Das Geborgene Land, Das Reich der Vierten, Braunes Gebirge, Silberfeste, 6241. Sonnenzyklus, Frühherbst.


Bylanta reichte Tungdil die Hand. »Möge dich Vraccas vor allen Gefahren des Jenseitigen Landes beschützen und dich gesund zurückkehren lassen.«

»Das wird er«, erwiderte er freundlich und schüttelte die feingliedrige Hand der Königin. Er würde ihr nicht sagen, dass er keinesfalls beabsichtigte zurückzukehren.

Sie standen vor den vier intakten Türmen und den Mauern der Silberfeste, vor denen die Acronta ihre Scheinbelagerung lange aufrecht gehalten hatten. Von den Wesen fehlte jede Spur. Zurückgeblieben war ein Meer von abgenagten Orkknochen, welche die Vierten zur Abschreckung liegen ließen.

»Und ich wünsche dir, dass Ginsgar Ungewalt bald dem Tod erliegt«, sprach er seine Gedanken offen aus. »Wird er das nicht, kommt es schrecklich für die Stämme.«

»Ehrliche Worte.« Bylanta sah ihn mit aufrichtiger Bewunderung an. »Dann lass uns frei sprechen: Die Stämme benötigen jemanden, der sich Ginsgar entgegenstellt, Tungdil Goldhand. Nach seinem Erfolg in Älandur ist das nicht leicht. Er hat unzählige Gefolgsleute und etliche heimliche Freunde in den Zwergenreichen.«

»Glaimbar...«

»Nein, du wärst der Richtige, denke ich. Balendilin aus dem Stamm der Zweiten ist nicht mehr kräftig genug und ihm mit einem Arm unterlegen. Niemand wird Malbalor Gehör schenken, weil er ein Dritter ist und die Worte Ginsgars über die Dritten wie Gift in den Verstand vieler getröpfelt sind.«

»Ich bin auch ein Dritter...«

Bylanta blieb stur wie gehärtetes Gold. »Du bist ein Held, Tungdil. Niemand zweifelt dich mehr an. Dafür hast du zu große Taten vollbracht. Und Glaimbar hat aus seiner Anerkennung von Ginsgar keinen Hehl gemacht, auf ihn kann ich mich nicht verlassen.« Sie lächelte. »Bleiben Xamtys und ich. Zwei Zwerginnen gegen hundertfache Unvernunft. Wir könnten noch einen Helden an unserer Seite gebrauchen.« Sie drückte seine Hand und legte die andere auf seinen Unterarm. »Also, kehre schnell zurück, Tungdil.«

Er verbeugte sich und stieg auf sein Pony, um zu seinen Freunden aufzuschließen, die an der Spitze des Zuges ritten. Tungdil wünschte sich, dass er die Worte, die mit Sanftheit, aber enormer Wirkung in ihn eingedrungen waren, lieber nicht vernommen hätte. Sie bohrten dort weiter, wo die Wirkung von Bramdals Rede geendet hatte. Bylanta packte ihn erneut bei seinem Verantwortungsgefühl, die Dinge im Geborgenen Land so anzugehen, wie es sich für einen Zwerg wie ihn gebührte.

»Verdammt«, fluchte er laut und trat dem Pferdchen die Fersen in die Seite, dass es einen erschrockenen Satz nach vorn machte und angaloppierte, als sei eine Horde Wölfe hinter ihm her. Der Geruch der Ubariu und ihrer Reittiere stellten sein Gemüt ohnehin auf eine harte Probe.

»Da hat es aber jemand sehr eilig, zu neuen Landen aufzubrechen«, kommentierte Rodario das ungestüme Heranbrausen. Er legte sich den Mantel, den er von Ortger bekommen hatte, enger um den Leib. »Meine Güte, in den Bergen Urgons war es schon eisig, aber hier herrscht beinahe Winter.«

Flagur richtete sich im Sattel auf und gab dem Fanfarenträger ein Zeichen. Ein Signal hallte von den Bergwänden wider, und das Heer setzte sich in Marsch. Das Stampfen der genagelten Sohlen, die Laute der Reittiere, das Rumpeln und Poltern setzten augenblicklich ein.

