Das Geborgene Land, Königreich TabaTn, zwei Meilen südlich der Hauptstadt Güldengarb 6241. Sonnenzyklus, Frühling.
Wenn das Königreich Tabain zwei Eigenheiten besaß, die es unverwechselbar machten, dann waren das die scheinbar unendlichen gelben Getreidefelder, die sattgelb im Schein der Sonne leuchteten, und die gedrungenen Häuser, die aus mannslangen, kindgroßen und armbreiten Steinquadern errichtet waren. Ausschließlich aus Steinquadern.
»Es sieht wie eine Lage Blattgold aus, in die ein unachtsamer Handwerker Löcher gerissen hat«, befand Prinz Mallen von Idoslän vom Rücken seines Pferdes aus. Er schaute auf das brettflache Land, das vor ihm lag. Es gab allenfalls einige Hügel, nicht mehr als zehn oder zwanzig Schritt hoch, welche die Tabainer in der Mitte und im Süden des Reiches in einem Anflug von Unkenntnis als Berge bezeichneten. Von ihnen hatte noch keiner die Gebirge, geschweige denn ein anderes Königreich gesehen.
»Es wäre wie geschaffen für einen Eroberungszug unserer schweren Reiterei. Wir würden durch das Land donnern und über sie kommen wie einer ihrer Wirbelstürme«, sagte Alvaro, Begleiter und Kommandant der Leibgarde, schwärmerisch. Er bemerkte den schiefen Blick seines Herrn. »Natürlich meine ich es nicht ernst, mein Prinz«, haspelte er rasch und räusperte sich verlegen.
»Dir ist nicht entgangen, wie sie ihre Häuser und Burgen bauen, oder, Alvaro?« Prinz Mallen drehte sich nach links und zeigte zu ihrem Ziel, die Stadt Güldengarb samt der königlichen Festung. Die Segmente seiner kostbaren, schweren Rüstung mit dem Signum der Ido darauf rieben metallisch aneinander. »Wie sollten wir sie einnehmen? Es gibt keinen Baum, um eine Sturmleiter zu bauen, keine Felsen, um unsere Katapulte zu laden. Ach ja, und wir hätten natürlich auch kein Holz, um Katapulte zu errichten.« Er klopfte seinem Hengst beruhigend auf den Hals. »Und auch ich meine es natürlich nicht ernst«, grinste er und versetzte Alvaro einen Schlag auf den Rücken. »König Nate soll sein topfebenes Land getrost behalten.« Er ließ das Pferd antraben, und der Tross setzte sich in Bewegung. In kürzester Zeit würden sie Güldengarb erreichen, das sie auf Einladung von Nate besuchten.
Alvaro hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen seiner Äußerung. »Mein Prinz, seht mir meine Bemerkung nach.« Er ritt neben Mallen her und suchte nach passenden Worten. »Ich bin erzogen worden, um mich mit Orks und anderen Ungeheuern zu messen und mein geliebtes Idoslän gegen die Horden zu verteidigen, doch nun...« Er hob entschuldigend die Achseln, sodass sein Harnisch klirrte, »... haben Männer wie ich nichts mehr zu tun. Müßigkeit gebiert kriegerische Einfälle, mein Prinz.«
Mallen nahm den altertümlichen Helm von seinem Gürtel, zog ihn über das blonde Haupt und schnallte ihn mit dem Kinnriemen fest. »Ich weiß, was du meinst. Es gibt viele Krieger, die sich unnütz vorkommen.« »Das weiß Palandiell!«, schnaubte Alvaro erleichtert, da er sich verstanden sah. »Räuber und Wegelagerer sind wahrlich keine Herausforderung. Ich habe Schlachten geschlagen gegen Nöd'onn, gegen die Avatare, gegen marodierende Orks.« Er klopfte sich gegen den Panzer. »Jetzt rostet mein Schwert in der Scheide, ich setze einen Wanst an, und meine Arme wissen bald nicht mehr, welche Bewegungen sie vollführen müssen.« Er seufzte. »Es ist schön, dass das Geborgene Land und vor allem Idoslän keine Krieger mehr benötigt. Doch für unsereins ist es schwer.«
»Dafür kannst du mit mir auf Reisen gehen und neue Dinge sehen«, lächelte Mallen. Er genoss die Sonnenstrahlen und sog den Geruch der warmen Erde und der Ähren auf, die im Schein des Gestirns reiften. Über einer Wiese zogen zwei Greifvögel ihre Kreise und spähten nach Beute. »Das wäre dir früher nicht möglich gewesen. Dank deiner vermissten Orks.«
»Ihr habt Recht, mein Prinz. Ich bin selbstsüchtig und ungerecht.«
Der Weg, den der Zug aus vierzig Berittenen und vier Wagen nahm, führte sie auf einer verschwenderisch breiten Straße mitten durch Kornfelder auf Güldengarb zu. Die Stadt duckte sich auf die Erde, sogar die Festung machte den Anschein, absichtlich weniger hoch errichtet worden zu sein.
Die Männer bestaunten die vollen Äcker. Das war erst die Wintergerste, die alsbald eine erste reiche Ernte versprach. Die Aussaat des Sommergetreides erfolgte erst noch; es würde die Scheunen und Kammern Tabains bis unters Dach füllen und andere Königreiche mit ernähren. Falls es keinen verheerenden Sturm gab, für welchen das flache Land berüchtigt war.
