Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.
Tungdil schaukelte unablässig vor und zurück, dabei fühlte sich sein Kopf zum Bersten voll an. Sein Hirn klopfte und pochte und wollte anscheinend zu den Ohren hinaus flüchten, während seine Kehle trocken und staubig war, als hätte er drei Zyklen lang Sand gegessen.
Stöhnend öffnete er die schweren Lider, blinzelte in das helle Licht und sah im Abstand von einer Armlänge seine Fingerspitzen baumeln und Schotter knapp darunter vorbeiziehen. Es roch streng nach Pony, und er hörte, dass sich noch mindestens ein weiteres Pferdchen in seiner Nähe befinden musste.
Zählte er alles zusammen, blieb der Schluss, dass er sich auf Reisen befand. Gegen seinen Willen. »Wo...«, krächzte er und wollte sich aufrichten. Dabei rutschte er kopfüber vom Rücken des Tieres, sodass er im Staub landete. Sein Pony machte einen erschrockenen Satz zur Seite, und der Packesel dahinter schrie aufgeregt. »Ruhig«, sagte Boindil brummend. »Er tut dir nichts. Er ist nur aus dem Sattel gefallen.« Ein sorgenvolles Gesicht schwebte über Tungdil, der schwarze Bart kitzelte seine Nase. »Bist du wach, Gelehrter?« Tungdil setzte sich und klopfte den Dreck von der Hose, dabei blickte er sich um und sah Bäume, Sträucher, Gras um sich herum. So etwas gab es im Inneren eines Gebirges nicht. »Wo bin ich?« Er zog sich am Sattel des Ponys hoch, sein Kopf drohte zu zerspringen.
»Du bist bei mir«, wich der Zwilling ihm aus.
»Das sehe ich.« Er drehte sich um und erkannte das Graue Gebirge in einiger Entfernung. Die Festung war höchstens noch zu erkennen, wenn man wusste, wo sie stand. Der Turm reckte sich als steinernes Fanal in den Himmel. »Was machen wir hier?«
»Wir sind auf eine Mission geschickt worden. Der Großkönig hat uns als Abordnung nach Älandur gesandt«, rückte Ingrimmsch mit der Sprache heraus.
»Wieso das? Als Strafe für mein Benehmen?«
»Eigentlich... hat er nur mich geschickt«, druckste Boindil herum. »Aber ich dachte mir, dass es besser wäre, einen Gelehrten dabei zu haben, der mich bei den Spitz... bei den Elben unterstützt.« Er schwang sich in den Sattel. »Und da habe ich dich mitgenommen.«
»Gandogar weiß nicht, dass ich mit dir reise?«
»Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen.«
»Hast du mich entführt!«
»Nein, bei Vraccas!«, erwiderte Ingrimmsch empört. »Ich habe dich in deinem Zimmer gefunden, und als ich dich fragte, ob du mich begleiten möchtest, hast du ja gesagt.«
»Laut und deutlich?«
Boindil lachte. »Ich habe es jedenfalls als Zustimmung verstanden.« Er bedeutete ihm, in den Sattel zu steigen. »Um ehrlich zu sein, ist es besser, wenn du ein wenig Luftveränderung und andere Dinge zu Gesicht bekommst. Die Aufgabe, dem Elbenfürsten die Aufwartung zu machen, ist so schlecht nicht. Und außerdem kennt ihr beiden euch. Es ist besser, wenn der Fürst der Elben ein bekanntes Zwergengesicht erblickt.« Rasch erzählte er ihm, warum sie auf dem Weg nach Älandur waren. »Sobald die Versammlung eingetroffen ist, wird Gandogar uns rufen lassen. Wir verpassen also nichts. Sie brauchen Helden wie uns.«
Tungdil schaute abwägend auf das Graue Gebirge, dann auf die Straße vor ihm. »Einverstanden«, willigte er ein und stieg unbeholfen in den Sattel.
Die Ponys trotteten nebeneinander her, Tungdil trank Wasser aus dem Lederschlauch und schwieg, weil ihm das Kopfweh jegliche Lust auf eine Unterhaltung raubte.
