Das Geborgene Land, Königreich Idoslän, vier Meilen vor den Höhlen Toboribors, 6241. Sonnenzyklus, Spätsommer.


Tungdil schlief schlecht in dieser Nacht. Er träumte von Balyndis und Sirka. Es war ein wirres Durcheinander, und am nächsten Morgen erinnerte er sich nur noch an Bruchstücke seiner Erlebnisse im Schlaf. Hatten sie um ihn gekämpft oder hatte er gegen sie gekämpft? Sirka hatte ihm ihren Dolch ins Herz gestoßen... Er setzte sich beim ersten Gesang der Vögel auf und betastete seine Brust, denn der Schmerz darin hatte die Täuschung des Angriffs vollkommen gemacht.

»Ein wahrer Albtraum«, seufzte er und rieb sich die Stelle, während er aufstand, sich wusch und in seine Kleidung und Rüstung schlüpfte. Das Gesicht, das ihn aus dem polierten Silberspiegel anschaute, sah alt und müde aus. Natürlich konnten es die Auswirkungen des Trinkens sein. Oder die Unzufriedenheit in seiner Seele, die nicht geschwunden war. »Habe ich das Richtige getan?«, fragte er sein Spiegelbild, wie er es schon oft getan hatte.

»Schlafwandelst du oder bist du tatsächlich aufgestanden?«, sagte Ingrimmsch und stützte sich in seinem Bett auf den Ellbogen. »Was ist los? Sind dir die Vögel zu laut?«

Tungdil wandte sich zu ihm um. »Steh auf, Boindil. Ich muss dir einiges erzählen«, bat er ihn. Und so bekam der Krieger die Zusammenfassung der vergangenen Nacht zu hören, während er in seine Sachen stieg. »Die Versammlung heute wird alles entscheiden, und ich wollte dich bitten, ein wachsames Auge auf Esdalän zu haben. Beschütze ihn vor den Elben, nicht mich.«

Ingrimmsch fuhr sich durch die halblangen schwarzen Haare. Noch waren sie nicht so schnell nachgewachsen, dass es für einen ansehnlichen Zopf ausreichte, daher trug er sie offen. »Warum hast du mich nicht zu dem Treffen mitgenommen?«, fragte er enttäuscht. »Was habe ich getan, um dein Vertrauen zu verlieren?« Tungdil war überrascht. »Ich habe nicht daran gedacht, weil...« Er suchte selbst nach einer Erklärung und fand sie nicht auf Anhieb. Jedenfalls keine, die er laut aussprechen wollte.

Boindil hatte seine eigenen Schlüsse gezogen. »Es ist wegen Goda, habe ich Recht?« Er schlüpfte in die Stiefel. »Du traust ihr nicht und hast Angst, dass ich ihr alles verraten könnte. Und dass sie eine heimliche Spionin der Zwergenhasser ist.« Er legte die Unterarme auf die Knie und betrachtete Tungdil. »Seit dem Tag im Gehöft und unserem Streit ist es nicht mehr so zwischen uns wie zu Beginn unseres Abenteuers, Gelehrter. Ich stelle mir die ganze Zeit über die Frage, wer von uns beiden sich verändert hat, dass es geschehen konnte.« »Wir haben uns beide verändert, Ingrimmsch.« Tungdil zog einen Hocker heran und setzte sich seinem Freund gegenüber. »Du hast dein Herz einer uns beiden unbekannten Zwergin geschenkt, von der wir nichts wissen und die heimlich nach allem Möglichen trachten könnte. Du siehst die Gefahr nicht, und ich übertreibe vermutlich.« Er lächelte traurig. »Und auch mein Herz ist an eine Zwergin gefallen, die du vollkommen ablehnst.« »Dann sind die Weiber schuld und nicht wir«, griente der Krieger. »Es sind immer die Weiber.« Tungdil lachte leise. »Da machen wir es uns ein wenig zu einfach.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Ich bin unzufrieden, Boindil. Unglücklich. Im Geborgenen Land gibt es keine Gemeinschaft, in der ich mich zu Hause fühle, weder bei den Zwergen noch bei den Menschen.«

»Du wirst mit den Untergründigen gehen, ich weiß.«

»Woher...«

»Du bist der Gelehrte, Tungdil. Du hast mehr als fünf Zyklen damit verbracht, untätig im Stollen Lot-Ionans zu sitzen und versucht, dich mit dem beständigen Leben eines Zwergs abzufinden. Für Balyndis. Aber deine Seele wollte es nicht. Nicht so.«

Tungdil wurde von den Ausführungen überrascht. Sie trafen haargenau das, was er empfand. Er blickte seinen Freund staunend an.

