Das Geborgene Land, Königreich der Vierten, Braunes Gebirge 6241. Sonnenzyklus, Frühsommer.
Ein gellender Pfiff dröhnte durch den breiten Schacht nach oben, gleich darauf bimmelte das Glöckchen im so genannten Förderwerk. Der Raum wurde von einer streng durchdachten Abfolge aus Winden, Zahn- und Schwungrädern sowie Gewichten in allen möglichen Größen bis auf eine Nische vollständig ausgefüllt. In dieser Nische war der Platz des Hebemeisters.
Ingbar Onyxauge aus dem Clan der Steinwender, der seinen verantwortungsvollen Dienst versah, hatte das Signal verstanden. »Es geht los!«, schrie er hinab.
Seine Hände bedienten nacheinander verschiedene zwergengroße Hebel aus Eisen und lösten damit die Bremskeile zwischen den Rollen und Rädern; schnurrend setzte sich die befreite Maschinerie in Bewegung.
Die rotierenden Teile der Konstruktion entfachten einen nach Öl und Schmierfett riechenden Luftzug, die Kraft der Gewichte an den Ketten zog den Lastenaufzug nach oben, ohne dass ein Zwerg seine Muskelkraft vergeudete. Auf diese Art wurden vierzig Zentner mühelos gehievt.
Ingbar schloss die Augen und lauschte auf die Klänge, dann nahm er sich seine Ölkanne und gab an manchen Stellen etwas auf die surrenden Räder. Er hasste es, wenn Metall auf Metall rieb, der Verschleiß war einfach zu hoch.
Plötzlich erklang ein Geräusch, welches der Hebemeister noch nie in einer seiner Schichten zu Gehör bekommen hatte, und das Förderwerk stand still.
»Was soll denn das?«, grummelte er und kontrollierte eilig die anfälligsten Teile des Aufzugs, ohne jedoch etwas zu entdecken. Die Zahnräder waren heil, die Ketten intakt und die Winden nicht aus ihren Aufhängungen gesprungen.
Ingbar ging zum Schacht. Ganz weit unten erkannte er einen schwachen Lichtschimmer, der vom Förderkorb stammte. Sicherlich betrug die Entfernung noch fünfzig Schritte. »He, ihr da unten! Hat sich der Flaschenzug bei euch verkeilt?«, brüllte er in die Tiefe.
Zur Antwort läutete das kleine Glöckchen Sturm. Es überschlug sich mehrmals, bimmelte grell und laut und schmerzte in den Ohren, bis die Schnur abriss und es verstummte.
»Ho, was macht ihr denn?«, rief er besorgt.
Ein Ruck durchlief die Kette, sie entspannte und spannte sich gleich darauf wieder; das Eisen ächzte auf, weil die Belastung anstieg.
»Seid ihr verrückt geworden? Tanzt ihr im Korb?« Ingbar starrte auf das Förderwerk, das sich langsam rückwärts bewegte und den Aufzug absenkte. Er rannte zurück zu den Hebeln und ließ die Bremsen einrasten. »Ihr habt euch überladen!«, rief er. »Schafft den Schutt raus, sonst kann euch das...«
Knirschend brach die erste Bremse. Mit hellem Klirren zersprangen daraufhin die übrigen Haltebolzen einer nach dem anderen und flogen als scharfkantige Geschosse umher. Einer davon bohrte sich durch das Kettenhemd in den Oberschenkel des Hebe meisters. Langsam wickelte sich die Kette ab und sandte den Aufzug mitsamt den Insassen zurück in die Tiefe. »Verfluchter...« Ingbar hielt sich die frische Wunde. Zum Verbinden war später Zeit, nun galt es zu verhindern, dass die Arbeiter in den Tod stürzten.
Er humpelte zu den Rampen, auf denen die zusätzlichen Gegengewichte gelagert wurden. Bei besonders schweren Lasten konnten sie den eigentlichen Winden angehängt werden, allerdings war noch niemals versucht worden, dieses Kunststück im laufenden Betrieb zu vollbringen.
Ingbar kannte das Förderwerk sehr genau, wusste um seine Eigenheiten und Tücken. Er verband die Aufhängung der Zusatzgewichte mit einer langen Kette, befestigte einen massiven Haken daran und steckte ihn in die Notschelle einer noch langsam rotierenden Winde.