Erst am späten Nachmittag wurde er wacher und munterer dachte über die Unterhaltung mit dem Großkönig und die Erlebnisse im Jenseitigen Land nach. Er konnte sich nicht mehr erinnern, was Gandogar und die Elben zu den vielen Orkknochen gesagt hatten, daher fragte er Ingrimmsch.
Der schaute ihn verblüfft an. »Sie haben darüber kein Wort verloren. Eldrur hielt mich auf und wollte wissen, wie viele der Schweineschnauzen dem Hunger der unbekannten Bestie zum Opfer gefallen sind.« Er verzog das Gesicht und warf den schwarzen Zopf auf den Rücken. »Denkst du, die Dritten haben sie einfach gegessen?« Tungdil sah eine Kreuzung und ein Gasthaus auftauchen, was für ihn ein Bett und ein Bier bedeutete. Mindestens. »Da werden wir übernachten«, entschied er. »Die Dritten rühren ebenso wenig Orkfleisch an wie wir. Nicht einmal in der allergrößten Not würden sie sich davon ernähren.«
»Und... was ist mit den... Untergründigen?«
»Boindil, was redest du plötzlich für einen Unsinn?«, wunderte sich Tungdil. »Kein Zwerg würde so etwas tun.« Er dachte an Djerün, den Leibwächter der Maga Andökai, der selbst eine Kreatur des Bösen war und sich dennoch von den Schöpfungen Samusins und Tions ernährt hatte. Laut sprach er seine Gedanken aus. »Wir wissen, dass es mehr davon gibt als nur Djerün. Erinnere dich an das Exemplar, das die Avatare zu uns sandten, um Andökai zu töten.«
»Das würde erklären, warum sich die übrigen Scheusale nicht mehr über den Nordpass gewagt haben«, grinste Ingrimmsch. »Wenn sich eine Familie Djerüns im Jenseitigen Land vor dem Portal des Steinernen Torwegs eingenistet hat, müssen wir uns keine Sorgen mehr machen.«
Tungdil nickte. »Bessere Voraussetzungen könnten die Dritten, sofern sie dahinterstecken, fast nicht mehr bekommen: Sie haben alle Gänge versperrt und sich geheime Tunnel in unser Reich gegraben, durch die sie die Maschinen schicken, während ihnen Djerüns Artgenossen Belästigungen durch Orks und andere Bestien vom Leib halten.«
Sein Freund schwieg eine ganze Weile. »Was denkst du: Werden wir ein Heer ins Jenseitige Land entsenden, um die Dritten aufzustöbern?«
»Ich schätze, dass der Großkönig keine andere Wahl hat«, sagte Tungdil und zügelte sein Pony vor dem Gasthof, der eine riesige Stallung besaß. Offenbar diente die Kreuzung als beliebter Pferdewechselplatz für Kaufleute, Reisende und Händler.
Ein Junge kam angelaufen und nahm ihre Tiere am Zaumzeug. »Guten Abend, die Herren Zwerge. Vraccas möge mit Euch sein«, grüßte er sie artig. »Darf es frisches Gras und Hafer für Eure Ponys sein und eine gute Unterkunft für die Nacht?«
Boindil warf ihm einen silbernen Münzling zu. »Reicht das, damit du gut auf sie Acht gibst und ihnen die beste Pflege angedeihen lässt?«
»Sicher, Herr Zwerg!«, rief der Junge glücklich. »Ich striegele sie besonders lange, bis das Fell glänzt!« Er führte die Ponys unter das große Vordach und machte sich gleich an die Arbeit.
Tungdil und Ingrimmsch betraten das Innere des Gasthofs und staunten über das, was der Wirt an Andenken zusammengetragen hatte. Die Wände hingen voller alter Waffen der Orks und Albae, dazwischen baumelten Zähne aller möglichen Kreaturen. Lange Nägel waren dazu benutzt worden, um die skelettierten Schädel von Ungeheuern durch die leeren Augenhöhlen an den Holzbalken zu befestigen.