»Es muss an der Beschaffenheit der Landschaft liegen, dass hier Ungewitter gedeihen, die ihresgleichen suchen. Nicht einmal in den Gebirgen der Zwerge oder im Königreich Urgon gibt es solche Winde, die alles umherschleudern, was auf dem Boden zu finden ist«, schätzte Alvaro und betrachtete die wogenden Halme. »Jetzt weißt du also, warum sie Häuser bauen, die Festungen gleichen«, sagte Mallen. »Ein normales Haus würde auf der Stelle davongetragen. Und die Leichen der Unglücklichen, die in einen solchen Sturm gerieten, blieben für immer verschwunden.«
Alvaro schaute hinauf zum strahlend blauen Himmel. »Hoffen wir, dass wir von solch einem Schauspiel verschont bleiben.«
Sie ritten in Güldengarb ein, das seine Tore für sie öffnete. Dahinter säumten Hunderte von Menschen die Straßen der Hauptstadt und winkten mit Tüchern und Fahnen; andere streuten bunte Blütenblätter zu Ehren der hohen Gäste aus den Fenstern und von den Dächern. In die Rufe mischten sich die Klänge von fröhlicher und für die Ohren der Besucher ungewohnter Musik.
Mallen bemerkte, dass es kein Haus gab, das mehr als zwei Stockwerke besaß, und selbst die waren schon selten genug und fielen sogleich auf. Um die graue Farbe der Steine zu durchbrechen, hatten die Bewohner etliche Quader angemalt. Manche hatten es sich noch einfacher gemacht und die Wände mit unterschiedlich breiten Stoffbahnen verziert.
»Es ist schön, willkommen zu sein«, bemerkte Alvaro, dem es sichtlich gefiel, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.
Eine Abordnung von Mädchen und Jungen, die strahlend weiße Gewänder und goldene Garbenkränze trugen, nahte, um den Offizieren eine Erfrischung zu kredenzen: Wein und verschiedene Früchte, aus denen mundgerechte Reiterfigürchen geschnitten worden waren.
»Das nenne ich einen Empfang«, strahlte Alvaro. »Ich möchte nur noch mit Euch durch das Geborgene Land reisen, mein Prinz.«
Mallen kostete von dem Wein und war überrascht, wie leicht er schmeckte. Die Weine aus Idoslän waren bekannt für ihr tiefes Rubinrot, ihre Schwere und den leicht holzigen Geschmack. Tabain dagegen verstand es, einen Tropfen zu keltern, der sich noch schneller als Wasser trank. Verführerisch schnell.
Die Abordnung zog sich zurück, als eine berittene Eskorte erschien, die sie zur Festung geleitete. Das nächste Staunen ließ nicht lange auf sich warten.
»Sie haben sie wirklich in den Boden gebaut. Wir könnten mit ein wenig Schwung über ihre Mauern springen«, raunte Alvaro seinem Prinzen zu, als sie mehr von dem Bauwerk sahen. Die Mauern ragten höchstens fünf Schritt in die Höhe, dafür lag der Hof, in den sie über eine für die Pferde recht steile Rampe hinab ritten, in zehn Schritt Tiefe.
»Wir würden nach deinem Sprung tief fallen«, lachte Prinz Mallen ihn aus. An einigen Mauern erkannte er steinerne Vorsprünge, die zu symmetrisch waren, um als Baufehler angesehen zu werden. Er würde König Nate später dazu befragen.
Im Hof angelangt, stiegen sie ab und folgten einem Vertrauten des Königs in den Palast, der von außen durch die dicken, schnörkellosen Wände trist und kastenförmig wirkte.
Diesen Eindruck aber machte er bereits nach den ersten Schritten durch das Innere wett. Es herrschte wohlgestalteter Prunk an den Wänden, den Decken und auf den Böden. Teppiche dämpften die Schritte und machten das Laufen zu einer Wohltat; die wunderbaren Landschaftsmalereien um sie herum vermittelten den Eindruck, nicht länger in einem Gebäude aus dicken, grauen Wänden, sondern durch ein endloses Ährenfeld zu wandeln.
Es gab keine eckigen Gänge, stattdessen geschwungene und gebogene Korridore; kein Saal, durch den sie marschierten, war vom Grundriss her kantig. Und so fügte sich das Innere des Palastes zu einem dem Auge und dem Geist schmeichelnden Meisterstück der Baukunst.
König Nate, mit gelichtetem, weizenblondem Haar und Augen, so grün wie frisches Gras, empfing sie im Thronsaal mit ausgebreiteten Armen. Die beiden Herrscher drückten einander. »So habt Ihr es in all den Zyklen endlich geschafft, bis nach Güldengarb zu reiten und mir einen Besuch abzustatten«, freute sich Nate. »Wie gefällt Euch die Kornkammer des Geborgenen Landes, Prinz Mallen?«
»Das Land ist ebenmäßig wie das Gesicht einer schönen Frau«, antwortete Mallen diplomatisch, während er neben Nate herging, der ihn zur Tafel geleitete. Es gab Obst, Gemüse und Fleisch in riesiger Auswahl, dazu wurden alle möglichen Brotsorten gereicht.
»Sagt nur, dass Ihr es zu flach findet«, lachte der Gastgeber und deutete auf den Platz zu seiner Rechten; der Stuhl zur Linken blieb leer. »Aber es hatte den Vorteil, dass sich Eure Pferde nicht sonderlich anstrengen mussten, oder?«
Mallen und Alvaro lachten. »Gebt uns einen Augenblick, um uns vom Staub der Straßen zu säubern...«, bat der Prinz, aber Nate winkte ab.
