Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Porista 6241. Sonnenzyklus, Frühsommer.
Prinz Mallen saß in seinem Zimmer im obersten Stock des Hauses, das man ihm und seinen Begleitern als Unterkunft zugedacht hatte. Durch das Fenster beobachtete er, wie sich die Kräne an der Baustelle des neuen Palastes unentwegt drehten, hievten, hoben und abluden. Ohne Unterbrechung rollten die Wagen mit den Steinen durch die Straßen, das Heer der Tagelöhner wuchs von Umlauf zu Umlauf. Der Wind trug Mallen die Geräusche des Neuanfangs zu: Klappern, Rattern, Sägen, Hämmern und Gesang, zwischendurch laute Rufe der Arbeiter. König Bruron verschwendete keine Zeit. Der freie Platz inmitten von Porista sollte bald wieder von einem prächtigen Bauwerk ausgefüllt sein, das die Opulenz von Nudins Anwesen übertraf. Fünf Türme und drei treppenförmig angeordnete Schlösser, die durch kleinere Quergebäude miteinander verbunden wurden, waren vorgesehen. Fünf Zyklen hatten die Baumeister veranschlagt, und der Grundstein lag bereits. Mallen erhob sich und sah die Mastspitzen des riesigen Zeltes aus weißem Segeltuch, das sich im Zentrum der leeren Fläche erhob und in dem sich die Königinnen und Könige an diesem Nachmittag trafen. Bruron wollte, dass sich die Mächtigen dort versammelten, wo einst die größte Macht des Geborgenen Landes ihren Ursprung gehabt hatte. Anstelle der magischen Quelle gab es nun die Einheit der Herrschenden, das war das Zeichen an die Völker.
Mallen wählte einen leichten Mantel, den er über sein hellrotes Gewand warf, und schritt zur Tür hinaus. Die wartende Leibgarde gesellte sich zu ihm, und auf dem Rücken seines Pferdes ging es bald darauf durch die belebten Straßen der Stadt. Die Menschen hielten Abstand zu ihm. Man achtete die fremden Herrscher und sah es als große Ehre an, sie beherbergen zu dürfen.
Der Prinz schwieg und reagierte nicht auf die gelegentlichen Hochrufe. Er beschäftigte sich wie so oft mit dem Überfall in Güldengarb; ihm fehlte sein vertrauter Mitstreiter Alvaro, dessen Leichnam er genauestens untersucht hatte. Es war ein Schnitt durch den Hals gewesen, der dem Mann das Leben geraubt hatte, und der Schnitt war ihm nicht durch dieses furchtbare Wesen zugefügt worden. Das glaubte er fest. Seitdem wandte er Rejalin und keinem Elben mehr den Rücken zu. Die Sache mit der elbischen Rune hatte er in seinen Beschreibungen, die an die anderen Königinnen und Könige gegangen waren, bislang verschwiegen. Er wusste nicht, weshalb. Erst wollte er Liütasil unter vier Augen darauf ansprechen.
Sein Tross erreichte das Zelt. Knappen sprangen herbei, um die Pferde der hohen Gäste zu versorgen. Der Prinz betrat das Innere des luftigen Gebäudes, das mit Seidentüchern und bemalten Bändern verschönert worden war. Es musste Umläufe gedauert haben, die Einrichtung von der langen Tafel bis zu den schweren Stühlen und Schränken hierher zu schaffen und so aufzubauen, dass es trotz der Zeltumgebung gediegen aussah.
Außer ihm war nur ein Mann in dunkel gehaltener Kleidung anwesend. Die Froschaugen und das kurze schwarze Haar mit den lichten Stellen wiesen ihn als König Ortger von Urgon aus. Er ging zu ihm und schüttelte ihm die Hand. »Schön, Euch wieder zu sehen«, begrüßte er den jungen Herrscher.
