Das Geborgene Land, Königinnenreich Weyurn, 6241. Sonnenzyklus, Frühsommer.


Rodario erwachte von einem eigentümlichen Geräusch und staunte nicht schlecht, als ihm klar wurde, dass er das Geräusch verursachte: Klickend und schneller, als Hasen rammelten, stießen seine Zähne aufeinander und hätten seine Zunge in Scheibchen geschnitten, wenn sie zwischen die Kiefer geraten wäre.

Er öffnete die Augen; zitternd wälzte er sich auf den Rücken und richtete sich auf. Um ihn herum herrschte dichter Nebel, und nach der Helligkeit zu urteilen, war die Sonne im Begriff, sich über den Horizont zu erheben. Er lag auf einem steinigen Strand. Die Wellen umspülten seine Beine und seine Hüften, zerrten und zogen sanft daran, als wollten sie ihn zurück in den See schwemmen.

»Elria, ich danke dir, dass du mich verschont hast. Du wolltest wohl keine Schauspieler in deinem Reich«, stotterte Rodario und stand auf, um den Strand entlang zu gehen und Menschen zu finden, die ihm halfen. Er nahm an, dass er sich auf einer der Inseln befand, die er in der Nacht in einiger Entfernung passiert hatte. Nach nicht allzu langem Laufen traf er auf eine einfache Fischerhütte, vor der mehrere Netze zum Trocknen aufgehängt waren.

»Seid Ihr schon wach?«, rief er abgehackt und klopfte gleichzeitig. »Ich bitte Euch, lasst mich an ein Feuer, bevor ich mir den Tod hole.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt. Zwei Paar Kinderaugen schauten ihn neugierig aus dem Dunkel der Hütte heraus an, dann ver schwand das kleinere der Mädchen schnell. Die größere Schwester, die er auf elf Zyklen schätzte, betrachtete ihn. Sie trug ein altes, abgewetztes Kleid mit zwei Schürzen darüber, ihr kurzes, braunes Haar klebte fettig an ihrem Kopf. »Wer bist du?«

»Ich bin Rodario. Mein Boot ist gekentert.« Er konnte das Zittern seiner Glieder nicht abstellen, er schüttelte sich wie Piltannlaub. »Bitte, lass mich ein und setz mich neben einen Kamin, damit meine Kleider trocknen können.«

»Vater ist auf Fangfahrt, und Mutter hat gesagt, dass ich niemanden reinlassen darf, wenn sie Kräuter sucht.« Sie betrachtete ihn. »Du bist kein Seeräuber. Du bist viel zu dünn.« Sie öffnete die Tür und ließ ihn ein. »Da drüben«, sagte sie und zeigte auf die offene Kochstelle im Mittelpunkt der Hütte. »Ich lege einige Blöcke nach, aber du wirst sie bezahlen müssen. Sie sind teuer.«

»Danke... Wie heißt du, meine Kleine?« Er ging an ihr vorbei und stakste zum Feuer, genoss die Wärme, die ihm entgegenschlug. Es roch nach Fisch, nach Qualm und Fett, das in einem großen Bottich am anderen Ende der Wand köchelte. Entweder stellten sie Seife oder Tran her. Dass sie es in dem Gestank aushielten, empfand er mit seiner empfindlichen Nase als ein Wunder.

»Flira.« Sie stellte ihre fünf Geschwister der Reihe nach vor, erklomm eine Leiter und warf einige Quader aus getrockneten und gepressten Algen nach unten. »Leg sie drauf«, sagte sie zu ihm. »Ein Stück kostet einen Münzling.«

Rodario tastete an seinem Gürtel, bis er den Beutel mit seinen restlichen Umlaufeinnahmen fand. Er band ihn los und warf ihn dem Mädchen zu. »Behalt es. Ihr könnt es dringender brauchen als ich.« Er schichtete die Blöcke in die Feuerstelle und freute sich über die Hitze.