»Sie mögen die Scheusale von mir aus bekämpfen, aber dennoch...«, meinte Ingrimmsch andeutend, der sich nach hinten gedreht und den langen, langen Zug betrachtet hatte, »man könnte Angst vor ihnen bekommen.« Als er die Blicke von Tungdil und Sirka bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Aber ich weiß es glücklicherweise besser.« Goda verdrehte die Augen. Noch immer ritt sie seitlich versetzt neben ihm und betrachtete ihn bei aller Liebe und dem, was sie aus Liebe taten, immer noch als ihren Waffenmeister, dem sie ihren Respekt erweisen wollte. Sie bestand darauf. »Du bist ein hoffnungsloser Zweifler«, sagte sie.

»Ja, hackt nur alle auf mir herum, als wäre ich eine Schweineschnauze«, beschwerte er sich und ritt los. »Ich gebe mir Mühe, Vraccas und Ubar seien meine Zeugen.«

Rodario lachte. »Das nenne ich einmal einen Fortschritt. Er hat den Namen des fremden Gottes behalten und ihn sogar ausgesprochen.«

»Aber er kommt erst nach Vraccas. So wird es immer bleiben.«

»Ich schaue nach meinen Leuten. Bis nachher!« Sirka wendete ihr Reittier und verschwand zu dem Teil des Zuges, wo die Untergründigen marschierten.

Tungdil sah ihr nach, dann richtete er seine Augen nach vorn. Die Spannung stieg. Bald würde er sehen, was keiner vor ihm erblickt hatte.

Nach jeder Kurve ersehnte er ein erstes Wunder, doch es sollten noch einige Umläufe vergehen, bis sie sich überhaupt aus dem Gewirr aus Schluchten hinausbewegt hatten.

Schließlich ging seine Ungeduld so weit, dass er sich den Kundschaftern der Ubariu anschloss, um endlich einen ersten Blick auf Sirkas Land werfen zu können.

Er war so besessen von dem Wunsch, dass er an nichts anderes mehr denken konnte und wollte. Weg, nur weg von dem Geborgenen Land und einer neuen Verantwortung, die er nicht übernehmen wollte. Es ging durch ein Gewirr aus brüchigen Felsspalten, düsteren Klammen und an bodenlosen Abgründen vorüber. Feuchtkalter Nebel und tief ziehende Wolken raubten ihnen oftmals die Sicht und machten jeden Schritt zu einem Wagnis.

Der Weg aus diesem Irrgarten zurück musste neu gefunden werden, denn die Felsen verschluckten jegliche Markierung nach einer gewissen Zeit wieder, sei es ein gemalter Strich oder ein gemeißeltes Zeichen. Manche der Aufklärer sagten sogar, dass sich Wände verschoben.

Tungdil ertappte sich dabei, dass er mehrmals daran dachte umzukehren, ohne den genauen Grund zu wissen. Er spürte keine Angst. Doch ihn und die Späher umgab etwas, das an den Nerven zehrte, ihn fahrig machte. Er litt an einer Steigerung von Ungeduld, die unaufhörlich in ihm schrie, entweder sofort in Letefora anzukommen oder auf der Stelle zurück ins Geborgene Land zu reiten. Sobald er sich umwandte, sah er den Weg nach Hause deutlich und lockend vor sich. Blickte er nach vorn, sah er nur Nebel, Wolken und Felswände. Er riss sich zusammen.

Ab und zu machten ihn die Kundschafter auf finstere Abzweigungen aufmerksam, aus denen wohl die Scheusale heraufstiegen und sich auf Raubzüge zum Hohlweg und zur Silberfeste begaben. Einer dieser Pfade führte vermutlich zu der Schwarzen Schlucht.

