf den Knien, und ein großer Lederbeutel mit Steinen lag zwischen seinen Füßen. Er untersuchte die Steine einen nach dem anderen wie ein Bogenschütze, der seine Pfeile prüft. Einen rötlich braunen Stein mit Grün und mit glänzenden, gelben Pyritstücken und weißen Calcitsprenkeln hielt er für Kelida hoch.
»Dieser Stein hier«, sagte er, während er zusah, wie die Sonne sich in dem Pyrit und Calcit fing, »hat einen Goblin auf hundert Schritte getötet.«
Kelida sah ihn zweifelnd an. »Hundert, Lavim?«
Der alte Kender nickte so beiläufig, als ob seine Glaubwürdigkeit nicht angezweifelt worden wäre. »Vielleicht auch hundertzehn. Ich hatte keine Zeit zum Nachmessen, weißt du.«
»Aber du hast den Stein zurückgeholt, nachdem er diesen Goblin getötet hat?«
»Oh, ja. Es ist ein guter Stein, ein Glücksbringerstein. Ich habe ihn schon lange. Er hat meinem Vater gehört, und der hatte ihn von seinem Vater.«
Kelida unterdrückte ein Lächeln. »So eine Art Familienerbstück, hm?«
Lavim steckte den Stein wieder in seinen Beutel zurück. »Nun, so habe ich es nie gesehen, aber das kommt wohl hin.«
Die Vorstellung, daß zwei Generationen von Kendern diesen Stein pflichtbewußt jedesmal zurückgeholt hatten, wenn er von einer Hupakschlinge geflogen war, war einfach zu absurd. Obwohl sie ihr Lächeln mit der Hand verdeckte, sah Lavim es in ihren grünen Augen.
»Was ist daran so komisch, Kelida?«
»Oh, ich lache nicht, nicht wirklich. Ich – ich lächle, weil es so schön ist, daß du etwas hast, das dich an deinen Vater und Großvater erinnert.«
Kelida zog die Beine fest an ihre Brust und legte das Kinn auf die Knie. Sie sah zu, wie der Kender weiter seine Waffen inspizierte. Dünnes Sonnenlicht lag wie Silber auf seinem langen, weißen Zopf. In seinem braungebrannten, runzligen Gesicht glänzten die grünen Augen wie Frühlingsblätter.
»Ich habe gerade daran gedacht, daß ich überhaupt nichts habe, was mich an meine Familie erinnert – nicht einmal einen Glücksstein.«
Lavim sah hoch. »Oh, in Khur gibt es viele davon. Warst du da schon mal? Ich bin da geboren. Es ist ein schönes Land voller Hügel und Berge. Auch ein paar hübsche Täler. Du solltest es dir mal ansehen, Kelida. Ich würde selbst gern mal wieder dahin ziehen. Das will ich immer, aber – ich weiß nicht, irgend etwas zerrt mich immer in die entgegengesetzte Richtung. So wie Sturmklinge, auch wenn ich einfach nicht herauskriege, wieso das so ist. Du warst doch noch nicht lange Kellnerin, oder? Du hast doch mit deiner Familie auf einem Hof gelebt? Bevor der Drache – oh, äh, bevor du Kellnerin warst. Also, wenn du das Landleben magst, dann bist du in Khur genau richtig. Ich würde dich gerne hinbringen. Dann kehre ich selbst mal zurück. Zumindest für eine Zeitlang. Sobald wir das mit Sturmklinge erledigt haben.« Er hielt inne. »Sag mal, du glaubst wohl nicht zufällig, daß dieser komische Hauk auch nach Khur mitkommen würde, hm?«
Kelida betrachtete, wie die Sonne den Stein brutzelte. »Warum sollte er das wollen?«
»Na ja, wenn du dahin gehst, kommt er vielleicht auch. Er weiß bestimmt, daß du nach Thorbardin kommst, um ihn zu retten, und er wird bestimmt dankbar sein. Ich frage mich, ob sie ihn in einem Gefängnis oder Verlies haben. Gefängnisse sind, glaube ich, eine Zeitlang ganz gut. Das Essen ist meistens ziemlich schlecht, aber einigermaßen regelmäßig.