Misstrauisch öffnete sie und zählte nach. »Das sind ja sieben Münzlinge«, staunte sie. »Danke sehr! Elria möge dich segnen!«

»Hat sie schon«, grinste er und reckte die Hände gegen die Flammen. »Ich habe diese verfluchte Riesenwelle überstanden. Nur mein Boot nicht.«

Eliras Augen wurden riesig. »Schon wieder eine? Wann war es?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ist schon länger her.« Dann verstand er, warum sie fragte: Sie hatte Angst um ihren Vater. »Entstehen diese Wellen häufiger?« Er zog sein Hemd aus und hängte es über eine Eisenstrebe, streckte seinen Hintern den Flammen entgegen und zog die nassen Hosenbeine nach rechts und links weg, damit sie die Wärme besser einfingen. Er wollte sie vor den Kindern nicht ausziehen. »Vater sagt, früher habe es sie nicht gegeben. Erst mit dem großen Beben und der Überflutung sei der See von Weyurn tückisch und bedrohlich wie ein Ungeheuer aus Tions Träumen geworden.« Flira setzte sich ihm gegenüber, schenkte ihm einen Becher mit heißem Tee ein. »Es gibt sie immer wieder, sie kommen wie aus dem Nichts. Sieben Fischerboote haben sie verschlungen, und das nur bei uns. Vater sagt, dass andere Inseln mehr Unglück hätten.«

Ihr Bruder, den sie mit Ormardin vorstellte, näherte sich ihnen. Das Leuchten in den Augen zeigte dem Mimen, dass ihn diese mysteriösen Aufbäumungen des Sees faszinierten. »Erzähl ihm von der Alb-Insel.« Flira gab ihm einen leichten Klaps an den Hinterkopf. »Wer hat dich denn zu uns Erwachsenen gerufen? Erzähl du es ihm doch.«

»Eine Alb-Insel? Ihr habt es geschafft, meine Neugier zu wecken«, lachte Rodario. »Ich bin ganz Ohr, Ormardin.« Er nippte an seinem Becher und wartete, was der Junge ihm für ein Märchen auftischte. Ormardin grinste und begann.

»Vor fünf Zyklen, kurz bevor der Stern der Prüfung aufging, strich eine Bande Albae durch das Geborgene Land, ausgesandt von den Unauslöschlichen, um eine neue, sichere Bleibe zu finden.

Sie kamen nach Weyurn und bereisten auf ihrem Schiff, das sie selbst aus den Gerippen und der Haut von getöteten Menschen und Elben angefertigt hatten, unsere Heimat.

Eiland für Eiland wurde von ihnen begutachtet, die festen Inseln ebenso wie die treibenden Inseln. Niemand bemerkte sie bei ihrem Tun, und die unglücklichen Fischer, die ihnen auf hoher See begegneten, wurden von ihnen getötet und gegessen.

Eines Nachts landeten die Albae auf einer wunderschönen Insel, die ihre Wissbegier weckte. Sie sahen, dass es darauf Berge mit vielen Höhlen gab, in denen sie sich vor ihren Feinden verbergen konnten. Sie schlachteten die Einwohner ab und nahmen das Land in Besitz, die Leichen zogen sie in die Höhlen, häuteten und entbeinten sie.

Sie wollten einen Bratspieß errichten, um die Menschen zuzubereiten, aber als einer von ihnen seine Lanze in den Boden rammte, durchstieß sie die Erde, und Wasser flutete die Höhlen.

Die Insel versank mitsamt den Albae in den Tiefen des Sees. Dadurch entgingen sie dem Stern der Prüfung, dessen Macht nicht bis auf den nassen Grund Weyurns reichte.

Doch Elria erlaubte ihnen nicht zu sterben. Sie sollten für ihre grausamen Taten an den Menschen Weyurns büßen. Sie gewährte den Albae ewiges Leben und Verdammnis auf der Insel.

Gelegentlich, wenn die Sterne günstig stehen, dürfen die Albae mitsamt der Insel auftauchen, um die Nacht zu sehen. Man sagt, dass sie nicht eher sterben, bis sie die Wände aller Grotten und Höhlen mit Zeichnungen versehen haben.