Tungdil ahnte, dass er sich ohne Führung hoffnungslos verlaufen hätte. Und so war er sehr erleichtert, als sich die Landschaft nach fünfzehn Umläufen um sie herum änderte.

Die Gebirge um sie herum schrumpften zu kleinen Hügeln, wurden flacher und grüner. Karge Felsen wandelten sich in sattgrüne Wiesen mit knorrigen Bäumen, die den Winden getrotzt hatten. Nach einer letzten Windung ihres Pfades gaben die Erhebungen den Blick auf die neue Welt frei.

Sie standen auf einer Hochebene, sicherlich zwei Meilen über dem eigentlichen Grund, und genossen eine Aussicht, die Tungdil die Sprache verschlug.

Eine weite Ebene breitete sich aus, in der eine gigantische Stadt lag. Eine solche Ansammlung von Häusern hatte er noch niemals gesehen. Sie übertraf von ihren Ausmaßen her selbst die größten Städte der Menschen im Geborgenen Land und wurde durchzogen von breiten, geraden Straßen, auf denen sich allerhand tat; dicke Mauern liefen ringförmig hindurch und schufen mehrere Dämme gegen mögliche Eroberer. Im Mittelpunkt standen die höchsten Gebäude, die mal rund, mal oval und mal eckig waren. Einige der Bauten mussten mehr als dreihundert Schritt in den Himmel ragen. Vögel umkreisten sie und tauchten in dichten Schwärmen in die künstlichen Schluchten ein.

»Wie ist so etwas möglich?«, staunte Tungdil fassungslos. »Wer lebt dort? Riesen?«

Der Kundschafter zeigte auf verschiedene Bereiche in der nächstgelegenen Stadt. »Das vor uns ist Letefora. Darin leben einige Menschen, wenige von meinem Volk und überwiegend Ubariu sowie eine Hand voll Acronta. Alles in allem schätze ich die Zahl der Einwohner auf zweimal hunderttausend.« Seine Hand hob sich und deutete nach Westen, wo kurz vor dem Horizont eine weitere Stadt zu sehen war. »Dort liegt die größte Stadt diesseits des Meeres. Es ist Höphoca und bietet zehnmal hunderttausend Wesen eine Bleibe.« Er wandte sich nach Osten. »Da drüben beginnt die Region der Monstren. Sie haben alte, aufgegebene Siedlungen der Menschen in Beschlag genommen, die nach der Fertigstellung von Letefora zurückgelassen wurden. Sie verteidigen sie hartnäckig. Wir lassen sie darin leben, weil die Acronta es so wollen. Gelegentlich unternehmen sie Jagdausflüge dorthin.«

Tungdil schaute auf die abgeernteten Felder, die Wege und Straßen, die an ihnen vorbeiführten und die Städte miteinander verbanden. Dörfer schien es keine zu geben, nur einzelne, aber gewaltige Wehrgehöfte standen außerhalb von Letefora. Kleinere Waldflächen sorgten für dichtes Grün in der Ebene.

»Wohin ist das Heer der Acronta gegangen?«, fragte er den Kundschafter.

»Ich weiß es nicht. Vermutlich ziehen sie durch das Gebirge und suchen noch mehr Scheusale.« In weiter Entfernung machte Tungdil ein silbernes Glitzern aus. Das musste das Meer sein, von dem Sirka erzählt und der Aufklärer eben gesprochen hatte: eine schier endlose Wasserfläche mit Stürmen und Wellen so hoch, dass sie Schiffe und Inseln verschlangen, ohne dass man jemals wieder eine Spur von ihnen fand. »Unser Ziel ist Letefora«, sagte der Ubari. »Von dort geht es quer durch das Gebiet der Monstren zur Schwarzen Schlucht.«

»Wieso nutzen wir nicht die Pfade, die du mir unterwegs gezeigt hast? Wir könnten die Ungeheuer mit dem Zug auf das Fehlen des Artefakts aufmerksam machen.«

