Das Geborgene Land, Rotes Gebirge Im Reich der Ersten 6241. Sonnenzyklus, Frühsommer.
In diesen Zeiten, in denen die Kinder des Schmieds argwöhnischer als jemals zuvor ihre Wachdienste an den Zugängen des Geborgenen Landes verrichteten, war es für Wanderer und Kaufleute von außerhalb sehr schwer, eine der fünf Pforten zügig zu passieren. Falls sich überhaupt jemand blicken ließ. Nicht immer begehrte nur das Böse Einlass ins Geborgene Land.
Im Roten Gebirge war dies der Fall.
Die neun imposanten Türme und die beiden mächtigen, dicken Trutzmauern West-Eisenwarts wurden selbst für friedliche Besucher zu einem beinahe unüberwindbaren Hindernis. In den Abschnitten zwischen den fünf Wällen in der Schlucht, die zum Eingang Eisenwarts und damit ins Reich der Ersten führte, lagerten annähernd zweihundert Menschen. Sie warteten darauf, von den Zwergen eingelassen zu werden.
Es waren überwiegend Händler, aber auch Flüchtlinge aus den verwüsteten Gebieten, die sich nach fünf Zyklen noch immer nicht von der Vernichtung durch die selbst ernannten Avatare und ihr Heer erholt hatten. Königin Xamtys hatte den Wächtern Anweisung gegeben, die Gruppen nach zwei Umläufen jeweils um einen Abschnitt vorzulassen. In den insgesamt zehn Umläufen des Ausharrens beobachteten die Zwerge die Menschen, die Wagen und ihre Tiere genaues tens, ob sie ein ungewöhnliches Verhalten an den Tag legten. Nur wer sich benahm und den letzten Prüfungen vor dem Einlass in Eisenwart Stand hielt, durfte in die Hallen der Zwerge eingelassen werden und von dort über den Pass gelangen.
Die Ruhelosigkeit unter den Wächtern stieg. Gelegentlich nahm man den schwachen Duft von Orks wahr, dezent und verborgen, als liege eine kleine Rotte in weiter Entfernung auf der Lauer und warte auf eine günstige Gelegenheit zum Sturm. Vielleicht bespitzelten auch einige ihrer Aufklärer das Bollwerk.
Unter den Einlassbegehrenden, die bis vor das erste Tor der Festung gelangt waren, befand sich ein grobknochiger Händler, der aus seiner Ladung ein großes Geheimnis machte. Auf seinem langen, sperrigen Vierspänner standen viereckige Blöcke, so schien es zumindest, die mit Leder- und Stoffbahnen gegen Blicke und die Witterung geschützt wurden.
Rumpelnd näherte sich der Wagen dem Posten, und der Mann, von oben bis unten in helles Leder gekleidet, hielt seine Ochsen an. Er kam zu Bendelbar Glühisen aus dem Clan der Glühisens, dem Befehlshaber der Wächter, und verneigte sich. »Ich grüße euch. Mein Name ist Kartev, ich bin eigens aus Ajula hierher gereist, um euren König zu sprechen.«
»Weswegen sollte Königin Xamtys die Zweite das tun?«, erwiderte Bendelbar, ein kräftiger Zwerg mit langen blonden Haaren und einem ebenso farbigen, geflochtenen Bart, mit militärisch knapper Unfreundlichkeit und einer Spur Verwunderung. Ein größenwahnsinniger Kaufmann, das fehlte noch.