»Das letzte Mal trafen wir uns bei meiner Dreizyklenfeier«, nickte Ortger und freute sich offenkundig, den blonden Ido zu sehen, zu dem er von Anfang an Vertrauen gefasst hatte. »Der Anlass, aus dem wir uns nun begegnen, ist weitaus bedenklicher.«
»Ich habe schon gehört, dass Ihr ebenfalls Opfer eines dieser Monstren wurdet.« Mallen ließ die Hand los und setzte sich Ortger gegenüber. Diener brachten ihnen Wein und Wasser, um sich gleich darauf wieder diskret zurückzuziehen. »Ich möchte der Versammlung nicht vorgreifen, aber könnt Ihr mir beschreiben, was Euch heimsuchte?«
»Eine gänzlich andere Kreatur als die, die Ihr mir in Eurer Warnung beschrieben hattet«, seufzte der junge König und nahm sich einen Mutschluck Wein. »Ein Monstrum aus Tionium, schwarz wie die Bosheit und stark wie zehn Ochsen, dazu heimtückischer als ein Nest voller Nattern. Und darin saß ein Wesen und starrte uns hinter einer dicken Scheibe aus Glas hervor an.« Er nahm eine Zeichnung aus der Tasche, die neben ihm auf dem Boden stand. »Manche sagen, dass es Flügel aus Eisen besaß, andere sagen, es sei auf einer Flamme in den Himmel geritten und habe sich durch seine Magie in eine dunkle Wolke verwandelt. Hier, so sieht es aus.« König Nate, gekleidet in dunkelgrüne, mit stilisierten Ähren bestickte Gewänder, betrat das Zelt. »Meinen Gruß. Ihr seid schon bei der Arbeit?« Er deutete eine Verbeugung vor den Männern an und begab sich an Ortgers Seite, um das Bild betrachten zu können. »Nein, es hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Wesen, das mir den Diamanten und drei meiner Finger raubte«, meinte er nach einer eingehenden Musterung. Er wollte noch etwas sagen, brach jedoch ab, weil die restlichen Herrscherinnen und Herrscher der Menschenreiche eintraten. Die Begrüßung dauerte lange und raubte viel Zeit. Am liebsten hätte Mallen sie gebeten, die Plätze sofort einzunehmen, damit die Unterredung begann.
Seine Laune besserte sich nicht, als zwei in schlichte weiße Gewänder gekleidete Elben zu der Runde stießen und sich als Vilanoil und Tiwalün vorstellten. Sie reisten auf Geheiß ihres Fürsten aus Älandur nach Porista, um ihn zu entschuldigen und zu vertreten.
Das bot Mallen einen willkommenen Anlass für seinen Unmut. »Welchen Grund hat Liütasil fern zu bleiben?«, fragte er laut und kam dabei Bruron als eigentlichem Gastgeber zuvor. »Es ist nicht so, dass wir uns zum Spaß zusammenfinden, sondern aus einem sehr triftigen Grund, der die Anwesenheit des Fürsten der Elben durchaus gerechtfertigt hätte.«
Die Königinnen und Könige warfen ihm Blicke zu, die zwischen Verwunderung und Unmut lagen. Der scharfe Ton gegenüber den beiden Gesandten war in ihren Augen nicht gerechtfertigt.
Mallen unterstellte ihnen eigennützige Absichten. Aus seiner Sicht fürchteten sie, dass ihnen das in Aussicht gestellte Wissen der Elben wegen seiner Unfreundlichkeit verweigert wurde.