»Schau dir das an«, murmelte Boindil und nickte in die Ecke neben dem Tresen. Dort reckte sich ein lebensgroßer, ausgestopfter Ork, den rechten Arm mit dem schartigen Schwert zum Schlag erhoben; der linke hielt ein Schild, auf dem GILSPAN HAT MICH GETÖTET geschrieben stand. Auf seiner Rüstung prangten die Preise für die Getränke.
»Man muss die Menschen und ihren Humor nicht immer verstehen«, merkte Tungdil an und schritt durch den gefüllten Gastraum zu einem Tisch neben dem Fenster, durch das der rote Schein der untergehenden Sonne fiel. Ein junger, drahtiger Mann erschien, eine Schürze um die Leibesmitte gebunden und auf dem Gesicht ein Lächeln, das dem Unglaublichen Rodario alle Ehre gemacht hätte. »Willkommen, die Herren Zwerge, in Gilspans Jagdhütte.«
Ingrimmsch gluckste in seinen Bart. »Du Hänfling bist Gilspan?«
»Durchaus, Herr Zwerg«, gab der junge Mann verschnupft zurück.
»Wie alt warst du, als du die Schweineschnauze getötet haben willst? Vier oder fünf Zyklen?«, lachte er freundlich und kniff prüfend in Gilspans Oberarm. »Ho, deine Muskeln reichen aus, um ein volles Tablett zu schleppen, aber nicht, um in einem Kampf zu bestehen. Hast du den Ork tot auf dem Schlachtfeld gefunden?« Die ersten Gäste drehten die Hälse, um nach dem Krakeeler zu sehen, der die Tapferkeit des Wirtes infrage stellte.
»Ich habe ihn mit einem Stich ins Herz getötet, Herr Zwerg!«
»So, so, ins Herz.« Ingrimmsch schaute zu dem ausgestopften Ork. »Und wo liegt das Herz bei einer Grünhaut?« Gilspans Kopf lief rot an.
»Lass es gut sein, Boindil«, griff Tungdil ein. »Bring uns bitte zwei starke Biere und einen deftigen Eintopf, dazu einen halben Laib Brot.« Er schob eine Münze über den Tisch. Gilspan steckte sie beleidigt ein und zog von dannen.
»Wäre er der Mann, für den er sich hält, hätte er mich auf der Stelle herausgefordert«, brummte Ingrimmsch. Er suchte seine Pfeife, stopfte sie und zündete sie mit der Kerze an, die auf dem Tisch stand. Flüssiges Wachs tropfte auf den Tisch und bildete einen kleinen Teich. »Er hat die Schweineschnauze niemals niedergestreckt, da verwette ich meinen Bart.«
Das Bier wurde ihnen gebracht und lieblos vor ihnen abgestellt. Zufall oder nicht, aus Boindils Humpen schwappte es über den Rand und traf ihn im Schritt. Gilspan lächelte falsch, aber entschuldigend und eilte davon. »Bringt mir eine Karaffe Branntwein«, rief ihm Tungdil nach, setzte seinen Humpen an die Lippen und leerte ihn in einem langen Zug. Kaum stand der Nachschub auf dem Tisch, machte er sich gierig darüber her; dunkel rann das Bier über seinen Bart und färbte ihn an manchen Stellen ein.
»Wie kam das, Gelehrter?«
Tungdil wischte sich über den Mund und den Bart. »Ich habe zu schnell getrunken.«
»Ich meinte, dass du trinkst, als wäre der alte Säufer Bavragor dein kleinerer Bruder«, setzte Boindil ungewohnt scharf nach. »Erkläre es mir, warum du dich verändert hast. Und weswegen Balyndis trauert.« Tungdil ärgerte sich, dass ihm diese Andeutung entschlüpft war. »Wegen Balodil.«
»Balodil.« Der Zwilling neigte den Kopf nach vorn, dass sein schwarzer Bart beinahe in den Humpen eintauchte. »Und wer ist Balodil?«
»Unser Sohn.« Tungdil nahm einen Schluck vom Branntwein. »Gewesen.«
Boindil hütete sich, eine Bemerkung zu machen. Allmählich fügten sich Tungdils Verhalten und die Äußerungen zu einem Bild mit einem hässlichen Motiv darauf.