Der Haken griff. Die Kette spannte sich klirrend und zog die neuen Gewichte zu sich heran. Durch die vielen Tonnen zusätzlichen Ballast verringerte sich das Abrollen der Ketten, bis das Förderwerk zum Stehen gelangte. »Alles in Ordnung bei euch?«, rief er in den Schacht hinab. Der Korb mit den Arbeitern befand sich, wenn er die Markierungen auf den Ketten richtig ablas, auf einhundert Schritt. Sie hatten genau vor einem Zugangsstollen angehalten. »Gut«, brüllte er. »Ladet den Schutt ab, oder ein paar von euch müssen aussteigen. Sonst bewegt sich nichts mehr.«
Er wartete eine Weile, bis er sicher war, dass sie seinen Anweisungen gefolgt waren, dann hakte er die Gegengewichte aus und schob das Förderwerk an, damit der Aufzug endlich nach oben gelangte. Damit er ihn bremsen konnte, nahm er sich eine lange Eisenstange und setzte sie beim kleinsten Zahnrad als Widerstand an; bei der Ankunft des Korbes blockierte er es vollständig. Die Fahrt nach oben war gelungen. »Das war knapp.« Ingbar wunderte sich, dass die Lichter verloschen waren. Die spärlichen Lampen des Raumes genügten nicht, um das Innere auszuleuchten. Ratternd öffnete sich die eiserne Tür. »Ich werde den Schacht stilllegen müssen, bis die Bremsen ausgetauscht sind. Was habt ihr...« Der Anblick verschlug ihm die Sprache. Riesige Gestalten traten aus dem Aufzug hervor. Sie waren bis zu den Zähnen gerüstet, trugen eiserne Streitkolben und Schilde mit unbekannten Zeichen darauf. Aber ein Blick auf die groben Gesichter mit den hervorspringenden Hauern genügte dem Zwerg, um zu wissen, wer sich ihm näherte: Orks! »Zu den Waffen!«, schrie er und zog sein Beil. »Grünhäute!« Ehe er sich versah, flog etwas heran und traf ihn gegen die Stirn, sodass er in sich zusammensackte. Benommen bildete er sich ein, dass sich ein Ork mit rosafarbenen Augen über ihn beugte, seinen Schädel befingerte und wieder verschwand... Als Ingbar wieder zu sich kam, lag er immer noch in dem Raum. Er hörte das Rattern der Ketten. Stöhnend richtete er sich auf und betastete die Beule an seinem Kopf; neben ihm lag ein runder Stein. Die Orks hatten ihn für tot gehalten, anders vermochte er sich nicht zu erklären, warum sie von ihm abgelassen hatten. Gewöhnlich ließen sie keine lebendigen Zwerge zurück.
Viele Schritte kamen den Gang entlanggelaufen, und im Schein von Fackeln tauchte eine Abteilung Krieger auf. »Ingbar! Sind die Grünhäute hier entlang gekommen?«, fragte ihn einer aufgeregt.
»Sie sind hier heraufgekommen, aber ob sie...« Er schaute nach dem Förderkorb. Er war weg! »Doch... Seht, sie sind auf dem Weg nach unten!«
Grimmig sah ihn der Krieger an und half ihm auf die Füße. »Dann hol sie wieder hoch.«
Ingbar humpelte zum Förderwerk, verstellte ein paar Zahnräder und musste die Zusatzgewichte wieder einklinken. Die Orks hatten auf ihrem Streifzug durch das Braune Gebirge fette Beute gemacht, so wie sie sich überladen hatten. »Was ist geschehen?«
»Wir hatten gehofft, dass uns andere diese Frage beantworten können«, erwiderte der Zwerg. Seine Begleiter stellten sich mit gespannten Armbrüsten im Halbkreis vor dem Schacht auf, um die Feinde mit einem Bolzenhagel zu überschütten. »Die Orks sind wie aus dem Nichts aufgetaucht, haben unsere Wachen überrumpelt und den Diamanten gestohlen.«
»Den Diamanten?«, fragte Ingbar entsetzt. »Was haben die Scheusale damit vor?«
Einer seiner Krieger blickte in die Tiefe. »Noch zwanzig Schritte, dann sind sie oben«, meldete er und reihte sich ein.