»Nein, lasst den Staub ruhig auf Eurer Rüstung. Ihr tragt damit ein Teil meines Reiches in den Palast, und dagegen dürfte ich kaum etwas haben«, meinte er verschmitzt. »Stärkt Euch gemeinsam mit mir, danach warten ein heißes Bad und ein Bett auf Euch.«
»Wenn Ihr darauf besteht, König«, nickte Mallen mit knurrendem Magen. Die Aufforderung kam ihm gelegen. Schon wurden die Teller gefüllt; als Getränke gab es Wein und bestes Wasser aus den tiefen Brunnen Tabains. »Ich habe für Euch abwechslungsreiche neun Umläufe vorgesehen«, kündigte Nate an und langte für einen Mann seines Alters tüchtig zu. »Ihr werdet mich zu verschiedenen Höfen begleiten, wo ich Euch unsere Art der Feldbestellung weise. Ihr werdet Obsthaine sehen, dass Euch die Augen übergehen.«
Alvaro grinste kauend Mallen an, und der Prinz wusste genau, was sein kriegerischer Begleiter damit sagen wollte: »Wir hätten doch Holz für Katapulte und Sturmleitern.«
»Außerdem wird es heute Nacht einen großen Maskenball geben, zu dem ich alle Adligen des Reiches eingeladen habe. Sie sind begierig darauf, den Helden kennen zu lernen, der unser Land schon mehr als einmal vor den Mächten des Bösen bewahrte, Prinz.«
Mallen hob abwehrend die Hand. »Nein, König Nate. Da ist Bescheidenheit angemessen. Meine Soldaten und ich haben zwar einen Beitrag geleistet. Den Zwergenstämmen aber gebührt das meiste Lob. Ohne ihre unerschütterliche Hartnäckigkeit, die starken Arme und den Glauben an das Gute säßen wir beide nicht an diesem Tisch. Sie haben in der Vergangenheit vieles geopfert.«
»Wie Recht Ihr habt, Prinz Mallen«, sagte eine weiche Stimme vom Eingang her. Eine Elbin in fließenden, hellgrünen und gelben Gewändern stand dort und wartete auf ein Zeichen, sich zu ihnen gesellen zu dürfen. Der Prinz und Alvaro sahen sich verblüfft an. Elben außerhalb ihres Reiches Älandur zu Gesicht zu bekommen war höchst ungewöhnlich und bislang nur bei Kriegen der Fall gewesen.
»Kommt zu uns, Rejalin«, rief Nate, und ein Diener schob den Stuhl zu seiner Linken zurück. Nun wurde klar, für wen der Platz bestimmt war. »Leistet uns Gesellschaft.«
»Sehr gern, König Nate.« Sie kam näher, jede Bewegung eine einzige Komposition von ausgesuchter Anmut, die dem Rest der Bewohner des Geborgenen Landes unerreichbar blieb. Rejalin trug ihr langes helles Haar zu einem Kranz um das Haupt geflochten, in dem filigraner Schmuck funkelte. Mallen bewunderte sie bereits jetzt; und als sie sich leicht verneigte und ihn mit »Ich grüße Euch, Prinz Mallen von Idoslän« ansprach, stand er kurz davor, ihr zu verfallen. Keine Frau, die er kannte, besaß solche blaugrünen Augen.
»Rejalin gehört zu einer Abordnung aus Älandur, die mir Fürst Liütasil sandte«, erklärte der König, während die Elbin ihr Obst kostete. Der an sich schnöde Vorgang der Nahrungsaufnahme geriet bei ihr zu einem Schauspiel höchster Eleganz.
Sie hob den Kopf und lächelte Alvaro und Mallen zu. »Es ist an der Zeit, dass mein Volk nicht länger allein über großes Wissen verfügt. Fürst Liütasil beschloss, es den Herrscherinnen und Herrschern zu überlassen. Sofern sie sich als würdig erweisen.«
Alvaro senkte seine Gabel, die er eben zum Mund führen wollte, und schaute Rejalin herausfordernd an. »So? Man muss sich erst als würdig erweisen, um die Gnade der Elben zu erhalten?« Er legte die Hände zusammen und betrachtete sie. »Was bedarf es denn, um zum Kreis der Auserwählten zu gehören?«
Rejalin pflückte sich eine Frühbeere vom Stängel, der auf ihrem Teller lag. »Das darf ich nicht sagen«, erwiderte sie freundlich und mit einer besänftigenden Melodie in der Stimme, die einen wutschnaubenden Ork vom Angriff abgehalten hätte. »Wir sehen, wir prüfen ohne Worte und tragen unserem Fürsten unsere Einschätzung zu.«
»Dann sagt mir, Rejalin, wie es sein kann, dass einer der größten Helden des Geborgenen Landes«, er deutete auf seinen Herrn, »noch keinen Besuch von einer elbischen Abordnung erhielt?« Er lauerte auf ein falsches, beleidigendes Wort.
Sie begab sich nicht auf das dünne Eis, sondern warf Mallen einen langen Blick zu, der dicht an den Ausdruck herankam, den Frauen ihren Geliebten vorbehielten. »Sie sind gewiss bei Euch angekommen, Prinz Mallen, während Ihr Euch auf die Reise nach Tabain begeben habt«, sprach sie den Regenten direkt an und strafte den Krieger mit Nichtbeachtung. »Ihr werdet sicherlich von der Abordnung meiner Brüder und Schwestern erwartet. Von Älandur nach Idoslän ist es eine gehörige Strecke.« Sie lächelte, und er erwiderte die Freundlichkeit, ohne nachzudenken.
Alvaro hatte noch lange nicht aufgegeben. »Dieses Wissen Eures Volkes«, hakte er ein, »worum soll es dabei gehen? Wie man schönere Musik macht?«
»Fortschritt«, sagte sie, ohne ihm den Kopf zuzuwenden und den Prinzen weiter bannend. »Es betrifft alle Bereiche des täglichen Lebens. Auch die Kunst.« Sie senkte die Augen kurz, danach blickte sie den Krieger an. »Ihr klingt nicht sehr freundlich, Herr Alvaro.«
Er lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich wäre sehr froh gewesen, Euer hübsches Gesicht bei der Schlacht von Porista zu sehen. Aber die Elben hatten es ja vorgezogen, in ihrem Wald zu bleiben.«
»Wir kämpften gegen die Albae, Herr Alvaro«, berichtigte sie schärfer als bislang, was der Krieger mit einem Grinsen kommentierte. Endlich verlor sie die Beherrschung.