»Und wo sind die Zwerge?«, erwiderte König Nate und brach damit eine Lanze für die Elben. »Das kann ich erklären.« Bruron hob die Hand. »Großkönig Gandogar ließ mich wissen, dass sie selbst eine Versammlung ihrer Stämme einberufen haben und über verschiedene Vorkommnisse beraten, die in ihren Stollen vor sich gehen. Danach werden sie nach Porista kommen, wie er mir schrieb. Aber ein Gesandter der Zwerge sei auf dem Weg zu uns.«
»Aus einem ähnlichen Grund müsst Ihr auf meinen Herrn verzichten«, nahm Tiwalün die Rechtfertigung lächelnd auf. »Auch wir beraten derzeit über einige Vorkommnisse in Älandur.« Er verneigte sich nochmals, Vilanoil tat es ihm nach. »Ich entschuldige mich erneut deswegen.«
»Verzeiht Prinz Mallen«, bat Nate mit einem kurzen Seitenblick zu dem blonden Ido, »doch er hat bei dem Überfall in meiner Festung einen engen Vertrauten verloren. Es ist wohl noch die Trauer, die sein Gemüt bedrückt und ihn ungerecht werden lässt.«
»Sehr freundlich, dass Ihr für mich sprecht, doch das hat nichts mit Ungerechtigkeit zu tun, die Ihr mir unterstellt«, warf Mallen ein. »Sondern mit dem Stellenwert unserer Versammlung.«
»Und seit dem Überfall neigt er dazu, das Volk aus den Wäldern Älandurs mit dem gleichen Misstrauen zu behandeln wie sein Vertrauter, den er verlor«, fuhr Nate fort. »Ich verstehe«, sagte Tiwalün bedauernd und schaute zu Mallen. »Mein aufrichtiges Beileid, Prinz.« Ein Bote trat ein und reichte König Bruron ein Schriftstück, daraufhin deutete er zum Eingang. »Wie schön, dass Euch, Glaimbli Karfunkelaug aus dem Clan der Karfunkelaugs vom Stamm der Vierten, eine schnelle Reise vergönnt war«, begrüßte er den Zwerg, der dort stand. »Seid willkommen und nehmt an unserer Tafel Platz. Wir kehren soeben zu dem eigentlichen Grund unseres Treffens zurück«, sagte er rasch, bevor Mallen den Elben etwas Herausforderndes erwiderte.
»Meinen Dank, König Bruron.« Der Zwerg verneigte sich vor Bruron und allen anderen im Zelt. Seine Plattenrüstung glänzte sauber wie ein polierter Silberteller, das dunkelbraune Haar und der lange Bart sahen sehr gepflegt aus. Er musste sich frisch gemacht haben, bevor er unter die Augen der Versammlung getreten war. Mallen, der genügend Zwerge kannte, bemerkte auf Anhieb, dass er einen Vierten vor sich hatte. Die etwas zierlichere Gestalt und die schmaleren Finger verrieten ihn, und spätestens die eingearbeiteten Schmucksteine in der Rüstung hätten den Prinzen auf die richtige Spur gebracht.
»Ich bringe die Grüße des Großkönigs und sein Bedauern, dass er und die übrigen Gesandten der Zwergenstämme sowie der fünf Städte der Freien erst in wenigen Umläufen in Porista sein können. Bis dahin werde ich sie vertreten.« Er nahm Platz, und man bedachte ihn mit einem freundlichen Kopfnicken. »Beginnen wir also.« Bruron schaute in die Versammlung. »Die Vorkommnisse sind äußerst beunruhigend. Mittlerweile sind fünf Diamanten entweder gestohlen worden oder verschwunden.« Auf Brurons Wink hin trugen Diener eine große Karte des Geborgenen Landes herein. »Tabain, Ran Ribastur, Urgon sowie die Zwergenstämme der Dritten und der Vierten sind ihrer Steine beraubt worden. Zumindest was Tabain und Urgon angeht, wissen wir, dass die Raubzüge von Kreaturen begangen wurden, wie sie noch niemals gesehen worden sind. Selbst nicht zu der Zeit, als das Tote Land einen Einfluss auf unsere Reiche ausübte. Außerdem habe ich die Kunde erhalten, dass Orks den Diamanten der Vierten raubten.« Er schlug gegen die Karte. »Orks! Diese Bestien sind seit fünf Zyklen und dem Stern der Prüfung nicht mehr aufgetaucht. Welche Rätsel verbergen sich dahinter? Hat jemand einen Einfall?«
»Die Wesen, denen Ortger und ich gegenüberstanden, sehen aus wie Kreuzungen aus verschiedenen Scheusalen. Sie nutzen Magie und tragen Runen auf ihren Rüstungen, wie sie von den Albae geschrieben wurden«, sprach Nate. »Alles spricht dafür, dass es sich um fremde Bestien aus dem Jenseitigen Land handelt, die auf irgendeine Weise Zugang in unsere Heimat gefunden haben.«
»Die Durchgänge sind bewacht und geschützt«, gab Mallen zu bedenken. »Niemals können sie an den Äxten der Zwerge vorbei gelangen.« Glaimbli nickte sofort.