Aber Verliese? Die mag ich nicht so besonders. Das Essen ist kaum schlimmer, aber man kriegt es so selten. Die Leute, die dich da reinstecken, vergessen dich meistens nach einer Weile.
Weißt du, Thorbardin ist richtig groß. Nicht nur eine Stadt – gleich sechs. Sie sind alle irgendwie miteinander verbunden. Vielleicht über Brücken. Und es liegt mitten im Berg drin. Kannst du dir das vorstellen?
Es gibt sogar Gärten. Wußtest du das? Aber, wenn sie im Inneren des Berges liegen, woher bekommen sie dann Sonnenlicht? Wie bekommen sie Regen? Tja, ich nehme an, sie können Regen auffangen und damit ihre Gärten bewässern, aber das wäre viel Arbeit, meinst du nicht auch? Selbst wenn sie das tun – die Gärten bewässern, meine ich –, löst das immer noch nicht die Frage nach dem Sonnenlicht. Das kann man nicht in einem Eimer tragen.«
Lavim plapperte weiter. Kelida hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Sie dachte an Verliese und überlegte, ob Hauk wohl wirklich wußte, daß jemand kam, um ihm zu helfen.
Er muß es wissen, dachte sie. Er muß wissen, daß Tyorl ihn sucht. Sie fuhr mit der Hand über die Scheide des Königsschwerts. Er muß wissen, daß er wegen diesem Schwert gefangen ist.
»Wenn man Sonnenlicht in Eimern transportieren will, müssen die aber einen festen Deckel haben, oder?«
Wenn er lebt, dachte sie, dann weiß Hauk es. Kann er noch leben? Es ist sechs Tage her seit der Nacht, als er das ›Tenny’s‹ verlassen hatte. Sie dachte an Pfeifer, den Zauberer, und den Grabhügel auf dem Hügel im Wald und an Stanachs Augen, als er vom Tod seines Verwandten erzählt hatte. Sie schloß die Augen und legte die Stirn auf die angezogenen Knie.
Dann versuchte sie, Hauks Stimme zu hören und die Sanftheit darin zu finden, die sich hinter dem Bärengrollen verbarg. Sie stellte sich vor, solange sie seine Stimme im Gedächtnis hatte, würde er noch leben. Solange sie seine Augen sehen konnte, als er ihr das Schwert zu Füßen gelegt hatte, würde er nicht tot sein.
Sie hatte sich aus den wenigen Momenten, in denen sie miteinander geredet hatten, ein Bild von Ritterlichkeit und Freundlichkeit erschaffen, und erinnerte sich nicht mehr daran, daß sie sich im ›Tenny’s‹ in Wirklichkeit vor ihm gefürchtet hatte.
»…Und es müßten dunkle Eimer sein, vielleicht mit Blei oder so beschichtet, damit das Sonnenlicht nicht wieder herausdringt. Hmmmm. Ich frage ich, ob sie daran gedacht haben.«
Kelidas Finger schlossen sich um die Schwertscheide. Königsschwert nannte es Stanach. Sturmklinge. Für Kelida würde es immer das Schwert des Mannes sein, der ihr Leben für eine Wette aufs Spiel gesetzt hatte und der sein eigenes dafür einsetzte, sie zu schützen.
Es raschelte im Gebüsch, ein Stein kullerte auf den Weg, und Lavim sprang von seinem steinernen Ausguck, nachdem er die Steine wieder in den Beutel gefegt hatte. Kelida schaute sich um und sah Tyorl neben sich stehen. Eilig wollte sie aufstehen, doch der Elf winkte ab.
»Noch nicht. Lavim! Lauf den Pfad hoch und hol Stanach ein, ja?«
Der Kender warf den Hupak über den Rücken. »Klar doch, Tyorl. Was ist los?«
»Nichts. Such einfach Stanach. Und lauf nicht weg.«
Glückstrahlend hüpfte der Kender den Pfad hoch, wobei sein Gepäck und die Beutel hoch und runter sprangen.