Kartev ging rückwärts, löste ein paar Schnüre, mit denen die Stoffstücke am Wagen befestigt waren, und lupfte die Abdeckung, hinter der Gitterstäbe zum Vorschein kamen, dann winkte er den Zwerg zu sich. »Sieh selbst.« Bendelbar näherte sich und schaute hinein. Darin hockten kleine Gestalten, die an den Füßen an den Boden angekettet und in einem jämmerlichen Zustand waren. Sie waren allesamt bartlos und glichen - abgesehen von dieser wunderlichen Eigenheit - den Zwergen des Geborgenen Landes wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Wächter wusste sofort, um wen es sich dabei handelte. Die Nachricht aus dem Schwarzen Gebirge hatte sich schnell verbreitet: die Diamantendiebe! »Bei Vraccas!«
»Ich nenne sie Kindergreise«, sagte Kartev. »Ich dachte mir schon, dass dein Volk Interesse an ihnen hat. Sie sind gewiss mit euch verwandt, oder?«
»Und wieso hast du sie gefangen?«
»Ich habe sie nicht gefangen. Ich habe sie gekauft. Von einem Richter in Ajula, der sie wegen ihrer Raubzüge ergreifen ließ«, erklärte er eilig, damit man ihm keinen Vorwurf machte. »Sie waren sehr teuer«, fügte er rasch hinzu.
Bendelbar betrachtete die faltigen, nackten Gesichter, deren Anblick für ihn ungewöhnlich und neu war. Er entdeckte sogar zwei Frauen unter den Gefangenen, auf deren Wangen sich kein einziges Härchen entdecken ließ. »Lass mich raten: Sie waren auf der Jagd nach Diamanten?«
Kartev schaute überrascht. »Ja! In der Tat, du hast Recht.« Seine Augen wurden schmal. »Dann haben sie es bei euch auch schon versucht, nehme ich an?« Er richtete sich auf. »Sehr schön, dass ich euch helfen konnte. Ich überlasse sie euch, wenn ihr mir meine Ausgaben bezahlt habt.« Seine Finger ließen das schwere Segeltuch los, die fremden Zwerge verschwanden wieder in der Dunkelheit. »Bring mich und meine Gefangenen zu deiner Königin, damit ich mit ihr über den Preis verhandeln kann.«
Bendelbar wickelte eine Bartsträhne um seinen kräftigen Zeigefinger. Er überlegte einen Augenblick, schließlich willigte er ein. Die Gelegenheit, die Diebe zu befragen, durfte er sich nicht durch die Hände gleiten lassen. Die Geschichtsschreibung würde keine Gnade mit ihm kennen, falls durch sein Verschulden eine Katastrophe nicht verhindert werden könnte. Er ließ die Tore für den Mann und seine Fracht öffnen.
Eskortiert von zehn Wächtern, ging es eine sehr lange Zeitspanne und von mehreren Rasten unterbrochen quer durch die Gänge und Hallen des östlichen Abschnitts des Roten Gebirges, bis der Tross in einer Kaverne anhielt, die den Ersten als Steinbruch diente.
»Warte hier«, wies Bendelbar ihn an. »Ich lasse Xamtys holen.« Er rief einem Wächter einen entsprechenden Befehl zu, und der Zwerg trabte los. Bendelbar meinte, wieder den Geruch von Orks in der Nase zu spüren, was keinesfalls sein konnte. Nicht hier drinnen. Er tat es als Einbildung ab.
»Was gibt es Neues im Geborgenen Land?«, plauderte Kartev und löste nacheinander die Schnallen, um die Planen und Lederhäute von den Käfigen zu ziehen. »Ich war schon lange nicht mehr hier. Hausen in Toboribor immer noch Orks?«
Bendelbar wies die übrigen Soldaten an, dem Mann zur Hand zu gehen. Nach und nach enthüllten sich die Verschlage mit den Zwergen, die im Geborgenen Land nur als Untergründige bekannt waren. Der Händler brachte ihnen zwei Dutzend. Sie drängten sich in der Mitte ihrer Gefängnisse zusammen und betrachteten ihre Verwandten misstrauisch, schweigsam.