»Vielleicht nicht daran vorbei.« Tiwalün lächelte ihn zu Boden. »Wenn man an einem Hindernis scheitert, kann man sich darunter hindurch graben.«
Ortger nickte. »Ein ähnlicher Gedanke befiel mich ebenfalls. Es gibt nichts Böses mehr im Geborgenen Land, wenn wir einmal von der Niedertracht einiger Dritter absehen, von denen man mir berichtete.« Er schaute mit seinen hervorstehenden Augen zu Glaimbli und erwartete erklärende Worte.
Der Zwerg öffnete den Mund, dann stockte er. »Ich weiß nicht, wie sehr ich meinem Großkönig vorgreifen darf.«
»Oh, dann habe ich Euch missverstanden, als Ihr sagtet, Ihr seid sein Vertreter, Glaimbli Karfunkelaug?«, warf Tiwalün ein.
»Sicher bin ich das. Aber es steht mir nicht zu, alles darzulegen. Es gibt Angelegenheiten, über die nur der Großkönig selbst sprechen sollte.« Er kreuzte die Arme vor der Brust, eine deutliche Geste der Abwehr, gleich einem kleinen Bollwerk aus Knochen und Muskeln und einem Zeichen für die berühmte zwergische Entschlossenheit.
Königin Isika, eine Frau mittleren Alters mit blassem Gesicht und langen schwarzen Haaren, die prunkvolle Kleidung liebte, beugte sich zu Mallen. »Prinz, seid so gütig und erklärt unserem Freund, wie misslich die Lage ist. Ihr wisst mit Zwergen besser umzugehen als ich.«
Mallen lehnte sich vor, die Arme auf den Tisch gelegt. »Seht, Glaimbli, wir versuchen gerade herauszufinden, worin der Zu sammenhang der Geschehnisse der letzten Umläufe zu finden ist. Wenn Ihr etwas beizusteuern habt, lasst es uns bitte wissen. Die Einzelheiten dazu kann Euer Großkönig gern selbst ausführen.« Er schaute dem Zwerg in die Augen. »Ich bitte Euch, teilt Euer Wissen mit uns.«
Glaimbli rutschte auf dem Stuhl hin und her. Es war ihm unangenehm, von so vielen Augen angestarrt zu werden, und er senkte den Kopf tiefer - eine altbewährte Reaktion für einen Zwerg. Erst als er das spöttische Lächeln der Elben sah, ließ er sich zu Andeutungen hinreißen. »Die Dritten haben uns erneut den Krieg erklärt. Mit Maschinen.«
»Maschinen?«, wunderte sich Nate. »Davon höre ich zum ersten Mal. Was denn für Maschinen?« »Apparate, die durch unsere Tunnel fahren und unsere Leute angreifen. Mehr erzähle ich nicht. Wartet auf den Großkönig.« Gläimblis Kopf sank noch tiefer, die Augen funkelten trotzig; nun würde er wirklich nichts mehr preisgeben.