Gilspan brachte das Essen. Keiner rührte es an, obwohl es sehr gut duftete und sie nach der langen Reise hungrig waren. Erst musste die Vergangenheit ans Licht.
»Er kam vor vier Zyklen zur Welt und krönte unsere Liebe«, flüsterte Tungdil abwesend, auf die flackernde Kerze starrend. »Ich nahm ihn mit, um Besorgungen zu erledigen, und versprach Balyndis, auf ihn aufzupassen. Doch die Holzbrücke über den Fluss, die ich immer nahm, war durch das letzte Hochwasser lose geworden.« Er stürzte den Branntwein hinab. Sein Gesicht geriet zu einer Grimasse der Abscheu. »Ich bin Tungdil Goldhand, Bezwinger von Nöd'onn und Avataren, Schlächter Hunderter Orks und ein Gelehrter. Da werde ich wohl über eine wacklige Brücke gelangen«, verhöhnte er sich selbst und blickte seinem Freund in die Augen. »Die alte Brücke, Boindil, hat es mir gezeigt. Sie gab einfach unter dem Karren nach, und wir versanken. Das Kettenhemd zog mich nach unten. Ohne das leere Fass, das von unten gegen mich trieb, wäre ich ertrunken.« Das Lachen und die Unterhaltungen in der Gaststube fraßen seine Worte. »Nun sitze ich vor dir und erzähle dir von Balodil. Was denkst du, wie die Sache für ihn endete?« Dieses Mal machte er sich nicht einmal die Mühe, Branntwein aus der Karaffe in den Becher zu leeren, sondern trank gleich daraus. Er setzte sie ab, schnappte nach Luft und rülpste. »Ich habe seine Leiche nicht gefunden, so sehr ich auch suchte. Seitdem hasse ich mich. Balyndis kann es mir niemals verzeihen, und ich... ich gebe mich dem Suff hin. Ich saufe, bis ich sterbe.« Er hielt inne. »Nein, damit ich sterbe. Ich hätte zusammen mit meinem Sohn ertrinken sollen, anstatt mein restliches langes Leben auf diese Weise zu führen. Jetzt ertränke ich mich eben.« Angewidert schob er den Eintopf von sich. »Es war ein Unfall, Gelehrter. Morsches Holz«, warf Boindil ein, um ihm die Schuld zu nehmen. »Morsches Holz und der Fluch der Göttin Elria. Er hat dich getroffen, dich, den Karren und deinen Sohn nach unten gezogen. Du kannst nichts dafür.«
»Das sagt Balyndis ebenfalls.« Er senkte den Kopf. »Doch in ihren Augen steht die stumme Anklage, sooft ich sie anschaue. Ich fürchte, unsere Liebe ist seit diesem Tag erkaltet. Sie denkt, ich merke nicht, was sie in Wahrheit für mich empfindet - die Abscheu und den Hass, den sie verbirgt. In unserem Stollen ist es kalt wie niemals zuvor. In meinem Herzen wohnt eine Unglücklichkeit, die mir die Lust am Leben raubt.« Er rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Jetzt weißt du, warum ich so geworden bin. Ich gehe zu Bett, Boindil.« Schwankend stand er auf, wankte die Treppen zu den Zimmern hinauf und verschwand.
Ingrimmsch wischte sich die Tränen aus den Augen, die er heimlich vergossen hatte. Dann fasste er den Entschluss, seinem Freund zu helfen und ihm die Lust am Leben zurückzugeben. Das gelang nur auf eine Weise. »Vraccas, sende deine Gnade auf uns herab. Und gewähre sie vor allem Tungdil.« Er schaute nach Gilspan, der neue Gäste großspurig begrüßte und auf den ausgestopften Ork zeigte, dann wurde dem Mann eifrig auf die Schulter geklopft.