»In Toboribor? Da tut sich schon lange nichts mehr«, gab Bendelbar abwesend zur Antwort; er konnte den Blick nicht von den Gestalten wenden. »Nach dem Stern der Prüfung ist nichts mehr von dem Bösen übrig geblieben.« »Da hört man aber ganz andere Dinge«, erwiderte Bendelbar und schwang sich auf den vorderen Teil des Wagens, wo fünf große Fässer standen. Er öffnete das linke, nahm ein paar Laibe hartes Brot heraus und warf es zwischen die Gitterstäbe; gierig machten sich die Untergründigen darüber her. »Es sollen sich seltsame Kreaturen herumtreiben, die plündern und morden.«
Jetzt schaute Bendelbar doch zu dem Mann. »Gerüchte verbreiten sich im Jenseitigen Land schnell.« Der Händler lächelte dem Zwerg zu. »Vergiss nicht, dass ich Kaufmann bin. Kaufleute sind immer leicht zu beunruhigen, weil sie um ihre Ware fürchten.« Mit einem kräftigen Sprung, dem Bendelbar dem Menschen nicht zugetraut hätte, landete er vor ihm. »Gibt es diese Kreaturen nun oder nicht?«
»Es gibt sie«, seufzte er. »Doch wir haben sie bald gefasst.« Er legte die Hand an den Griff seines Beils, das in seinem Gürtel steckte. »Du kannst unbesorgt durch...«
Hinter ihm krachte es laut.
Ein Teil des Käfigbodens war weggebrochen, und ein Dutzend der gefangenen Untergründigen fiel unter dem Karren auf den Steinboden. Zuerst glaubte Bendelbar daran, dass das Gefährt durch die lange Fahrt und das Gewicht marode geworden war, aber als Untergründigen ohne Ketten an den Beinen nach rechts und links davonstürmten, verstand er, dass sie sich befreit hatten.
»Haltet sie!«, schrie Kartev entsetzt und fiel einem der Wächter in den Arm, der eben mit seinem Speer nach einem Untergründigen stechen wollte. »Und tut ihnen bloß nichts! Sie sind mein Eigentum, hört ihr? Ich will sie unbeschadet zurück. Ihr bezahlt mir jeden Toten teuer!«
Bendelbar stieß ihn zur Seite. »Hinterher!«, befahl er und langte nach seinem Rufhorn.
Da klappte eine Seitenwand des zweiten Käfigs weg, klingelnd und klirrend hopsten die Haltebolzen auf den Boden. Der Zwerg wurde von den Gitterstäben am Kopf und an den Schultern getroffen und niedergedrückt, während das zweite Dutzend Untergründiger sich befreite und die Wächter überwältigte. Mit den erbeuteten Waffen und Rüstungen liefen sie zu den Ausgängen der Halle.
Bendelbar konnte sich nicht rühren. Das schwere Gitter presste ihn zu Boden und ließ nicht einmal zu, dass er seine Arme bewegte, geschweige denn sein Rufhorn erreichte.
»Ich hole Hilfe«, sagte Kartev und nahm sich das Beil des Zwergs. »Nur, falls sie mich unterwegs angreifen«, erklärte er. »Du bekommst es wieder. Wo muss ich hin?«
»Mein Rufhorn«, ächzte Bendelbar. »Blas hinein.« So sehr sich der Händler bemühte, außer einem Geräusch, das wie ein nasser Furz klang, wurde nichts laut. »Sie wollen bestimmt unseren Diamanten«, ächzte der Zwerg und nickte auf den linken Gang. »Lauf und warne die Königin.«
Kartev nickte ihm zu. »Das werde ich.« Er stand auf und rannte davon, schneller als Bendelbar jemals einen Menschen hatte rennen sehen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf Hilfe zu warten.
Es dauerte eine ganze Weile, bis man sich um ihn kümmerte. Er hörte Rufhörner und viele aufgeregte Stimmen schallen, mal krachten Waffen gegeneinander, mal schrie ein Zwerg vor Schmerz und Wut. Jede Faser in Bendelbars Leib verlangte danach, bei der Jagd auf die Eindringlinge dabei zu sein, doch das Eisen widerstand all seinen Bemühungen, sich hervorzuwinden.
Endlich, endlich näherten sich Schritte.