»Mir ist es ebenso neu«, sagte Königin Isika gereizt. »Wenn man diese Erkenntnis mit dem bisher Gehörten verbindet, könnte man daraus schließen, dass sich die Dritten mit diesen albtraumhaften Ausgeburten des Bösen zusammengeschlossen haben.«
Bruron schaute sie an. »Wie kommt Ihr zu der Annahme?«
Ihre hellblauen Augen richteten sich auf den eisern schweigenden Zwerg, dann auf Mallen. Sie vermutete, eher von ihm eine Aussage zu bekommen. »Ihr kennt die Dritten recht gut, Prinz, da Ihr deren Dienste gegen die Orks in Anspruch nahmt. Wie groß mag ihr Rachedurst sein?«
»Sie haben die übrigen Stämme immer gehasst und nach deren Leben getrachtet, aber der Erhalt des Geborgenen Landes steht meines Erachtens über diesem Wunsch«, antwortete er. »Ihr wisst noch, dass König Lorimbas alle vernichten wollte, um den Schutz der Durchgänge selbst zu übernehmen?«
»Ich spreche nicht von ihrem Hass auf die anderen Zwerge.« Sie schaute in die Runde. »Ich spreche von ihrem Hass auf uns, die Menschen.« Sie wandte ihr blasses, strenges Gesicht Ortger zu. »Die Dritten wurden durch den Angriff des verrückten Belletain auf das Schwarze Gebirge beinahe vollständig vernichtet.« Ihr Blick wanderte wieder zu Mallen. »Traut Ihr ihnen zu, dass sie einen neuerlichen Tunnel nach außen graben würden, um heimlich Scheusale ins Geborgene Land zu holen, welche unserer Heimat den Untergang bringen sollen, Prinz?«
»Wenn dem so wäre, stünde schon längst ein Heer von Orks in einem der Königreiche«, schätzte Mallen. Tiwalün hatte Glaimbli nicht aus den Augen gelassen und genau gesehen, dass das bärtige Gesicht des Zwerges bei Isikas Worten verräterisch zuckte. »Auch wenn Ihr vorhin verspracht, nichts mehr zu berichten, Glaimbli Karfunkelaug, dränge ich Euch, mehr von der Wahrheit zu verkünden, die Ihr mit aller Macht hinter Euren Zähnen haltet«, sagte er leise, aber deutlich, dass alle ihn hörten. »Ich bitte Euch, sagt es uns, damit unsere Vermutungen mehr und mehr zu Einsichten werden, die Böses vom Geborgenen Land abhalten!« »Nein«, kam es trotzig von Glaimbli.
Bruron sog scharf die Luft ein. »Ihr mögt nur der Stellvertreter des Großkönigs sein, dennoch tragt Ihr Verantwortung für die Geschicke der Menschen und Elben. Ich bitte Euch, bei Vraccas, Palandiell und Sitalia: Redet!«
Und wieder sagte der Zwerg erst etwas, nachdem er zu Prinz Mallen geschaut hatte. »Nach dem Überfall der Orks hat uns wieder eine Maschine der Dritten angegriffen«, berichtete er mürrisch. »Die Orks haben sie in den Aufzug geschoben, um ihre Flucht zu decken.« Glaimbli verzog den Mund. »Großkönig Gandogar nimmt an, dass die Orks und die Dritten Hand in Hand arbeiten. Sie haben ihr Lager jenseits des Steinernen Torwegs über den Nordpass im Jenseitigen Land errichtet. Von dort unternehmen sie ihre Angriffe. Von den Wesen mit den Albaerunen auf den Rüstungen haben wir noch nichts gesehen.«
»Also wenden sich die Dritten gegen uns alle und nicht mehr nur gegen die übrigen Zwergenstämme.« Tiwalün machte eine sehr besorgte Miene, und Vilanoil blickte betrübt. »Was unternimmt Gandogar gegen die Verräter in den eigenen Reihen?«
»Sie sind außerhalb des Geborgenen Landes«, wiederholte der Zwerg und bedachte ihn mit einem unfreundlichen Blick.
»Das glaube ich nicht«, sagte der Elb höflich. »Die Dritten hatten Spione in allen Zwergenreichen, und warum sollte es diese Spione nicht immer noch geben? Gewiss, in den vergangenen fünf Zyklen ist so etwas wie Frieden bei den Stämmen eingekehrt. Ich stimme Königin Isika zu: Wer sagt uns, dass die Dritten nicht heimlich danach trachten, alle fünf Tore auf einen Schlag hin zu öffnen und das Geborgene Land mit den Ungeheuern Tions zu überschwemmen?«
»Die Rache der Zwerge«, murmelte Ortger.