»Ich habe ihn den halben Weg hoch gehört«, sagte Tyorl. Er setzte sich auf den Felsen, den der Kender verlassen hatte. »Wovon hat er erzählt?«
Kelida lächelte. »Thorbardin und Sonnenlicht in bleibeschichteten Eimern.«
»Sonnenlicht in –?« Tyorl kratzte sich am Kinn. »Wieso?«
»Oh, für die Gärten. Er behauptet, es gäbe in Thorbardin haufenweise Gärten. Stimmt das?«
Der Elf zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Die Stadt liegt im Berg, also kann ich mir das nicht vorstellen. Kendergeschwätz ist halb Traum, halb Phantasie.«
Kelida sah einen langen Augenblick zu, wie Tyorl mit dem Daumen über die Sehne seines Langbogens strich. »Wo ist Stanach?«
»Den Weg hoch.« Tyorl zuckte wieder mit den Schultern. »Kundschaften.«
»Sollten wir nicht nachkommen?«
Tyorl sah in die Schatten. Auch wenn er nur den Wind in den Bäumen hörte, schüttelte er den Kopf. »Gleich. Es ist ein langer Aufstieg. Wir können hier abwarten.«
Kelida nickte und beobachtete schweigend, wie die Schatten über den Pfad strichen. Tyorl sah das Sonnenlicht wie Goldfäden durch ihr Haar rieseln.
Weißt du, sagte sich Lavim, die Sache mit den Eimern ist, daß es gehen könnte oder auch nicht. Aber man weiß es nie, bis man es versucht hat, oder?
Der Wind in den Baumkronen seufzte, und Lavim trottete den Pfad hoch.
Richtig, dachte er. Aber wenn sie Gärten in Thorbardin haben, dann müssen sie sich natürlich etwas mit dem Licht ausgedacht haben.
Lavim hatte beschlossen, daß er sich keine Gedanken mehr über seine neue Angewohnheit, Selbstgespräche zu führen, machen würde. Außerdem hatte er daran fast so viel Spaß, wie mit jemand anderem zu reden. Zum einen konnte er sich nie unterbrechen. Außerdem kam es ihm so vor, als ob Stanach und Tyorl einfach unglücklich waren, wenn sie ihm nicht dauernd ins Wort fallen konnten. Kelida hörte manchmal zu. Aber alles in allem fing er an, seine Selbstgespräche zu genießen. Er bekam gute Antworten.
Er verließ den Pfad dort, wo ihm abgeknickte Zweige und zertretenes Unterholz Stanachs Weg verrieten.
Ein echter Zwerg! Tritt einen eine Meile breiten Pfad, damit auch jeder sieht, wo er langgegangen ist. Zwerge sind wirklich ungeschickt, was Wald angeht.
Vor ihm ragte eine Felswand auf. Lavim grinste. Ich wette, er ist hier langgekommen. Warum ist er nicht auf dem Weg geblieben? Was soll’s! Ich frage ihn, wenn ich ihn finde.
Er griff nach den Kerben und zog sich den Stein hoch. O ja, Stanach war hier gewesen. Die Flechten am Fels waren zerrissen und zerquetscht. Lavim schüttelte den Kopf. Er hätte auch gleich in roten Lettern anschreiben können: HIER BIN ICH LANG.
Sonnenlicht blinkte auf etwas Weichem, Rotbraunem, das in einer nahen Felsspalte lag. Lavim griff nach dem glänzenden Ding und runzelte die Stirn, als er Pfeifers Flöte aufhob.
Er holte tief Luft und ließ sie leise pfeifend wieder ab. Pfeifers Flöte! Was für ein Fund!
Er hob die Flöte an die Lippen, um gleich festzustellen, ob sie ihm Lieder beibringen würde. Er versuchte eine Note, dann eine andere. Noch bevor er Atem holen konnte, hielt ihn ein plötzlicher Gedanke auf.
Aber warum, dachte er, sollte Stanach sie hier oben lassen? Er gibt wirklich immer acht, daß er nichts herumliegen läßt – gibt verflixt gut acht –, und hier liegt Pfeifers Flöte wie weggeworfen.