Kartevs derbes Gesicht tauchte vor ihm auf. »Da bin ich wieder«, sagte er, und zahlreiche Hände packten das Seitengitter, um es mit vereinten Kräften anzuheben.
Mit einer schmerzenden Schulter und dröhnendem Schädel rutschte Bendelbar unter den Stäben hervor. Dann wurde ihm auf die Beine geholfen. Vor ihm standen außer dem Händler Königin Xamtys und geschätzte sechzig Krieger, an deren Waffen Blut haftete. »Wie ist es ausgegangen?«, fragte er mit einer tiefen Verbeugung vor seiner Herrscherin.
»Wir haben die meisten von ihnen erschlagen müssen, weil sie sich heftig gewehrt haben«, sagte sie. »Sie gelangten sogar bis in unsere Schatzkammer, auch wenn ich nicht weiß, wie es sich zugetragen hat. Ein furchtbares Durcheinander.« Xamtys schaute zu Kartev. »Zwei von ihnen befinden sich zwar auf der Flucht, rechne jedoch nicht damit, dass du sie lebend zurückbekommst.« Sie reichte ihm ein Säckchen, in dem es in bekannter Weise klimperte: Goldmünzen. »Nimm sie als Entschädigung und als meinen Dank für deinen Versuch, uns im Kampf gegen die Untergründigen in der Schatzkammer beizustehen.«
Der Mann verneigte sich. »Vielen Dank, edle Königin. Es tut mir Leid, dass unser Geschäft auf diese Weise zu Stande kommt. Ich hätte Euch die Gefangenen gern verwahrt übergeben.« Er deutete auf den zerborstenen Boden. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie sich mit ein paar Eisenspänen einen Weg nach draußen schaffen und sogar die Schlösser der Ketten öffnen könnten.«
»Es ist nicht deine Schuld. Meine Wächter hätten den Karren gründlicher untersuchen müssen«, sagte sie und schaute zu Bendelbar. »Von nun an erwarte ich die dreifache Umsicht von den Torwächtern«, sprach sie mit schneidender Stimme. »Kehre auf deinen Posten zurück und lass es dir eine Lehre sein. Dieser Überfall hätte viel zu leicht zu einem Erfolg werden können.« Sie wandte sich um und entfernte sich mit ihrem Gefolge und der Leibwache.
Bendelbar verzog den Mund. Er hatte Schmerzen und war bei der Königin in Ungnade gefallen. Vor allem die letzte Nachricht würde bei seinem Clanoberhaupt keine Freudenstürme auslösen, er bekäme den Schopf sicherlich nochmals gewaschen. Unfreundlich schaute er zu dem Menschen, der die ersten Trümmerstücke auf seinen Karren warf. »Lass es gut sein.« Er befahl seinen Wächtern, die zurückgekommen waren, die Arbeit zu übernehmen.
Nicht lange danach machte sich Kartev mit dem, was von seinem Vehikel übrig geblieben war, auf ins Jenseitige Land. Sie mar schienen lange, geschätzte drei Sonnenumläufe auf den breitesten Straßen des Zwergenreichs, vorbei an kleinen und großen Wundern aus Stein, Stahl und Eisen. Statuen, Brückenbauwerke und Wandbilder erfreuten das Herz des Zwerges.
Obwohl der Händler reich für seinen Besuch entlohnt worden war, schwieg er und benahm sich alles andere als glücklich über den einträglichen Ausgang seiner Reise. Fast kam es Bendelbar so vor, als trauerte der Mann um die getöteten Untergründigen. Er hatte kein Auge für die Schönheiten entlang des Weges.
Weil auch er nicht die geringste Lust empfand, sich zu unterhalten, gingen sie am vierten Sonnenumlauf schweigend durch die Tore Eisenwarts. Mehr als ein »Vraccas segne dich«, kam keinem von beiden über die Lippen.