Wer die gewaltige Welle übersteht, die ihr Erscheinen hervorbringt, und so unvorsichtig ist, einen Fuß auf die Insel zu setzen, wird von den hungrigen Albae auf der Stelle verspeist, gehäutet und sein Blut als Farbe für ihre Gemälde hergenommen.«

Ormardin verstummte und schaute mit roten Wangen zu Rodario. »Hat dir die Geschichte gefallen?« Der Mime klatschte begeistert in die Hände. »Junger Freund, ich verbeuge mich tief vor deinem Talent. Wenn deine Eltern nichts anderes mit dir im Sinn haben, wirst du einmal der beste Märchenerzähler Weyurns werden. Darauf verwette ich die Umlaufeinnahmen aus meinem Theater.«

»Du bist Schauspieler?« Der Junge konnte sein Glück kaum fassen.

»O ja. Ich bin der Unglaubliche Rodario, der Kaiser aller Mimen und Schauspieler des Geborgenen Landes«, protzte er in bewährter Manier. »Mir ist es vergönnt, das Curiosum mit der weitbesten Truppe mein Eigen zu nennen. Wäre es in der Nähe, würde ich dich einladen, junger Mann.« Er fuhr ihm durch die kurzen braunen Haare.

Ormardin reckte sich. Ein Lob aus dem Mund eines Meisters zu erhalten, bedeutete ihm sehr viel. Die Tür öffnete sich, im Gegenlicht sah Rodario die schwarzen Umrisse einer langhaarigen Frau, die einen Korb in der Linken hielt. »Wer seid Ihr?«, fragte sie sofort und klang aufgeregt. »Weg von den Kindern!«

Rodario verstand es. »Keine Sorge, gute Frau.«

»Das ist der Unglaubliche Rodario. Er ist ein gestrandeter Schauspieler«, sagte Ormardin sofort, sprang auf und rannte beglückt zu seiner Mutter, um sie in die Arme zu schließen. »Ich habe ihm die Geschichte von der AlbInsel erzählt, und er hat gesagt, dass ich Talent hätte.«

»Hat er dir Flausen in den Kopf gesetzt?« Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich.

Er erkannte eine Frau, die etwas älter war als er und sich in einfache Kleidung aus Flachsleinen hüllte. Als Fischer verdiente man anscheinend nicht besonders gut in Weyurn. »Ich grüße Euch«, sagte er und bemerkte erst jetzt wieder, dass er kein Hemd trug. »Verzeiht mein Auftreten, aber ich musste aus den nassen Sachen.« Sie beruhigte sich rasch, nachdem sie verstanden hatte, dass keine Gefahr von ihm ausging - weder für die Kinder noch für sie oder ihr Eigentum. Am beinahe nackten Leib konnte man nichts verbergen, keine Waffen und kein Diebesgut.

»Ich bin Talena.« Sie stellte den Korb auf den Tisch. »Entschuldigt meine unfreundliche Begrüßung.« Er hob den Arm und winkte ab. »Lasst es gut sein. Ich kann Euch verstehen.«

»Er hat mir Geld geschenkt«, sagte Flira und reichte ihrer Mutter den Beutel.

»Das ist für das Brennmaterial«, lächelte Rodario sie an. »Könnt Ihr mir sagen, wie ich von der Insel wieder wegkomme? Ich muss nach Mifurdania.«

»Ihr geht einfach über die Dünen und folgt dahinter dem Weg nach rechts. Er führt Euch nach Stillwasser. Es ist ein Fischerstädtchen, wo sich jemand finden wird, der Euch mitnimmt.« Talena nahm die Kräuter aus dem Korb und wusch sie in einer Schale mit Wasser. »Hat Euch die Geschichte meines Sohnes wirklich so gut gefallen?« »Sehr«, bestätigte Rodario nochmals und zwinkerte Ormardin zu. »Und ich meinte es ernst, als ich von Talent sprach. Wenn er nicht das Handwerk seines Vaters erlernen soll, lasst ihn zum Er Zähler ausbilden. Ich kenne ein paar gute Meister in diesem Fach, die sich über einen derart begabten Schüler freuen würden.«

»Oh, bitte, Mutter. Flira kann ja Fischerin werden«, bettelte der Junge.

»Nein, will ich aber nicht«, kam es auf der Stelle von ihr.