Der Kender rieb mit den Daumen über das weiche Kirschbaumholz. Dann hielt er die Flöte in die Sonne und sah das Rotbraun tief im Holz glimmen. Hatte der Zwerg sie fallen lassen?
Lavim schnaubte. Unwahrscheinlich! Es war Pfeifers Flöte, und Stanach zufolge war sie magisch. Man wirft nicht einfach eine Zauberflöte weg, die man zwei Tage lang am Gürtel hängen hat und bei der man alle fünf Minuten überprüft, ob sie noch da ist.
Lavim untersuchte den Stein an dieser Stelle genauer. Es war noch jemand anders hier gewesen. Der Sand um die kleine Kiefer auf dem Felsen zeigte zwei Paar Fußabdrücke.
Und zwar nicht Tyorls Fußstapfen, dachte der Kender. Er hockte sich hin und legte seine Hand an die Abdrücke. Die einen waren schmaler als die anderen, aber beide hatten dieselbe Länge. Ein anderer Zwerg.
Ja, warum sollte denn noch ein Zwerg hier draußen mitten im Wald herumlaufen? Oh, dachte er, richtig, die Wie-auch-immer-sie-heißen.
Theiware.
»Genau«, sagte er, »Theiware. Das bedeutet – « Lavim machte den Mund zu und sah sich um. Der Wind seufzte im Unterholz. Der Fluß unten im Tal plätscherte und lachte. Ein Eichelhäher schimpfte aus einer Eichenkrone und flog geräuschvoll davon. Es war niemand da, aber er hatte eine Stimme gehört, so hohl wie der Wind oder wie der ferne Klang einer Flöte. »Äh, hallo?«
Lavim, Stanach sitzt in der Patsche.
Lavim drehte sich hin und her, sah stirnrunzelnd in das Tal und zornig in das Dickicht hinter dem Pfad. »Wo bist du?« fragte er laut. »Und wer bist du überhaupt? Woher weißt du, daß Stanach in der Patsche sitzt?«
Du mußt ihm helfen, Lavim.
»Ja, aber… Stopp mal! Woher weiß ich, daß du nicht einer von diesen, äh…«
Theiwaren.
»Genau! Woher weiß ich denn – «
Warum sollte ich dir dann sagen, daß er in der Patsche sitzt?
»Warum zeigst du dich nicht? Wie wäre denn das? Wo steckst du?«
Genau hinter dir.
Lavim fuhr herum. Hinter ihm stand niemand. Er konnte doch keine Stimme hören, wenn keiner da war, der redete. Redete er wieder mit sich selbst?
Es klang aber nicht wie seine eigene Stimme. Er kniff seine Augen fest zu und versuchte sich daran zu erinnern, wie seine Stimme sich anhörte, wenn er mit sich selber redete. (Dachte, erinnerte er sich.) Aber er konnte sich nicht daran erinnern, und für den Fall, daß er nicht gerade ein merkwürdiges Selbstgespräch führte, machte der Kender die Augen wieder auf und blickte sich um.
»Jetzt hör mal zu – «
Die Stimme, die jetzt von hinten und von allen Seiten kam, hatte sich von hohl wie der Wind zu Stahl verwandelt.
Lavim, du hast mich gerufen. Jetzt hör du mir zu! Geh und hol Tyorl!
Lavim seufzte. Wenn er immer noch mit sich selbst redete, dann hatte er Tyorls und Stanachs dumme Angewohnheit übernommen, einem ins Wort zu fallen.
»Ich dich gerufen? Ich habe niemanden gerufen. Ich hab – «
Darüber reden wir später! Geh!
Lavim kletterte den Felsen hinunter und hastete zum Pfad. Er rannte nicht vor Angst. Auch nicht aus Gehorsam.
Was ihn so geräuschvoll wie ein Zwerg durchs Unterholz rennen ließ, war die plötzliche, klare Erkenntnis, daß es diesmal nicht seine Stimme war, und daß er nicht mit sich selbst geredet hatte.
Gut, ergänzte er, vielleicht habe ich doch mit mir selbst geredet, aber jemand anders hat geantwortet!
Lavim lachte und hielt die alte Holzflöte hoch, während er rannte. Er ahnte, wer ihm geantwortet hatte.