»Wenn überhaupt, wäre es die Rache von verblendeten Dritten und nicht der Zwerge«, verbesserte Mallen, der sich sodann an den Elben wandte. »Und Ihr übertreibt mit Euren Ängsten, Tiwalün«, warnte er ihn. »Man könnte fast meinen, Ihr leidet unter Verfolgungswahn.«
»Tue ich das?« Der Elb lächelte unverbindlich. »Ein wenig Verfolgungswahn, wie Ihr ihn nennt, Prinz Mallen, täte uns allen gut. Ich fürchte das Schlimmste, wenn man mir sagt, dass sich die Dritten mit Orks aus dem Jenseitigen Land verbündet haben, um die Diamanten zu stehlen.«
»Er hat Recht. Gandogar muss unter seinem Volk das verdorbene Korn aussieben.« Mit einem Lächeln fügte Isika hinzu: »Oder besser: das falsche Gold von dem echten trennen. Nur wenn er Jagd auf die verborgenen Dritten in den Zwergenstämmen macht, sind wir sicherer als jetzt.«
»Und wie soll das gelingen?«, warf Glaimbli ein.
»Befragungen? Untersuchungen? Folter?«, schlug Vilanoil hilfreich vor. »Je eher wir die Spione finden und unschädlich machen, desto besser für die Menschen, Elben und Zwerge.«
Mallen hielt den Atem an, weil er Isika, Nate und Ortger nicken und den zornesroten Kopf des Zwerges sah. »Du schlägst allen Ernstes vor, dass wir Hand an Zwerge legen, die unschuldig sein könnten?«, grollte Glaimbli den Elben an. »Es mag sein, dass dein Volk auf diese Weise vorgeht, aber wir, die Kinder des Schmieds, tun das sicherlich nicht.«
»Überlasst diese Entscheidung dem Großkönig«, kanzelte Isika ihn ab. »Ihr habt selbst gesagt, dass Ihr ein Stellvertreter seid. Beschäftigen wir uns mit der Frage, was die Dritten und die Orks überhaupt mit den Diamanten wollen.« Sie nippte an ihrem Wein und ignorierte den Zwerg, der sie mit Blicken erschlug. Mallen gewann immer mehr den Eindruck, dass die Elben Keile in das friedliche Zusammenleben der Völker und innerhalb der Zwergengemeinschaft schlagen wollten. Bei Nate, Isika und dem unerfahrenen Ortger gelang es ihnen bereits. Alvaros Misstrauen gegenüber der stolzen Rasse schien ihm mehr als berechtigt.
»Sie wissen um die Besonderheit eines der Steine. Doch es gab niemals einen Zwerg, der auch nur im Entferntesten die Veranlagung zeigte, eines Umlaufs Magie beherrschen zu können«, sagte Tiwalün. »Korrigiert mich, wenn ich etwas Falsches sage, Glaimbli. Die Dritten können mit der Macht, die darin schlummert, nichts anfangen. Von den tumben Orks ganz zu schweigen.«
»Wir haben außerdem diese furchtbaren Wesen in den Tionium-Rüstungen«, erinnerte Nate. »Und bei Palandiell, wenn sie keine Magie nutzen, was soll es sonst sein, das ihnen Macht verleiht?« »Also suchen sie losgelöst von den Dritten und Orks den Diamanten, um sich... die Macht anzueignen?« Ortger deutete auf die Landkarte. »Es gibt keine magischen Felder mehr, demnach stammen auch diese Bestien aus dem Jenseitigen Land. Wie kamen sie herein und konnten von den Steinen erfahren? Sind sie fähig, Magie zu spüren?«
»Nein. Sonst würden sie ihre Zeit nicht damit vergeuden, die falschen Steine zu rauben.« Mallen kostete ebenfalls von seinem Wein. Er hoffte, dass ihn die Wirkung des Alkohols beruhigte. »Das ist zumindest sicher: Keiner von den drei Gruppen hat den echten Diamanten, in dem die Eoil die Macht speicherte, für sich gewonnen.«
Ein Diener mit den Insignien Idosläns trat ein und näherte sich ihm, überreichte eine Nachricht und wartete neben dem Herrscher darauf, dass er die Zeilen las.