»Wir wissen es nicht. Ist dir etwas Ungewöhnliches an ihnen aufgefallen?«, fragte der Zwerg. »Nein, nicht...« Ingbar zögerte. »Doch! Einer von ihnen hatte rosafarbene Augen.« Er gab einen kurzen Bericht von dem, was ihm geschehen war. »Und als ich zu mir kam, seid ihr erschienen.« Er verstummte, als der Korb auftauchte. Die Tür blieb verschlossen; anscheinend wagten sich die Orks nicht heraus.
»Stellt euch, ihr Feiglinge!«, rief der Krieger. »Ihr könnt nicht entkommen.« Weil sich nichts tat, schickte er einen seiner Männer vor, um die Eisentür aufzuschieben.
Da erkannte Ingbar, was ihn gestört hatte: Der Korb war zu schwer! Was immer sich darin befand, es konnten nicht die Orks sein, denn sie waren vorhin mit den herkömmlichen vierzig Zentnern nach oben gezogen worden. Jetzt hatte er aber vierzig Zentner und die zusätzlichen Gewichte des Förderwerkes in Betrieb. Kein Diamant im Geborgenen Land war so schwer.
Der ausgesandte Krieger erreichte die Tür des Korbes. Er löste die Sperre und schob die Tür einen Spalt zur Seite.
Durch die Lücke schnellte ein stählerner Greifer und drückte die Tür ganz auf. Zischend quoll eine heiße Dampfwolke aus dem Korb und hüllte die überraschten Zwerge ein. Sie rangen nach Luft, der glühend feuchte Dunst schmerzte in den Lungen und in den Augen; schlagartig bildeten sich Wassertropfen auf den Rüstungen. Es klickte und ratterte, dann durchschnitten ungezielte Armbrustbolzen die Luft und trafen mehr durch Zufall etliche der Zwerge. Tot oder verletzt fielen sie auf den Steinboden.
»Zurück!«, rief Ingbar. Er wusste, was sich da hatte nach oben transportieren lassen. Inzwischen kannte jedes Zwergenreich die Warnungen vor den Tod bringenden Maschinen, die in den Stollen Jagd auf die Kinder des Schmieds machten. Es waren viele Maschinen, mehr als ein Dutzend, das galt als sicher. Und er wusste auch, dass es wenige Möglichkeiten gab, diese Maschinen zu besiegen.
Der Nebel lichtete sich, sodass er wenigstens seine nächste Umgebung erkannte. »Ich schicke es wieder zurück, bevor es den Korb verlassen kann«, hustete er in den Qualm. Er hängte die Gewichte von den Winden ab und streckte die Hand nach der Eisenstange aus, welche das entscheidende Zahnrad blockierte. Da schob sich ein monströser Schatten neben ihm aus dem Dunst. Eine eiserne Zange schnappte nach ihm und bekam seinen linken Arm zu packen.
Ingbar wurde wie eine Puppe angehoben und einmal gegen die Decke geschlagen. Er kam sich vor wie im Maul eines eisernen Drachen. Von oben erkannte er den Rücken der Maschine, der ebenso stark gepanzert aussah wie die Vorderseite. Die Zwerge drangen mutig auf die Maschine ein, doch sie walzte vorwärts, über die Verletzten und Leichen hinweg.
Er sah, wie die Stange unter das Zahnrad rutschte und zusammengepresst wurde. Das Förderwerk gab dem Gewicht des Korbes nach, weil es keinen Gegenballast besaß, und er rauschte den Schacht hinab. Schneller und immer schneller drehten sich die Winden, Zahnkränze und Räder, klirrend wickelten sich die Ketten ab. Dennoch war Ingbars Plan gescheitert: Die Maschine hatte den Korb längst verlassen. Der Greifer schüttelte ihn noch einmal, ein heißer Schmerz raste durch seine Schulter, dann wurde er achtlos davongeschleudert.
Die Maschine hatte gut gezielt. Ingbar flog geradewegs zwischen die schnurrenden Winden, prallte von einer laufenden Kette ab und landete unter einem gewaltigen Zahnrad, das ihn mitsamt dem Kettenhemd zermalmte.