»Jetzt gibt es mit den Unauslöschlichen eine neue Herausforderung für dich, und danach willst du weiter, über die Grenzen der Berge, die Vraccas gesetzt hat, hinaus.« Ingrimmsch lächelte. »Was immer du für ein Zwerg bist, Tungdil, aber die Sesshaftigkeit und einige Wesensarten der Kinder des Schmieds wurden dir nicht gegeben.« Er nickte ihm zu. »Mit Absicht. Du hast die Freien und die Zwerge zusammenfinden lassen, du hast die Dritten und die anderen Stämme vereint, und dir hat es das Geborgene Land zu verdanken, dass es in dieser Art noch existiert.« Er klopfte ihm auf das Knie und erhob sich. »Ein Stammeszwerg wie ich hätte das niemals zuwege gebracht. Vraccas hat dich so erschaffen, damit Bewegung in die Stämme gelangt. Bleib, wie du bist, Gelehrter. Ich werde mich damit abfinden müssen, auch wenn es länger dauert. Daher bitte ich dich um Nachsicht, wenn ich grummelig bin. Letztlich bin und bleibe ich dein Freund.« Er hielt ihm die Hand hin. »Wenn du darauf Wert legst.«

»Wie könnte ich auf einen murrigen, ehrlichen Zwerg wie dich verzichten?« Tungdil schlug ein, dann umarmten sie sich. Er freute sich über die offene Unterredung, welche die dunklen Schleier zwischen ihnen wegwehte. Ingrimmsch strahlte erleichtert. »Nachdem wir das geklärt haben, lass uns sehen, wie das Spitzohr auf die Anschuldigungen von Esdalän reagiert.« Er schulterte den Krähenschnabel. »Und ich sage absichtlich Spitzohr, denn sie gehört ja nicht zu den Elben, mit denen wir uns gut verstehen müssen.« Er ging hinaus in die Nebenkammer des Zeltes, die mit Segeltuch abgetrennt war und wo Goda schlief. »Ho, es ist einfach herrlich, wieder Spitzohr zu sagen!«

Tungdil besorgte ihnen ein kräftiges Frühstück. Schweigend aß er, während Boindil seine Schülerin auf das vorbereitete, was sich bald in dem großen Versammlungszelt abspielen würde. Ihr entging dabei nicht, dass ihr Mentor immer wieder zu Tungdil schielte. Schließlich wandte sie sich an ihn.

»Was kann ich tun, damit ich dich von meiner Ehrlichkeit überzeuge?«, fragte sie ihn unumwunden. »Gib mir eine Aufgabe, verlange einen Eid oder etwas in dieser Art, das dir die Gewissheit bringt, die Ingrimmsch schon lange besitzt.«

»Das musst du nicht, Goda«, erwiderte Tungdil.

»Ich will deine Zweifel aber aus der Welt schaffen«, beharrte sie. »Wir sind beide Dritte. Du hast eine Vorstellung davon, wie es ist, mit Misstrauen beobachtet zu werden.«

Er verschwieg ihr die vagen Überlegungen von Gandogar und ihm selbst, die Dritten wieder in einem eigenen Stamm zusammenzufassen. »Ja, ich weiß es.« Die Erinnerungen an die Ablehnung durch Balyndis' Clan schnellten aus seinem Verstand empor. »Und ich tue es gewiss nicht gern, Goda, dich mit einem gewissen Vorbehalt in meiner und Ingrimmschs Nähe zu sehen. Doch die Vorsicht und die Verantwortung befehlen es mir. Wärst du eine Spionin der Zwergenhasser, könntest du mit dem Wissen sehr viel Schaden anrichten.« Sie schaute ihn trotzig an. »Dann wird sich dein Zweifel niemals legen?«

Tungdil blickte Bomdil an. »Du hast meinen besten Freund überzeugt, Goda. Gib mir noch Zeit, auf dass ich mich seinem Urteil anschließen kann.«

»Es sind nicht alle wie Myr«, kam es unüberlegt über ihre Lippen.