Talena wandte sich um. »Gebt Ruhe. Wartet, was euer Vater dazu sagt.« Sie schaute zu Rodario. »Ich würde an Eurer Stelle gleich aufbrechen. Soweit ich weiß, fährt Mendar mit seiner Schaluppe zur Mittagszeit nach Mifurdania, um Seliti-Austern auf dem Markt zu verkaufen. Sagt Mendar, dass ich Euch schicke, und er wird Euch ohne Entgelt einen Platz überlassen.«

»Danke, Talena.« Er zupfte sein Hemd von der Stange und kleidete sich an. »Vielleicht sehen wir uns wieder«, sagte er zu Ormardin und ging vor ihm in die Hocke. »Hast du was zu schreiben? Dann notiere ich dir ein paar Namen von großen Märchenerzählern.«

Der Junge nickte, eilte davon und kam mit einem Stück Schiefer und Kreide zurück. Rodario hinterließ darauf die Namen zweier bekannter Erzähler und die Königreiche, in denen sie lebten. »Du wirst nach ihnen fragen müssen, weil sie viel umherreisen. Aber es ist leicht, sie zu finden.« Er zauste ihm zum Abschied die Haare. »Palandiell hilft dir dabei, Ormardin.«

Talena gab ihm ein Stück Brot und Trockenfisch mit. »Für unterwegs«, sagte sie und nickte ihm zu. In ihren Augen las er, dass ihr Sohn niemals die Gelegenheit haben würde, von der Insel wegzukommen. Sein Los bestand darin, ein Fischer zu werden wie sein Vater und vermutlich dessen Vater und alle Ahnen vorher. »Elria sei mit Euch.«

Sie geleitete ihn bis zur Tür und zeigte auf den Punkt in den nebelverhangenen Dünen, wo sich der Weg am leichtesten fand. Er hatte sich kaum drei Schritte von der Hütte entfernt, hörte er auch schon, wie die Tür zufiel. Die weißen Schleier, die ihn einschlössen und ihm jede Fernsicht raubten, schmeckten süß, ein wenig nach Tang und Sand. Rodario stapfte die Sandhügel hinauf und fand den von Talena beschriebenen Weg. Unterwegs aß er von dem Brot und dem Fisch, der ein sehr feines Aroma nach Salz, Gewürzen und Rauch hatte. Der Nebel lichtete sich, und Rodario sah eine flache, karge Insel mit wenigen Bäumen, vielen Sträuchern und Wiesen, auf denen Schafe und Ziegen weideten. Die Strahlen der Sommersonne trockneten sogar seine Schuhe und Füße.

Die Sage von der Insel beherrschte seine Gedanken. Sollte es sie wirklich geben, hatte sie dann den Lastkahn zum Kentern gebracht? Oder war er an deren Gestaden aufgelaufen und von ihr gleich darauf mit zerbrochenem Rumpf in die Tiefe gezogen worden?

Wenigsten bot sich dank Ormardin eine Erklärung für das Verschwinden des Kahns, auch wenn er den Gedanken wenig beruhigend fand. Eine letzte Kolonie von Albae, die so gut wie nicht zu verfolgen war. Es könnte die Brutstätte für noch schlimmeres Unheil im Geborgenen Land sein.

Die Stadt fand Rodario mühelos, und sogar den Fischer machte er rasch ausfindig, der ihn mit auf die Überfahrt nahm. Er musste sich auf dem Bug zwischen die Ersatzsegel kauern. Neben ihm hockte ein Matrose, der Löcher im Segeltuch ausbesserte und große Flickstücke aufbrachte.

Das kleine Schiff legte ab, plätschernd durchschnitt es die Oberfläche und eilte dem Hafen entgegen. Rodario döste ein wenig, danach beobachtete er den Matrosen bei der Arbeit. Seine Gedanken schweiften ab, er sah anstelle des Matrosen den Jungen vor sich, in dem er so viel Begabung vermutete. Er fand es traurig, dass Ormardin kein besseres Leben führen würde.