Bendelbar blieb stehen und befahl, das äußere Tor zu schließen und dem Händler die Wallpforten zu öffnen, dann lief er zum Aufzug, begab sich auf den vordersten Wehrgang und verfolgte von dort aus den Ochsenwagen mit seinen Blicken.
Als er sich im Stillen gerade wunderte, warum Kartev nach der langen Wartezeit vor den Toren nicht mit seinem Gold ins Geborgene Land gereist war, um Güter einzukaufen und mit ihnen die Rückreise anzutreten, so tat der Mann etwas noch Seltsameres.
Als Kartev den letzten Wall hinter sich gelassen hatte, unterhielt er sich mit einem Neuankömmling, dessen Ziel West-Eisenwart war; er drückte ihm die Führleine des Leitochsen in die Hand und ging ohne sein Hab und Gut weiter.
»Vraccas, was ist mit diesem Menschen?«, wunderte Bendelbar sich und verließ seinen Aussichtspunkt. Er wollte der Sache auf den Grund gehen.
Er befahl ein Pony und fünf berittene Wächter zu sich, als ein Bote an ihm vorbei eilte und in die Unterkunft Gondagar Bitterfausts aus dem Clan der Bitterfausts stürmte, dem Befehlshaber West-Eisengards. »Wartet«, sagte Bendelbar zu seinen Begleitern, er ahnte, dass die Aufregung mit dem Händler zu tun hatte. Es dauerte gerade einmal so lange wie man benötigte, eine Axt zu ziehen, maßzunehmen und nach dem Gegner zu schleudern - sofern man eine zweite dabei hatte -, da erklang die dunkle, dröhnende Stimme des Warnhorns der Festung. Es wurde mit großen Blasebälgen aus der Unterkunft des Befehlshabers heraus betätigt und sandte seine Botschaft ohne Unterbrechung zu Wällen, die Bergeshänge hinauf und die Schlucht entlang.
Da flog die Tür wieder auf. Gondagar erschien, stülpte sich den Helm auf die schwarzen Locken und deutete auf den Zwerg neben Bendelbar. »Du, runter! Lass mich aufsitzen«, befahl er und schwang sich in den Sattel. »Los, haltet mir den Händler auf«, grollte er und gab dem Tier die Sporen, dass es sich aufbäumte und voller Schmerz davon galoppierte. »Er hat in dem Durcheinander den Diamanten gegen eine Nachbildung aus Glas ausgetauscht.«
Bendelbar wurde heiß und kalt. Seine Schuld wurde immer größer.
Die Zwerge jagten auf den Ponys die gewundene Schlucht entlang, und die Tore öffneten sich jeweils gerade rechtzeitig vor ihnen.
Jeder Hufschlag brachte sie tiefer ins Jenseitige Land. Sie folgten der breiten, abschüssigen Straße, doch so sehr sie ihre Pferde antrieben, es gelang ihnen nicht, den Händler einzuholen.
Hinter jeder Biegung meinten sie, auf den Mann zu treffen, aber sie wurden enttäuscht. Dabei gab es nichts, wo er sich hätte verstecken können. Die Wände ragten entweder steil vor ihnen auf oder fielen senkrecht ab, und der Stein war zu glatt, um Fingern Halt zu bieten.
Erst als die Sonne über dem Roten Gebirge sank und die Dämmerung sich wie ein dunkles Tuch über die Umgebung legte, hielten sie an.
Gondagar fluchte derb. »Wo ist dieser verdammte Mensch abgeblieben?«, rief er laut gegen die Wände der Berge, und das wütende Echo hallte weit. »Ist er mit Tion im Bunde, oder wie kann es angehen, dass wir ihn nicht einholen? Vraccas möge ihn mit seinem Hammer treffen!«
Bendelbars Pony schnaubte alarmiert und wich vor einem harmlosen Felsblock am Wegesrand zurück. Die übrigen Tiere blähten die Nüstern und stellten die Ohren auf, tänzelten auf der Stelle und wurden durch die harte Zügelführung ihrer Reiter am Ausbrechen gehindert.