Mallens Augen flogen über die Buchstaben, und als er zu Ende gelesen hatte, leerte er den Wein. »Anscheinend hat das Böse nicht nur Augen für die Diamanten«, sagte er laut und legte das Schreiben auf den Tisch. »Eines meiner Dörfer, Seelenschön, wurde dem Erdboden gleich gemacht. Niemand überlebte, die Menschen kamen in ihren brennenden Häusern um. Warum das Dorf angegriffen wurde, weiß ich bislang nicht. Der Kommandant der benachbarten Festung berichtet von Spuren, die auf Orks deuten, und hat Kundschafter in die Höhlen Toboribors entsandt.«
»Ich dachte, dass die Höhlen leer seien?«, wunderte sich Nate. »Hattet Ihr nicht alle Gänge untersuchen lassen?« »Das war vor fünf Zyklen gewesen. Da sich Orks aufs Neue einen Weg ins Geborgene Land gesucht haben, könnten sie die alte Brutstätte für sich entdeckt haben.« Mallen erhob sich. »Verzeiht mir, ich muss einige Anweisungen für meine Soldaten niederschreiben.«
»Am besten vertagen wir unsere weitere Besprechung, bis Großkönig Gandogar bei uns ist«, schlug Bruron vor. »In der Zwischenzeit können wir uns weitere Gedanken zu den Vorkommnissen machen. Wer möchte, dem zeige ich gern die Stätte, an der sich mein neuer Palast...«
»Ich beantrage, dass wir die restlichen Diamanten an einem Ort versammeln und mit der größten Streitmacht schützen, welche das Geborgene Land aufbringen kann.« Königin Wey, eine Frau um die fünfzig Zyklen in einem bodenlangen dunklen Kleid, das mit unzähligen Diamanten besetzt war, erhob die Stimme und überraschte mit ihrem Vorschlag alle Anwesenden. Sie gehörte nicht zu dem Kreis, den man als militärisch bewandert einstufte. »Anscheinend sind die einzelnen Völker nicht in der Lage, die Steine vor den Räubern zu bewahren. Warum sollen nicht alle ihren Beitrag dazu leisten? Stecken wir sie hinter die Mauern der größten Festung, umgeben wir sie mit Kriegsmaschinen und Tausenden Soldaten. Dann kann es keinem gelingen, sie zu stehlen. Einzeln sind sie leichte Beute.«
Nate nickte sofort. »Ein hervorragender Vorschlag, Königin Wey!«
»In der Tat«, lobte Isika. »Wir hätten gleich darauf kommen können, geschätzte Schwester.« Ihre Anrede verwunderte niemanden. Die äußerlich völlig unterschiedlichen Königinnen redeten sich als Geschwister an, um ihren Zusammenhalt zu zeigen. Sie hob die Hand. »Ich bin dafür.«
Alle Königinnen und Könige schlössen sich ihr an.
Glaimbli und die beiden Elben rührten sich dagegen nicht. »Wartet auf Gandogar«, grummelte der Zwerg lediglich.
Tiwalün und Vilanoll versprachen, ihren Fürsten zu unterrichten und seine Entscheidung kundzutun. »Bis Gandogar eingetroffen ist, wird sich auch Liütasil entschieden haben«, sagte Tiwalün. »Nun würde ich sehr gern den Fortschritt an Eurem Palast sehen. Haben Eure Baumeister unsere Hinweise gut verwenden können, König Bruron?«
Mallen ging an ihnen vorbei und eilte zu seinem Pferd. Er rätselte. Noch immer hatte sich keine Elbendelegation bei ihm blicken lassen, die mit ihm über den Austausch von Wissen verhandeln wollte. Bruron dagegen profitierte offensichtlich bereits von den Errungenschaften Älandurs. Er bezweifelte, dass Idoslän nach dem Streit mit Rejalin überhaupt ein Aspirant war. Umso überraschter war er, als er bei seiner Rückkehr in seine Unterkunft ein Schreiben von Liütasil vorfand, in dem der Fürst eine Abordnung ankündigte.
Mallen war sich indes nicht sicher, ob er sie in seinem Königreich haben wollte.