Boindil erhob sich, stapfte die Treppe hinauf. Er musste mit Balyndis sprechen, denn er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie fühlte, was Tungdil ihr unterstellte.
Es war schon spät in der Nacht.
Gilspan saß am Tisch mit den letzten Gästen und erzählte einmal mehr die Geschichte vom erschlagenen Ork. »Und als die Horden aus Toboribor ganz in der Nähe von meinem Hof vorbeizogen, nahm ich meine Waffe, um mein Haus zu verteidigen. Mein Vater befand sich weit weg von hier, hatte mir aber seinen Dolch dagelassen. Auf ihn schwor ich, meine Mutter und alle Menschen unseres Anwesens zu beschützen.« Zum Beweis legte er die Waffe auf den Tisch.
»Mehr besaßet Ihr nicht?«, hauchte ein Mädchen von sechzehn Lenzen, das in Begleitung der Eltern und des Verlobten reiste.
»Nein. Und die Orks machten nicht vor uns Halt! Sie kamen abends, ein ganzer Trupp dieser Kreaturen und auf der Suche nach Vorräten.« Gilspan sprang auf. »Ich trat ihrem Anführer entgegen und forderte ihn zu einem Zweikampf. Er nahm das Schwert, und ich attackierte ihn mit meinem Dolch...«
»Oh, Ihr mutiger Mann!«, klatschte das Mädchen begeistert und himmelte ihn an.
»Man erzählt sich, dass ihnen das Blut des Geborgenen Landes Unsterblichkeit verlieh«, warf ihr Verlobter mürrisch ein.
»Das hat ihm nichts genützt«, gab Gilspan weiter an und fuchtelte mit dem Dolch in der Luft herum. »Ich war überall gleichzeitig, stach und schlitzte ihn auf, bis ich ihm die Klinge bis zum Heft ins Herz stach und er tot vor meine Füße fiel.« Er stellte einen Fuß auf einen leeren Stuhl. »Da flohen die anderen vor mir, und der Hof war gerettet. Weil er starb, bevor der Stern der Prüfung aufging, ist mir sein Kadaver erhalten geblieben.« Die Gäste applaudierten, die Frauen schoben ihm ein paar Münzlinge zu, und das Mädchen gab ihm ein Seidentüchlein mit ihrem Monogramm darauf.
»Aber wie konntet Ihr ihm denn mit einem Dolch den Kopf abschneiden?«, hakte der eifersüchtige Verlobte ein. »Ein Stich ins Herz genügte, mein Herr.«
Der Verlobte schaute zu dem Ork. »Mit Verlaub, Gilspan, aber die Soldaten, mit denen ich sprach, behaupteten immer, man müsse den Kreaturen den Kopf abschlagen, um sie endgültig zu vernichten.«
Es wurde still. Jeder schaute zu der ausgestopften, Zähne fletschenden Kreatur, die in ihrer Pose durch das Halbdunkel des Raumes eine unglaubliche Lebendigkeit erhielt.
»Stand er vorhin, als wir eintraten, nicht anders da?«, wisperte das Mädchen ängstlich und rückte näher zu Gilspan. Ihr Verlobter nahm sie am Arm und zog sie zu sich herüber.
»Ja«, bestätigte ihr Vater bleich. »Ich schwöre bei Palandiell, dass er das Schwert nach oben gereckt und nicht vor seinem Körper hielt.«
»Was wird das? Ein Schauermärchen für kleine Kinder? Ich habe ihm seine Eingeweide eigenhändig aus dem Wanst gerissen«, sagte der Wirt und ging auf die Kreatur zu.
Ein lautes Knurren erklang, und der Ork drehte den Oberkörper in Gilspans Richtung.
Die Frauen schrien schrill auf, die Männer zogen ihre Waffen. »Ihr idiotischer Wirt!«, schrie der Verlobte. »Ihr habt das Böse in Euer Haus geholt!«
Gilspan verstand die Welt nicht mehr. Er wollte zu einer Erwiderung ansetzen, da bewegte sich der Ork ruckelnd auf ihn zu, hob den Arm mit dem Schwert und warf sich gegen ihn.