»Was glotzt du mich an?«

Rodario wurde von der unfreundlichen Frage aus seinen traurigen Gedanken gerissen. »Verzeihung. Ich habe nachgedacht.« Er lächelte. Vielleicht wusste der Mann mehr über die geheimnisvolle Insel. »Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht den Grund für die Riesenwelle kennst. Mir ist da gestern Nacht...« Der Matrose ließ das Flickzeug sinken und starrte ihn an. »Bist du verrückt geworden?« Er spie über die Bordwand und nannte Elrias Namen dreimal schnell hintereinander. »Du wirst die Alb-Insel und unseren Untergang herbeireden.«

Rodario staunte gehörig, dass ein erwachsener Mann sich vor einem Sagengebilde fürchtete. »Es gibt sie wirklich?«

»So wie die Sonne über unseren Köpfen steht«, gab der Matrose leise zurück und schaute auf den See, der in der Helligkeit wie ein Spiegel funkelte. »Schweig davon, hörst du?« Rodario dachte gar nicht daran, seine Fragerei aufzugeben. Eine Vermutung war ihm in den Sinn gekommen. »Ich muss wissen, ob es Menschen gibt, die sie betreten und es überlebt haben.«

Der Matrose packte ihn beim Kragen und schüttelte den Mimen derb durch. »Wenn du nicht auf der Stelle deine...«

Der See begann unvermittelt um sie herum zu kochen. Blasen stiegen auf, und ein bestialischer Gestank nach faulen Eiern verbreitete sich, der Rodario zum Husten zwang.

An Deck wurde eine helle Glocke geschlagen, die Mannschaft rannte hin und her, um Vollzeug zu setzen. Sie mussten so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone gelangen.

»Du verdammter Idiot!«, schrie der Matrose und versetzte Rodario einen harten Schlag auf die Unterlippe. »Du bist schuld!« Er stand auf und zerrte ihn auf die Beine. »Er ist der Schuldige«, schrie er und holte schon wieder aus. »Er hat sie herbeigeredet!«

»Was ist denn los?«, verlangte Rodario zu wissen. Er wich dem nächsten Schlag aus und stolperte über eine Falte im Ersatzsegel; seine Hüfte prallte gegen die Reling, und er verlor das Gleichgewicht. Aber anstatt dass der Matrose ihm half, versetzte er ihm einen Stoß, der ihn rücklings über Bord beförderte. »Nimm ihn, Elria! Nehmt ihn, ihr Albae!«, rief er dem Mimen hinterher. »Verschont uns. Verschont uns!« Rodario tauchte erneut in Weyurns vorherrschendes Element ein. Das Wasser war kalt wie immer; er schluckte von dem Nass, das dieses Mal bitter und ungenießbar nach Schwefel schmeckte. Wabernde Kugeln aus Luft in allen Größen und Verformungen umgaben ihn, einige waren mit gelben, grünen und bläulichen Gasen gefüllt. Das Licht der Sonne, das sich im Wasser spiegelte und brach, verlieh ihnen eine bizarre Schönheit und Leichtigkeit und täuschte über die Gefahr hinweg.

Er wich den Blasen aus und strampelte sich zurück an die Oberfläche. Prustend rang er nach Luft und musste wegen der ätzenden Dämpfe sofort wieder husten. Die platzenden Blasen rings um ihn herum sorgten für den Eindruck, der See würde kochen. Doch zu seinem Glück tat er das nicht.

Das Schiffsheck glitt an ihm vorbei, er erreichte es nicht mehr. »Das könnt ihr nicht machen!«, rief er entsetzt. »Ich bin kein besonders guter Schwimmer! Holt mich auf der Stelle wieder zurück an Bord!« Da durchbrach eine spitze Felsnadel unmittelbar vor der Schaluppe schäumend die Oberfläche und schob sich unaufhörlich nach oben. Dem schmalen Stein folgten weitere, während das Wasser brodelte und wallte. Je weiter die Felsen in die Höhe wuchsen, desto mehr verbreiterten sie sich, bis sich ihre Wurzeln zu einer massiven, schroffen Felskuppel zusammenschlössen, die sich aus dem See emporhob; Wasser schoss in Sturzbächen von ihr herab.