»Sicher habt Ihr gegen die Albae gekämpft. Wir alle haben bei Dsön Balsur gegen die Albae gekämpft und beinahe alle gegen die Avatare«, setzte er nach. »Wir haben einen Beitrag geleistet, um Älandur vor Euren boshaften Verwandten zu schützen, aber wie dankt Ihr es dem Geborgenen Land? Das ist für mich ein Mysterium, das ich mir nicht erklären kann.« Er langte nach seinem Becher und prostete ihr zu. »Seid die Erste, die es vermag, ich bitte Euch, Rejalin.«
Mallen warf ihm einen bösen Blick zu. »Hör auf damit, Alvaro! Es liegt doch eindeutig vor dir: Die Elben hätten in Porista zusammen mit den Albae an einer Seite kämpfen müssen. Es wäre nie mals gelungen. Eher vereinen sich Feuer und Wasser friedlich miteinander. Sie hätten sich gegenseitig angegriffen, und die Avatare wären Sieger geblieben.«
Rejalin verneigte sich. »Ich sehe, Ihr seid verständiger als Euer Freund, Prinz Mallen von Idoslän. Es wäre ebenso gewesen, als verlangte man von Euch, Seite an Seite mit Orks zu kämpfen, die einen Umlauf zuvor Eure Hauptstadt vernichtet und sämtliche Einwohner abgeschlachtet hätten. Nachdem sie die Leiber Eurer Frauen und Kinder vor Euren Augen geschändet und gefressen hätten.«
»Ihr mögt es nicht glauben, doch wenn ich dadurch einen stärkeren Feind besiegen könnte, würde ich es tun. Danach gäbe es genügend Gelegenheiten, die Orks zu vernichten«, erwiderte Alvaro unnachgiebig. »Euch fehlt das Maß, Rejalin, den richtigen Zeitpunkt abzuwägen, um Dinge zu tun oder zu lassen. Euer Auftauchen ist das beste Exempel: Nach mehr als fünf Sonnenzyklen fällt Eurem Fürsten ein, dass er sein Wissen teilen möchte. Nach fünf!«
»Genug jetzt«, herrschte Mallen ihn an. »Ich entschuldige mich für ihn, König Nate«, sagte er bedacht. »Er ist ein Krieger, der sich nach dem Kampf sehnt und der in der friedvollen Stunde nicht weiß, wohin mit dem Schwert.« Er stand auf. »Wir ziehen uns zurück, entspannen bei einem Bad und kehren ausgeruhter zu Euch zurück.«
»Es sei Euch verziehen«, sagte Nate; Rejalin nickte und schenkte dem Prinzen einen neuerlichen Augenaufschlag. »Ich lasse Euch eine Auswahl von Masken in die Gemächer bringen.«
Mallen verneigte sich andeutungsweise und verließ zusammen mit seinem Offizier den Saal. Schweigend gingen sie nebeneinander her und sprachen kein Wort, selbst als sie ihre Zimmer bezogen und sich trennten. Der Disput zwischen Rejalin und Alvaro hatte auf die beiden Männer übergegriffen.
Gegen Abend war es so weit.
Nicht nur, dass der Maskenball bald begann; innerhalb kurzer Zeit hatte sich der blaue Himmel verdunkelt und präsentierte sich beim Erwachen von Prinz Mallen als ein einziges düsteres Gespinst, so weit das Auge reichte. Vom Fenster seines Gemachs aus, das knapp oberhalb der Zinnen der Festungsmauer lag, erkannte er verschiedene Grautöne der Wolken, durchmischt mit schwarzen, schnell dahinziehenden Dunstschwaden. Aus ihnen hingen Regenschleier bis auf den Boden, sie tränkten die Gegend um Güldengarb mit Wasser. Der Wind hatte merklich aufgefrischt. Aus der sanften Brise war ein kleiner Sturm geworden, der sich nicht entscheiden konnte, ob er an Kraft zu- oder abnehmen sollte. Am Horizont zuckte ein Blitz, lange danach hörte Mallen ein dumpfes Grollen.
Es klopfte gegen die Tür. »Verzeiht, mein Prinz. Wir werden erwartet«, rief Alvaro von draußen. »Steigt in Euer Kostüm und lasst uns gehen.«
»Gleich«, gab Mallen zur Antwort und betrachtete die Auswahl, die ihm König Nate hatte bringen lassen. Leider fand er auf den ersten Blick nichts, wonach ihm der Sinn stand. Weder wollte er ein Phantasiegebilde aus blauen Tüchern und Drahtgestängen noch eine übergroße Ähre sein, noch ein Gewand aus Goldstückchen tragen, das schwerer als seine Rüstung wog.
Er entschied sich, die Rüstung anzubehalten; dazu wählte er eine Augenmaske aus weißen und schwarzen Federn, die zusätzlich mit Rubinen besetzt war. Dann ging er zur Tür und öffnete sie.
Er stutzte, musterte Alvaro und lachte laut los.
Der Offizier hatte sich in das bunte Kostüm eines Gnoms gezwängt, eine falsche Nase aus Papiermaschee und eine alberne Mütze mit Schellen daran machten deutlich, als was er sich auf den Ball wagte, besser gesagt: wagen musste. »Es gab keine Auswahl«, brummte er. »Ich wette, dass es Königs Nate Art ist, sich für den Zwist am Tisch zu revanchieren.« Neidisch blickte er auf seinen Herrn. »Als was geht Ihr denn?« »Als mein Vater. Er trug diese Rüstung schon, und auf den Bildern komme ich seinem Wuchs gleich«, gab Mallen zur Antwort und hörte nicht mehr auf zu grinsen. »Falls es heute Abend einen Preis geben wird, ist dir meine Stimme gewiss.«
»Zu gütig, mein Prinz.« Alvaro wartete, bis sein Herr sich auf den Weg gemacht hatte, und folgte schräg hinter ihm. »Ich wollte mich noch für meine Worte entschuldigen«, sagte er schließlich. »Aber ich konnte nicht anders. Ihr wisst, dass ich nichts gegen die Elben habe. Solange sie mir keine andere Erklärung geliefert haben als die, welche Ihr Rejalin liebenswürdigerweise eröffnet habt, bleibe ich allerdings achtsam.« »Lass es gut sein«, meinte Mallen und schlug ihm auf die Schulter. »Es sei dir vergeben, wenn du zukünftig nicht mehr in meiner Gegenwart damit anfängst. Ansonsten magst du deine Meinung frei äußern.« Er wusste, dass viele Veteranen aus seinem Heer die Ansicht des Offiziers teilten. Wenn er ihnen verbot, sie laut auszusprechen, schürte er nur die Vorbehalte gegenüber den Elben.