Schreiend verschwand der Mann unter dem Scheusal. Er ließ den Dolch fallen und kroch unter dem Angreifer heraus, rutschte unter den nächstbesten Tisch und schrie wie eine alte Jungfer um Hilfe.
Im ersten Geschoss klapperten Türen, viele Stiefel kamen die Treppe hinabgerannt, Laternen wurden gebracht, damit man in der Gaststube besser sah.
Der Ork blieb regungslos am Boden und lachte. Und lachte und lachte... Da erkannten sie im Schein der immer zahlreicher werdenden Lampen, dass es nicht das Ungeheuer, sondern ein Zwerg war, der sich vor Gelächter ausschüttete. Er stand neben dem Tresen und klopfte sich auf die Schenkel, dass es klatschte. Sein Lachen wirkte ansteckend, nicht zuletzt wegen der Erleichterung, dass kein Überfall stattfand, und wegen des angeblichen Helden Gilspan, der vor Angst bibbernd unter dem Tisch ausharrte.
Boindil hatte sich einen Spaß erlaubt und das tote Scheusal mit ein wenig Schieben, Knurren und Wackeln zum Leben erweckt. »Nun, Hänfling«, sagte er und bückte sich, um unter den Tisch zu schauen. »Wie weit ist es um deinen Mut bestellt? Wo hast du den Ork her?«
»Ich...« Offensichtlich versuchte Gilspan, schnell eine neue Lüge zu ersinnen.
»Ho, überlege dir gut, wen du an der Nase herumführen willst«, warnte ihn Ingrimmsch und zeigte ihm die geballte Faust.
»Gekauft. Ich habe ihn gekauft, vor vielen Zyklen«, gestand er reumütig. »Wie alle anderen Dinge an den Wänden.« Die Gäste lachten ihn aus, während er unter seiner Deckung hervorkam. »Unseliger Zwerg!«, beschimpfte er ihn. »Du hast alles verdorben!«
»Ich? Du hast es dir mit deiner Feigheit selbst verdorben. Hättest du dich wie der Mann, der du zu sein vorgibst, auf den Angreifer gestürzt, würden dich alle bewundern.« Boindil nickte dem Verlobten zu. »Gut aufgepasst. Man muss sie wirklich köpfen, damit das Böse ihnen keine neue Kraft verleiht.« Er riss den Krähenschnabel hoch und ließ ihn mit viel Schwung durch den Kopf des Ungeheuers fahren, dann brach er die trockenen Wirbel einfach durch, sodass der Schädel auf der Spitze des langen Dorns seiner Waffe steckte. »Jetzt wäre er für immer tot gewesen.« Er zertrümmerte den Knochen mit einem Hieb gegen den Tresen, die fahlen Stücke sprangen weit umher. »Sicher ist sicher«, grinste er und schulterte den Krähenschnabel.
Am nächsten Tag ging die Reise nach Älandur weiter.
Vom nächtlichen Tumult hatte Tungdil nichts mitbekommen. Er stand des Morgens auf, nachdem Boindil ihn weckte, und machte sich schweigsam an die Reisevorbereitungen. Ohne ein Frühstück einzunehmen, ritten sie weiter nach Südwesten.
Die Pferdchen trotteten unermüdlich vorwärts und folgten der Straße. Um sie herum gab es wenig abwechslungsreiche Landschaft. Es war noch immer leicht bergig, nach zwergischen Ansprüchen eher hügelig; mal ritten sie an Abgründen entlang, mal durch Täler, dann wieder über Anhöhen, von denen aus sie das wildere Nord-Gauragar sehen konnten. Dichtere Wälder suchten ihre Blicke eher vergebens, der Boden war zu karg und sauer.
Ingrimmsch an der Spitze ihres Zuges aß unterwegs etwas; Tungdil hatte sich eine Korbflasche Branntwein vom Wirt erstanden und machte dort weiter, wo er am Abend zuvor aufgehört hatte.