Aus dem Schaukeln der kleinen Wellen erwuchsen größere Wogen, die sich beängstigend hoben und senkten. Die Schaluppe bot ihnen ein willkommenes Opfer. Sie drehte sich um sich selbst, Verstrebungen brachen und fielen polternd an Deck oder ins Wasser. Dann verlor sie ihr Segel, schlingerte und neigte sich gefährlich zur Seite.

Derweil glitt der Berg unaufhörlich weiter aus seiner Versenkung hervor und stieß aus seinen Löchern und Ritzen zischend Luft und Gase aus.

Rodario bekam einen der verlorenen Holzbalken zu fassen und klammerte sich daran fest; sodann widmete er dem Schauspiel seine gesamte Aufmerksamkeit.

Der Bug der Schaluppe kollidierte mit der aufragenden Steilwand. Die nach oben strebenden, scharfkantigen Klippen zersägten und raspelten die Planken und Spanten, spießten das Holz auf. Takelage und Segel verfingen sich an ihnen und wurden mitgehievt. Stück für Stück zerfiel die Schaluppe, die Menschen sprangen oder fielen über Bord.

Noch immer schob sich der Berg aus dem Wasser. Rodario schätzte seinen Gipfel auf gut zweihundert Schritte, und noch war kein Ende abzusehen.

Mit einem letzten Brodeln endete der Vorgang des Auftauchens. Von dem Berg stürzten Kaskaden ins Meer, sie rauschten und plätscherten; die Sonne brach sich in schillerndem Farbenspiel in den Gischtschleiern und bescherte Rodario einen unvergesslichen Anblick.

»Ormardin hat kein Märchen erzählt«, raunte er fassungslos und betrachtete die schwindelhohen Steilwände, die vor ihm aufragten. »Es gibt die Alb-Insel wirklich.« Er schätzte sie im Durchmesser auf gut einhundert Schritte, und die Höhe belief sich auf mindestens vierhundert Schritte. Sie bestand aus dunkelbläulichem, fast schwarzem Gestein, in dem vereinzelt Mineralien glitzerten. Es erschien ihm, als wäre ein Stück Nachthimmel abgebrochen und auf die Erde gestürzt.

Ein flacher Strand, der aus einer erkalteten Lavaplatte bestand, lag auf der ihm zugewandten Seite. Aus den Höhlen dahinter eilten lange, dünne Gestalten hervor, die Boote zu Wasser ließen. Die Albae holten ihre Ernte ein.

Rodario schwamm unter einen Fetzen Segeltuch und achtete darauf, dass man ihn nicht erkannte. Eine ungünstige Strömung trieb ihn näher an den Berg heran, als er wollte. Er hatte nicht beabsichtigt, die Insel zu erkunden, doch Samusin schien der Gedanke zu gefallen, ihn den Albae zum Fraß vorzuwerfen. Unter dem Segel hervor beobachtete er, wie die Boote gemächlich zwischen den Wrackteilen entlangfuhren, die Albae nach Überlebenden suchten und mehrere Leichen zu sich an Bord zogen. Verletzte wollten sie nicht, sie nahmen nur Tote oder Lebendige.

Es erinnerte Rodario an eine Robbenjagd: Sobald einer der Matrosen auftauchte, um Luft zu holen, und sie erkannten, dass er verletzt war, zuckte die Eisenspitze des Speeres nach unten oder ein Pfeil sirrte von der Sehne und brachte den Tod.

Die Albae ließen sich Zeit und gingen sehr umsichtig zu Werke. Auch um Rodarios Versteck fuhren sie herum und durchbohrten es mehrmals, ohne ihn zu erwischen. Man beachtete das treibende Segeltuch nicht weiter, das mit den sich beruhigenden Wellen auf den Strand zu trieb.

Irgendwann ertönte ein Gong, und die Boote kehrten zum flachen Ufer zurück. Die Albae zogen die Boote in die Höhle, fauchend stieß der Berg wieder Gas aus, es stank erneut. Dann senkte sich der Strand, die Insel tauchte ab.

»Ihr Götter, beschützt mich«, richtete Rodario ein Stoßgebet gen Himmel, bevor er sich aus seinem Versteck hervorwühlte und auf den dunklen Eingang zurannte, in dem auch die Albae verschwunden waren.


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