»Habt Dank, mein Prinz«, verneigte sich Alvaro. Sie erreichten die Treppen, die nach unten in den Festsaal führten, wo sich die Gäste bereits versammelt hatten. Die Kostüme waren farbenfroh, ausgefallen, manche gewagt. Tiergestalten tummelten sich ebenso wie Phantasiewesen, ja, sogar zwei Orks und einen Alb erkannten die Männer aus Idoslän.
»Das wird Rejalin aber gar nicht gefallen«, meinte Alvaro grinsend und deutete auf den Alb. »Jetzt passt deine Gehässigkeit sehr gut zu einem Gnom«, rügte ihn Mallen. »Pass auf, dass dir deine Maskerade nicht anhaftet und du sie auf immer tragen musst.«
Sie schritten die Stufen hinunter, und ein Ausrufer verkündete den Besuchern, wer sich näherte. Beifall brandete auf, man verbeugte sich vor einem Helden und Prinzen doppelt so gern.
Mallen ertappte sich dabei, wie er Rejalin in der Menge suchte. Er fand sie neben dem Eingang. Sie trug ein Kleid, wie es einzig von Elben gewoben werden konnte; es schien aus Silberfäden und funkelnden Sternen zu bestehen. Zusammen mit dem geschmückten Haarkranz erweckte sie den Anschein, als lebendig gewordenes Sternbild einer Elbengöttin aus dem Nachtfirmament hinab zu den Sterblichen gestiegen zu sein. Rejalin lächelte ihm zu und verneigte sich ebenfalls.
Für den Prinzen erstarrte die Welt, er besaß fortan ausschließlich Augen für sie. Selbst als König Nate im Kostüm eines Magus vor ihm erschien und ihn willkommen hieß, schaute er an ihm vorbei, um die Elbin nicht aus den Augen zu verlieren. Nichts war im Stande, sich mit ihrer Makellosigkeit zu messen, weder das kristallene Geschirr noch das reine Gold an den Wänden, die wunderschönen Bilder an der Decke... Alles bis auf sie wurde mit einem Schlag hässlich, grau, simpel.
»Prinz Mallen, hört Ihr mich?«, versuchte es König Nate. »Ich sagte, Ihr werdet den Diamanten bewundern können.«
Nun musste er sich doch losreißen. »Welchen Diamanten?«, fragte er abgelenkt, dann fiel es ihm ein. »Oh, Ihr meint den Diamanten!«
Nate blinzelte wissend. »Er wäre das Einzige, das es mit Rejalins Ebenmäßigkeit aufnehmen könnte.« Mallen schaute wieder nach ihr, aber sie war in dem festlichen Treiben verschwunden. Enttäuschung machte sich breit, er sah zu Nate. »Ihr wollt den Stein zeigen? Weshalb?«
»Fürchtet Ihr eine Gefahr, Prinz Mallen?«, wunderte sich der König. »In diesem Saal befinden sich ausschließlich Personen, denen ich vertraue. Niemand würde es wagen, die Hand nach meinem Besitz auszustrecken.« Er hob die Rechte, und sein Zeichen wurde auf einer nahen Empore gesehen. Die leise Musik verstummte, Fanfaren schmetterten los und richteten die Aufmerksamkeit aller auf den Herrscher Tabains. Nate stieg die Stufen zu seinem Thron hinauf. »Freunde und Vertraute! Mögen die Winde draußen stürmen, wir lassen uns das Fest zu Ehren von Prinz Mallen, Herrscher über Idoslän und Held in zahlreichen Schlachten für unsere Heimat, nicht verleiden.« Die Menge klatschte begeistert. Nate zeigte auf Rejalin, die neben Mallen erschien. »Und auch das Volk Älandurs beehrt uns mit seiner Anwesenheit, indem es uns eine strahlende, kluge Schönheit sandte. Rejalin ist mein Gast und führt mit mir Gespräche darüber, wie das Wissen beider Reiche zum gegenseitigen Nutzen gedeihen kann.« Erneut spendeten die Besucher Beifall.
»Blendende Schönheit dient meistens dazu, über einen unsichtbaren Makel hinwegzutäuschen«, sagte Alvaro halblaut. Einer der als Ork verkleideten Besucher wandte ihm den Kopf zu.
König Nate gab den Wachen an der Tür ein Zeichen. Sie öffneten sie, und ein Bediensteter brachte zu der festlichen Hymne Tabains ein Samtkissen mit einem Diamanten herein. Die Leute hielten den Atem an. Der Stein fing das Licht der unzähligen Leuchter ein und glühte mit kaltem Feuer.
»Menschen und Elben sind hier versammelt. Daher möchte ich die Runde der Völker vervollständigen, indem ich die Worte Gandogar Silberbarts wiederhole, des Großkönigs des Zwergenvolkes mit denen mir dieses Geschenk überreicht wurde.« Nate räusperte sich. »So, wie sich dieser und dreizehn weitere Steine gleichen, sollen unsere Gedanken zukünftig im Einklang sein und unsere Herzen zum Wohl unserer Heimat schlagen. Kommen Zweifel an der Gemeinschaft unserer Völker auf, sollen sie den Stein betrachten und sich erinnern.« Er nahm den Diamanten in beide Hände und hielt ihn hoch über den Kopf. »Gedenken wir der Worte! Für Tabain! Für das Geborgene Land!«
Laute Hochrufe erklangen, die Anwesenden ließen sich von der Ansprache des Herrschers mitreißen. Alvaro dagegen verzog die Mundwinkel. Er sah die Worte gegen sich gemünzt.