Sein Freund schaute über die Schulter und bedachte ihn mit einem Kopfschütteln. »Denkst du, es macht es besser, wenn du säufst? Bavragor hätte dir eine Lehre sein sollen.«
Tungdil beachtete ihn nicht und setzte die Flasche wieder an die rissigen Lippen.
»Jetzt ist es genug! Balodil wird dadurch nicht wieder lebendig, Gelehrter!« Boindil wendete sein Pony. »Nutze dein Leben und halte sein Andenken in Ehren, anstatt dich selbst zu bemitleiden und dich zum Gespött zu machen.«
»Nein, Balodil wird nicht wieder lebendig«, murmelte Tungdil. »Ich habe dir gesagt, dass ich saufe, um zu sterben.« Er rülpste und spuckte aus, hob die Flasche erneut.
»Du willst sterben?« Ingrimmsch sprang aus dem Sattel, packte den überraschten Zwerg am Kragen des Lederwamses unter dem Kettenhemd und zerrte ihn auf den Boden. Rücksichtslos schleifte er ihn bis zur Kante eines steil abfallenden Hanges. »Du willst wirklich sterben?« Wütend entriss er ihm die Branntweinflasche und schleuderte sie in die Tiefe. Nach langem Sturz zerschellte sie auf dem Grund und hinterließ einen dunklen Fleck auf dem Gestein. »Dann folge ihr!«, polterte er düster. »Mach deinem jämmerlichen Leben ein Ende. Gleich und auf der Stelle, aber hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Die niedrigste Kreatur besitzt mehr Würde als du!« Tungdil schaffte es nicht, sich aus dem stahlharten Griff Boindils zu befreien. Unbarmherzig drückte der Zwilling ihn mit dem Gesicht nach unten über den Hang.
Ein warmer Wind wehte von unten hinauf und streichelte sein Gesicht, als wollte er ihn locken und ihn auffordern zu springen.
»Was ist, Gelehrter?«, tobte Ingrimmsch weiter. »Du willst sterben, hast du gesagt! Dann lass los!« Er nahm ihn am Kettenhemd und riss mit seinen ungeheueren Kräften daran.
Irgendwo in Tungdils Innerem regte sich Widerstand. Es war ein unbestimmter Widerstand, ohne Grund, ohne gegebenen Anlass. Es gab nichts, für das er noch leben wollte, und dennoch weigerte sich etwas in ihm, in die Ewige Schmiede einzuziehen. Falls es dort überhaupt einen Platz für ihn geben sollte. Er krallte sich mit den Fingern in das karge Gras, schürfte sich die Kuppen am Stein auf. Der Schmerz verdrängte die benebelnde Wirkung des Alkohols.
»LASS LOS!«, brüllte ihm Boindil aus Leibeskräften ins Ohr. »Ich mache es einfach für dich und erspare dir, weiter Geld in Schnaps und Bier zu stecken.« Er trat ihm wuchtig in die Seite.
Tungdil krümmte sich und verlor den Halt. Sein Oberkörper hing beinahe vollständig über die Kante. »Nein, nein!«, rief er verzweifelt. »Du...«
»Ich werde sagen, du hättest mein Leben gegen eine Übermacht von Wegelagerern verteidigt«, redete Ingrimmsch dessen ungeachtet weiter. »Sie werden dich als Helden in Erinnerung behalten, der rechtzeitig starb, bevor er den letzten Rest seiner Achtung verlor.«
Wieder traf Tungdil der Schuh in die Rippen. Aufschreiend rutschte er noch ein Stück nach vorn. Steinchen rollten hinab, ließen Staubwölkchen am Hang entstehen.
»NEIN!« Die letzten Kräfte aufbietend, drückte sich Tungdil vom Boden ab und verlagerte das Gewicht dabei nach hinten. Mit einem lauten Schrei warf er sich rückwärts, riss Boindil mit, und gemeinsam fielen sie zurück auf sicheren Boden. »Ich... habe es mir... überlegt«, hechelte er.