Der Ubari schüttelte den Kopf und streichelte den Nacken seines Reitwesens. »Die Pfade sind zu tückisch. Man verirrt sich noch schneller als auf den Wegen, die wir geritten sind, und findet nie wieder hinaus. Die Ubariu und wir haben schon einmal ein vollständiges Heer verloren. Die Überlebenden, die durch eine glückliche Fügung zurückfanden, berichteten von lebenden Felsen, bösartigen Dämpfen und schlimmsten Wesen, welche ihnen auflauerten. Daher nehmen wir den anderen Weg. Nur die Acronta wagen sich hinein.« Er grinste. »Die Ungeheuer, durch deren Gebiet wir marschieren, sind viel zu feige, um sich uns entgegenzustellen. Niemand stellt sich einem Heer von einhunderttausend Schwertern in den Weg.« Er stieg ab. »Wir warten hier auf den Zug«, erklärte er und sandte zwei seiner Leute zurück, um Flagur zu benachrichtigen und durch das Labyrinth zu lotsen.

»Wo ist der verborgene Weg, der ins Geborgene Land führt?«, fragte Tungdil und setzte sich auf den Boden, während der Kundschafter ein Feuer entzündete. Er konnte sich nicht an der Stadt satt sehen, bemerkte hohe Masten und gespannte Seile, an denen Körbe hingen und die über die Straßen hinweg schwebten. Dabei bildete er sich ein, dass der Wind ihm unbekannte Geräusche und Gerüche zutrug.

»Dazu müsstest du noch einen halben Sternenzug nach Westen gehen, kurz vor dem Gebiet der Monstren. Man übersieht den Eingang gern, trotz der Bastion, die wir und die Ubariu errichtet haben. Zu auffällig sollte sie nicht sein, damit wir nicht noch mehr von den Bestien anlocken.«

Tungdil freute sich wie ein kleines Kind auf die Umläufe, die er hier zusammen mit Sirka verbringen würde. Er bereute es nicht einen Lidschlag lang, dem Geborgenen Land den Rücken gekehrt zu haben. Vermutlich sogar für immer.

»Was sind das für Körbe?«, fragte er.

»Das?« Der Kundschafter blies noch einmal ins Feuer, um die Flämmchen zum Brennen zu bringen. Blau und Grün zuckten sie empor. »Es liegt am Holz, schätze ich«, erklärte er, als er den erstaunten Blick des Zwerges bemerkte. »Ich habe mich über euer rotes und gelbes Feuer auch sehr gewundert.« Dann nickte er zu den Masten. »Es ist unser Transportwesen. Mit den geraden Verbindungen zwischen bestimmten Plattformen in Letefora sparen wir viel Zeit, die man zu Fuß für diese Strecke benötigen würde. Vor allem, wenn auf den Straßen viel los ist. In einen Korb passen etwa fünfzig Menschen, natürlich weniger von meinem Volk. Und Acronta laufen lieber.«

Tungdil hatte eine titanische Brücke entdeckt, die von den Bergen im Südwesten schnurgerade bis nach Letefora verlief. »Eine Verbindung zu einem Bergwerk, nehme ich an?«

Der Kundschafter grinste. »Nach einem Bergwerk kann nur ein Zwerg fragen. Nein, es ist eine Wasserleitung, über welche die Stadt ihre Versorgung bezieht. In der Stadt selbst gibt es verschiedene Verteilerhäuser, wo das Wasser durch gewundene Rohre in die Stadtviertel geführt wird.«

»Und wie...«

Der Ubariu hob die linke Hand. »Lass mich mein Tier versorgen, Tungdil. Danach können wir weiterreden. Aber ich bin mir sicher, dass Flagur und Sirka sehr gern diejenigen wären, welche dir die Wunder von Letefora erläutern.« Er stand auf und kümmerte sich um den Befün.

Tungdil ging zu seinem Pony, sattelte es ab und führte es zu den Wiesen, wo es grasen durfte. Er nahm Papier, Tintenfass und Federkiel heraus und begann mit der ersten Zeichnung der fremden Stadt.

Загрузка...