»Er mag noch so schön funkeln«, sagte Mallen zu Rejalin. »Doch er ist ein totes Ding und vermag Eure lebendige Ausstrahlung niemals zu erreichen.« Er hob die Hand. »Wollt Ihr mir die Ehre eines Tanzes gewähren?«
Die Elbin nickte und legte ihre Linke auf seine Hand. »Ihr werdet mir zeigen müssen, wie man es macht. Ich kenne die Tanzschritte der Menschen nicht.«
Der Prinz führte sie in Mitte des Saales, alles um sich herum vergessend. »Folgt mir einfach, Rejalin.« Nate kam zu Alvaro, der seinen versunkenen Herrn ärgerlich betrachtete. »Ihr werdet doch meine Worte vernommen haben, Alvaro?«, erkundigte sich der König und hielt den Stein vor ihn. »Einklang ist gefragt.« Der Offizier verbeugte sich. »Gewiss, König Nate.« Er schaute auf den Diamanten. »Aber Ihr wisst, dass nur einer der vierzehn Steine der echte ist«, sagte er so leise, dass es sonst keiner vernahm. »So ist das mit falscher Schönheit. Manche lassen sich von ihr täuschen«, er blickte bedauernd auf die Tanzfläche, »andere dagegen erkennen sie.«
König Nates Hand schloss sich um den Diamanten, er wurde zornig. »Alvaro, Ihr seid ein uneinsichtiger, unbelehrbarer Krieger, der das Gute nicht erkennen möchte, selbst wenn es vor Eurer Nase tanzt! Das Kostüm eines Gnoms steht Euch in der Tat.«
»Und das Kostüm eines weisen Magus an Euch zu sehen, ist übertrieben«, gab Alvaro furchtlos zurück. »Ich sage meine Meinung frei heraus, sogar gegenüber den Mächtigen des Landes.« Er tippte sich mit dem Finger gegen die Brust. »Denn ich König Nate, habe für dieses Land gefochten. In der ersten Reihe, von Mann zu Mann. Ihr verdankt es uneinsichtigen, unbelehrbaren Kriegern wie mir, dass Ihr Euren Titel habt.« Er schaute zu dem Gast in der Albae-Kostümierung. »Verzeiht, ich geselle mich zu den anderen Scheusalen. Auch ich kenne Weisheiten: Es war immer das Misstrauen, das Schlimmeres verhütete, nicht das Vertrauen.« Alvaro verbeugte sich mit klopfendem Herzen vor dem Herrscher, weil er sich der Ungeheuerlichkeit seiner Worte bewusst war. Da flog die Tür auf der Balustrade des Festsaals auf, ein gewaltiger Windstoß brachte einen Großteil der Kerzen zum Erlöschen; nur die von Glas geschützten Leuchter hielten tapfer stand.
Ein knisterndes, Funken sprühendes Ding rollte herein und fegte die Stufen hinab, es schepperte und klirrte bei jedem Hopser, den es tat. Es glich zwei zusammengeschmiedeten Feuerkörben, abgesehen davon, dass sich in seinem Innern keine brennenden Holzscheite, sondern eine Gestalt befand. Stein zersprang unter der Wucht und dem Gewicht der Konstruktion.
Die Gäste stoben schreiend zur Seite und machten den Wachen Platz, die mit gesenkten Hellebarden vorrückten, um den König zu beschützen.
Die aus zwei Finger breiten Eisenbändern geformte Kugel walzte einfach durch ihre Reihen und überrollte zwei der Männer; knackend gingen Knochen zu Bruch, und die Wächter blieben schreiend am Boden liegen. Vor den Augen der entsetzten Anwesenden hielt das merkwürdige Gebilde an. Klackend öffneten sich Verschlüsse, und die Metallbänder schoben sich zusammen, um in einer Art eisernem Rucksack auf dem Rücken der Kreatur zu verschwinden.
Was vorher nur undeutlich zu erkennen gewesen war, offenbarte sich den verschreckten Gästen nun grinsend und Zähne fletschend. Es war groß und breit wie ein Ork, die Haut schimmerte grau mit schwarzen und dunkelgrünen Schlieren darin. Das Gesicht besaß eine schreckliche Anmut und Ebenmäßigkeit, wie es die Menschen aus Geschichten von einem ganz anderen Volk kannten - den Albae. Spitze Ohren schauten unter den langen schwarzen Haaren hervor, und als es brüllend sein gewaltiges Schwert zog, zeigte es ein scharfes, kräftiges Gebiss.
»Bleibt, wo Ihr seid!« Mallen schob Rejalin hinter sich und rannte los, um König Nate beizustehen. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass dieses Ungeheuer den Diamanten haben wollte. Den Diamanten.
Er eilte an die Spitze der Garde, die sich mit gesenkten Speeren vor ihren Herrscher stellte. Jemand reichte ihm hastig einen Schild.
Der Prinz betrachtete das fremde Ungeheuer genauer. Anstelle einer Hose trug es eine äußerst beweglich konstruierte Beinpanzerung, die ihm den Anschein verlieh, der Unterkörper bestünde aus Eisen. Brust, Oberarme und Hals wurden von runengezierten Metallplatten geschützt, die - Mallen traute seinen Augen kaum - mit einem dicken Draht in der Haut und im Fleisch befestigt waren!