»Ach?« Ingrimmsch richtete sich auf. »Und woher dieser plötzliche Sinneswandel?«
Tungdil atmete tief ein. »Ich kann es dir nicht sagen. Eine innere Stimme stemmt sich dagegen.« »Eine innere Stimme namens Furcht?«
Tungdil zuckte mit den Achseln. »Nein. Nein, es war etwas anderes.« Er horchte in sich hinein, als käme von dort eine Antwort. »Das Leben, nehme ich an.«
»Die Stimme von Vraccas«, erwiderte Boindil, stand auf und streckte ihm die Hand hin. »Er wird dich und deine Feuerklinge noch brauchen. Deinem Volk steht ein neuer Feind gegenüber. Vielleicht ist es deine Bestimmung, ihn zu besiegen.«
Tungdil ließ sich von ihm aufhelfen, dann ging er zur Kante des Abhangs und blickte hinab. Es bedurfte lediglich eines kleinen Schrittes, und er wäre alle Sorgen los. Er hob den Fuß... und wieder spürte er die innere Sperre.
»Doch noch Todessehnsucht?«, brummte sein Freund.
»Nein«, antwortete Tungdil nachdenklich. »Ich wollte sicher gehen, dass ich wirklich leben möchte.« Er wandte sich vom Hang ab.
Ingrimmsch hielt ihm die Zügel des Ponys hin, Tungdil nahm sie. »Das willst du. Ich hätte dich hinabgestoßen, wenn du dich nicht mit all deinen Kräften aufgebäumt hättest«, sprach er ernst. »Es ist der einzige Weg herauszufinden, ob man leben möchte oder nicht.« Ein schiefes Lächeln entstand auf seinem Gesicht. »Glaub mir, ich habe die gleiche Kur erhalten wie du.«
»Du warst verzweifelt wegen des Todes von Boendal«, verstand Tungdil und sah zu, wie sich der Krieger in den Sattel schwang.
»Eine Hälfte von mir ist mit seinem Tod gegangen. Mag sein, dass es die bessere Hälfte war. Die andere versank in dumpfem Brüten, Heulen und Trauern, bis ich dachte, ich wollte sterben. Jemand gab mir die gleiche Behandlung wie ich dir, und ich erkannte, dass ich lieber bei den Lebenden weilen möchte. Vraccas wird wissen, wozu es gut ist.« Er zeigte grinsend auf die Straße. »Aber dass er mich zu den Elben schickt, nehme ich ihm übel.« Er ließ sein Tier antraben.
Tungdil lachte leise. »Du hast Recht. Vraccas wird wissen, wozu es gut ist.«
Der heilsame Schock bescherte Tungdil eine Klarheit im Denken, wie er sie das letzte Mal vor dem Tod seines Sohnes besessen hatte. Er hatte alles falsch gemacht. In den ganzen letzten vier Zyklen hatte er alles falsch gemacht.
Es gab nur einen Weg. Er nahm sich vor, so schnell wie möglich zu Balyndis zurückzukehren und sie für alles, was er ihr angetan hatte, um Verzeihung zu bitten. Die bitteren Worte, das unentwegte Saufen, die Abweisungen, wenn sie ihn berühren wollte. Er selbst konnte es sich nicht verzeihen. Versunken streichelte er die weichen Nüstern des Ponys.
Ingrimmsch hatte schon einige Schritte zurückgelegt. »Ho, Gelehrter! Kommst du?«, rief er. »Oder verrät dir das Pferdchen Weisheiten?«
»Ja«, rief er zurück. »Es sagt, ich sei zu fett.«
»Hättest du mich gefragt, hätte ich es dir auch sagen können.«
Tungdil nahm das Pony an den Zügeln und lief los. »Es ist schön, einen Freund wie dich zu haben«, sagte er doppeldeutig. Die Bewegung schadete ihm nichts, und bis nach Älandur waren es noch einige Meilen. Meilen genug, ein paar Pfunde zu verlieren.