Tungdil zuckte zusammen. »Nein, es sind nicht alle wie sie«, stimmte er ihr leise zu, erhob sich und verließ das Zelt.

Er trat in den Schein der aufgehenden Sonne und marschierte los, die Hügel hinauf und hinab, erklomm eine flache Kuppe nach der anderen, bis er die höchste gefunden hatte. Außer Atem setzte er sich ins taufeuchte Gras. Seine Blicke schweiften über die Zelte, hier und da stieg Rauch von Lager- oder Küchenfeuern auf. Das Heer erwachte wie der Rest des Geborgenen Landes.

Vermutlich stand auch Balyndis im Grauen Gebirge auf, betrachtete Glaimbar und dachte dabei an Tungdil. Vielleicht ver fluchte sie ihn, vielleicht liebte sie ihn immer noch, verstand aber, dass es zu nichts führen würde. Hoffentlich verstand sie es.

Tungdil rupfte ein paar Halme aus und spielte damit. Wie würde es mit Sirka weitergehen? Würde er auch sie enttäuschen?

Grübelnd saß er auf seinem Aussichtspunkt, bis die Sonne ganz über dem Horizont aufgegangen war und eine Fanfare zur Besprechung rief. Er würde zu spät kommen, doch das scherte ihn nicht. Man würde nicht ohne ihn beginnen.

»Vraccas, leite mich«, bat er und stemmte sich auf die Füße, streifte den Tau von seiner Lederhose und genoss den kühlen Nachtwind, der auf seiner Flucht vor den Strahlen des Taggestirnes sein Gesicht streichelte. Er konnte nicht sagen, weswegen, aber er drehte den Kopf nach Norden. Und sah die breite, lange Schlange, die sich in zehn Meilen Entfernung zu ihm über das hügelige Idoslän zog. Ein stattliches Heer durchquerte das Land im Laufschritt und hielt auf Toboribor zu.

Die Ubariu, durchzuckte es ihn. Sundalön hatte die Streitmacht unbemerkt von den Vierten durch das Gebirge geleitet und kam, um seinen Anspruch auf den Diamanten zu erheben. Tungdil versuchte, die Zahl der Soldaten zu schätzen. Als Sirka von achtzigtausend sprach, hatte sie nicht gelogen.

Jetzt war Eile geboten.

Er begab sich auf der Stelle auf den Rückweg. Nun versprach die bevorstehende Versammlung erst recht aufschlussreich zu werden. Er war sehr gespannt, wie Rejalin auf das Erscheinen der Ubariu reagieren würde. Insgeheim spürte Tungdil auch etwas Erleichterung darüber, diese Streitmacht zu sehen. Die Elben konnten es nicht wagen, gegen eine solche Überlegenheit an Truppen in den Krieg zu ziehen.

Es würde für Gandogar ein großer Schreck sein zu hören, dass die Kinder des Schmieds nicht die alleinige Verantwortung für die Sicherheit des Geborgenen Landes trugen. Und das seit vielen Tausend Zyklen. »Oh ja, es wird eine abwechslungsreiche und sehr spannende Versammlung«, sagte er zu sich, während er sich dem Lager näherte.

Die ersten Außenposten trafen zusammen mit ihm ein und rann ten in Mallens Zelt, um ihn von der Ankunft der vermeintlichen Orks, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, zu unterrichten.

Kurzerhand folgte Tungdil dem letzten Boten und fiel ihm ins Wort. »Prinz Mallen, was sich uns nähert, sind keine Feinde«, erklärte er. »Es sind Wesen, welche das Geborgene Land ebenso gegen alle Feinde verteidigt haben, wie es mein Volk getan hat. Ich sende Sirka zu ihnen. Sie wird mit einer Abordnung der Ubariu zurückkehren.«

Mallen, umringt von den aufgeregten Männern, überlegte. »Das Wundern habe ich mir abgewöhnt«, sagte er schließlich abgeklärt. »Wir treffen uns im Versammlungszelt.«

Tungdil verneigte sich und ging, um Sirka loszuschicken.


Загрузка...