»Stein!«, befahl es mit glasklarer Stimme und reckte die Hand gegen Nate. Die Finger öffneten sich klickend und blitzten im Schein der Leuchter; sie waren wie der Rest des Unterarms mit Eisen verkleidet. Mallen sah zahlreiche kleine Bolzen und dünne Nieten, mit denen Metall und Körper untrennbar verbunden worden waren. »Bei Palandiell! Wie konnte das Böse auferstehen?«, fragte Alvaro, der an der Seite des Prinzen erschien und ein Schwert hielt, das er sich von einem der verletzten Wächter genommen hatte. »Was immer das ist, es müsste tot sein, mein Prinz. Seht Ihr, was es auf dem Rücken trägt?«
Mallen schaute genauer hin. Es war kein Rucksack, sondern eine Art Kiste, die von sechs langen Stäben, die mitten im Leib steckten, an ihrem Platz gehalten wurde; vorn in Brusthöhe traten die Enden aus und waren durch überkreuz laufende Querstreben gesichert, damit sie nicht durch das Gewicht des Eisens auf dem Rücken herausgezogen wurden. Kein lebendiges Wesen überstand eine solche Tortur.
»Stein!«, wiederholte die Kreatur fordernd und tat einen Schritt vorwärts; der Eisenschuh krachte auf die Bodenplatte und hinterließ einen Riss. Die Runen glommen einschüchternd dunkelgrün - bis auf eine. Sie wäre Mallen ansonsten nicht aufgefallen, und dabei unterschied sie sich deutlich von den anderen: Sie sah elbisch aus! »Was bist du?«, fragte König Nate, der den Diamanten unerschrocken in seiner Hand barg. »Was willst du mit dem Stein?«
Mallen drehte sich zu Rejalin um, die leichenblass auf der Tanzfläche verharrte und das Monstrum anstarrte. In ihren Augen las er Erkennen. Was mag das bedeuten?, dachte er.
Da sprang das Monstrum in die Höhe. Ohne sichtliche Anstrengung setzte es über die Reihen der Soldaten hinweg und landete neben Nate; krachend zersplitterte der Marmor unter ihm. Bevor jemand etwas unternehmen konnte, packte es den Herrscher und entriss ihm den Diamanten, was Nate drei seiner Finger kostete. Schreiend sank er auf die Knie; Blut floss über seine Hand und beschmutzte die kostbare Kleidung.
Alvaro und Mallen griffen an, einer von rechts, der andere von links.
Das Scheusal brüllte und fing Alvaros Schlag mit der bloßen Hand ab. Die Runen auf seiner Rüstung leuchteten grün auf, und es zerbrach die Klinge so spielerisch, als bestünde sie aus dünnem Holz. Danach trat es dem Offizier derart kraftvoll vor die Brust, dass er wie von einem Katapult abgefeuert gegen die heranstürmenden Wächter prallte und drei von den Beinen riss.
Mallen dachte, wenigstens sein Angriff habe Erfolg, aber sein Gegner wandte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit ab, sodass die Schneide gegen den Brustpanzer prallte. Wirkungslos federte das Schwert zurück.
Als Antwort zischte die Stahlfaust heran.
Mallen duckte sich, und anstelle seines Gesichts zertrümmerte sie seinen Schild. Er bekam eine Ahnung davon, wie es einer Mauer erging, wenn sie von einem Rammbock getroffen wurde. Trotz des Gewichts seiner Rüstung hob es ihn an, er verlor den festen Stand und flog zwei Schritte durch die Luft. Hart prallte er gegen die Wand und sah Sterne vor seinen Augen tanzen.
»Worauf wartet ihr?«, schrie er. »Es hat den Stein! Lasst es damit nicht entkommen!« Er warf den zertrümmerten Schild zur Seite und griff wieder an.
Die Soldaten waren aus ihrer Starre geweckt worden und hofften auf ihre Überzahl.
Das Wesen drosch mit einem eroberten Schwert um sich und streckte einen der Männer nieder. Das Leuchten der Runen ver stärkte sich, die Zeichen schienen ihm immense Kräfte zu geben. Es packte sein Opfer einhändig am Bein und schlug brüllend mit ihm auf die Wachen ein, die der menschlichen Keule entsetzt auswichen. Das öffnete dem Monstrum die Lücke, durch die es auf der Stelle flüchtete. Es hatte, was es begehrte. Der blutige Kadaver des unglücklichen Wärters blieb grässlich verdreht und geschunden zurück.
Vor dem Treppenaufgang stellte sich ihm Alvaro vornübergebeugt in den Weg, das Schwert am ausgestreckten Arm gegen die Bestie gereckt. »Das Gesicht eines Elben, der Körper eines Orks und die magischen Runen Dsön Baisurs auf deiner Rüstung: Was bist du?«, verlangte er hustend zu wissen.
Mallen rannte auf den Rücken des Scheusals zu, fünf Gardisten folgten ihm. Er hoffte, den Stein zurückerobern zu können. Alvaro wusste, dass er die Bestie allein nicht besiegen konnte. Er wollte seinem Prinzen die Zeit verschaffen, um sie hinterrücks anzugreifen.
Doch das Scheusal verstand zu genau, was der Offizier bezweckte. Es blickte über die Schulter nach den Verfolgern, bleckte die Zähne, ließ sein Schwert fallen und rannte an Alvaro vorbei.
»Bleib stehen!« Der Offizier hob seine Waffe zum Schlag.
Das grässliche Wesen berührte ihn mit seiner Linken am Kopf; die Runen erstrahlten, und ein greller Blitz entlud sich, der alle Anwesenden im Raum blendete.
Als Mallen wieder etwas sah, war der Angreifer verschwunden. Rejalin kniete neben Alvaro und hielt seinen Kopf; aus dem Hals des Mannes sickerte ein unaufhaltsamer Strom Blut.
Die Wachen rannten die Treppe hinauf, um draußen nach dem Monstrum Ausschau zu halten, während Mallen neben dem schwer verwundeten Offizier in die Hocke ging. »Nein, mein Freund! Lass deine Seele nicht gehen!« Er riss ihm die falsche Gnomennase ab, nahm seine Hand und drückte sie. Er bemühte sich, seine Bestürzung zu verbergen, um Alvaro über die Schwere seiner Verletzung im Unklaren zu lassen. Er würde Hoffnung dringend benötigen. »Ich beschwöre dich!«
Alvaro versuchte etwas zu sagen, seine Augen huschten immer wieder zu der Elbin, aber er spuckte Blut und krächzte unver ständliche Worte; schließlich entspannte sich sein Leib, die Augen brachen und verloren alles Lebendige. Tränen quollen aus Mallens Augen. Er schämte sich ihrer nicht. Er hatte einen Mann verloren, mit dem er Seite an Seite in aussichtslose Schlachten geritten und dennoch lebend zurückgekehrt war. Was keine Orkschwerter vermocht hatten, hatte das unbekannte Monstrum mit einer Handbewegung vollbracht. »Da siehst du, was du von deinem Wunsch nach Kämpfen hattest«, sagte er leise und schloss die Lider des Toten. »Du wirst nicht vergessen werden. Dein Tod bleibt keinesfalls ungerächt.« Er nickte Rejalin zu, die ihn mitleidig betrachtete. »Stimmt es, was er sagte?«
»Was meint Ihr, Prinz Mallen?« Sie senkte den Kopf des Offiziers behutsam auf den Boden und betrachtete voller Scheu sein Blut, das an ihren Fingern klebte. Mallen nahm an, dass sie zum ersten Mal in ihrem bisher behüteten Leben voller Kunst und Poesie dem gewaltsamen Tod ins Angesicht schaute.
»Alvaro hat die Runen auf der Rüstung der Kreatur als die der Albae erkannt. Auch ich meinte, dass sie mir vage bekannt vorkamen. Sie glichen denen, die ich bei ihrem Heer in Porista sah. Was könnt Ihr mir dazu sagen?« Die Elbin wich seinem Blick aus.
Mallen ließ die Hand des Toten los. »Habe ich eine Elbenrune auf der Rüstung erkannt?«
»Ihr habt Euch getäuscht.«
Entgegen aller Gepflogenheiten des Respekts und der Höflichkeit fasste er sie am Arm und zwang sie mit sanftem Druck, ihm in die Augen zu schauen. »Rejalin! Was wisst Ihr?«
»Nichts«, sagte sie feindselig und riss sich los. »Ich stand zu weit weg, um etwas von dieser Kreatur zu erkennen.«
»Ihr lügt! Eure Augen haben sich vor...«
»Ihr wagt es, mich, Rejalin von Älandur, der Unwahrheit zu bezichtigen?« Sie sprang auf. »Ich hätte es besser wissen müssen. Ihr seid ein ungehobelter Klotz, wie beinahe jeder Mensch, der mir bisher begegnet ist«, sprach sie herablassend. »Ich fürchte, Euer Reich wird einer äußerst genauen Untersuchung bedürfen, damit es von unserem Wissen kosten darf.«
Mallen kam es so vor, als sei soeben eine Maske vom wahren Wesen der Elbin geglitten; der Zorn offenbarte ihre eigentliche Haltung gegenüber ihm und seinesgleichen. Die Bewunderung, die er bislang für sie verspürt hatte, geriet ins Wanken. »Einer der Diamanten ist geraubt, und Ihr habt keine anderen Sorgen?«
»Es ist einer von vierzehn.«
»Es ist der zweite von vierzehn«, berichtigte sie Mallen und stand ebenfalls auf. »Rejalin, Ihr werdet mir sagen, was Ihr über...«
Die Elbin wandte sich einfach um und ging zu König Nate.
Der Prinz folgte ihr. Da stellten sich ihm die beiden Besucher in den Orkkostümen in den Weg. »Rejalin möchte sich nicht weiter mit Euch unterhalten, Prinz Mallen von Idoslän«, kam es unter der Maske aus Papiermaschee hervor. Der Mann hob die Hand und streifte sie ab; darunter erschien ein Elbengesicht, das ihn freundlich, aber kühl anlächelte. »Sie möchte sich lieber um ihren Gastgeber kümmern und sehen, was das Wissen der Elben bei seiner Verletzung ausrichten kann.«
»Wissen, das Ihr Euch erst noch verdienen müsst. Geht und sucht nach dem Diamanten«, sagte der andere Elb und schlüpfte ebenfalls aus dem aufgesetzten Kopf. »Wir lassen es Euch wissen, wann Rejalin mit Euch über den Vorfall sprechen möchte.«
Mallen stieß sie zur Seite, aber sie überholten ihn und versperrten ein Durchkommen. Er blieb stehen, die Hand mit dem Schwert hob sich, doch die Worte an die Einigkeit der Völker mahnten ihn zur Besonnenheit. »Richtet Rejalin aus, dass ich eine Erklärung erwarte und die übrigen Königshäuser des Geborgenen Landes sowohl über den Vorfall als auch das merkwürdige Gebaren einer Elbin in Kenntnis setzen werde. Wenn sie sich nicht mir gegenüber erklären möchte, wird sie es sicher auf Geheiß ihres Fürsten Liütasil von Älandur tun müssen.« »Sicher, Prinz Mallen«, nickte ihm der Rechte überheblich zu. »Wir sagen es ihr.«
Er steckte die Waffe ein, ließ einige seiner Soldaten rufen und befahl ihnen, den Körper des toten Freundes aus dem Festsaal zu bringen.
Als sie ihn auf eine Bahre legten und die Treppen hinauftrugen, fiel ihm etwas ein: Das Monstrum hatte Alvaro am Kopf berührt, nicht am Hals, wo er die Wunde davongetragen hatte. Niemand sonst war nach dem Blitz in seiner Nähe gewesen. Außer der Elbin.
Ein unglaublicher Gedanke kam ihm in den Sinn. Mallen blieb auf der Empore stehen und schaute zu Rejalin, die sich um König Nate kümmerte. Hat sie Rache für die Beleidigung genommen, oder befand sich Alvaro mit seinen Worten beim Essen heute Mittag zu dicht an der Wahrheit?, grübelte er. Doch welche Wahrheit könnte das gewesen sein?
Der Zauber der unglaublich schönen Frau verflog nun restlos. Fortan würde er ihr mit allergrößtem Argwohn begegnen.
Ihr und jedem Elben.