Dann roch Bendelbar es auch: Orks. Der Geruch ihres Schwei ßes haftete der Abendluft an und verpestete sie. Er rutschte aus dem Sattel und nahm sein Beil zur Hand. Gondagar folgte seinem Beispiel. »Ich rieche sie, aber ich sehe sie nicht«, knurrte er. »Was ist das für eine Schweinerei?«
Bendelbar näherte sich dem Felsen, vor dem die Ponys ängstlich zurückwichen, und hielt die Waffe schlagbereit. »Vielleicht verbirgt sich unter dem Stein ein geheimer...«
Da verwandelte sich der Stein in Kartev. Der Mann warf sich augenblicklich gegen ihn, in seiner rechten Hand schwang er eine beinlange Keule und traf ihn gegen die verletzte Schulter.
Der Zusammenprall war hart, zu hart für die Kraft eines herkömmlichen Menschen, dem es eigentlich unmöglich war, eine solche Keule mit nur einer Hand zu führen. Andererseits war es einem Menschen unmöglich, die Gestalt eines Felsens anzunehmen. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu.
Bendelbar stürzte zur Seite, prallte gegen das Pony und fiel unter die wirbelnden Hufe der erschrockenen Tiere. Bis er sich vor den Tritten in Sicherheit gebracht und mit zusammengebissenen Zähnen erhoben hatte, war der Kampf gegen Kartev bereits entschieden.
Jedoch anders, als Bendelbär vermutet hätte.
Seine Zwergenfreunde lagen stöhnend oder stumm auf dem Weg, der schwer atmende Mann stand siegreich über ihnen und schaute auf Bendelbar hinab. »Bleib, wo du bist. Ich habe, was ich wollte«, sagte er, und seine Stimme klang tiefer, gutturaler, mehr nach einem - Ork! »Ich will dir nichts tun.«
»Aber ich!«, rief Bendelbar, hob sein Beil und sprang vorwärts. »Vraccas, steh mir bei gegen die verwunschene Grünhaut!«
Sein Beil wurde pariert, der Keulengriff stieß gegen seine Wange und warf ihn zu Boden.
Der Zwerg fühlte sich wie von einem Pony getreten. Benommen und doch vom unbändigen Willen beherrscht, nicht gegen das Ungeheuer zu unterliegen, richtete er sich auf und reckte das Beil, um sich den Angreifer vom Leib zu halten. Verschwommen erkannte er die Umrisse eines Orks vor sich. »Du wirst nicht entkommen«, lallte er mit schwerer Zunge.
Der breite Schatten huschte an ihm vorbei, seine Klinge hackte ins Leere.
»Ich bin dir soeben entkommen«, rief das Wesen von weitem. »Kehre nach West-Eisenwart zurück und lass deine Wunden behandeln.« Das Trappeln von Hufen erklang.
Bendelbar schüttelte den Kopf und versuchte, seine Benommenheit auf diese Weise loszuwerden. Es nützte nichts, er musste warten, bis der Schwindel und der Schleier vor seinen Augen sich von selbst legten. Als er sich erhob, erwachte Gondagar aus seiner Ohnmacht. Die Keule hatte eine tiefe Delle in den Helm geschlagen, Blut sickerte durch die schwarzen Haare und den Bart das Kinn und den Hals hinab. »Was für ein schreckliches Land«, stöhnte er. »Man kann die Orks nicht mehr von den Menschen unterscheiden. Bis auf den Geruch.« Er schaute sich um. »Er hat uns ein Pony gestohlen.«
Nach und nach kamen die Zwerge auf die Beine. Prellungen, ein gebrochener Oberarm, schmerzhafte Platzwunden, aber es gab keine Toten zu beklagen. Darüber wunderte sich nicht nur Bendelbar. Der Ork hatte sie verschont. Das Ereignis würde bei der Versammlung der Stämme sicherlich für lange Unterredungen sorgen. Sie gaben auf und kehrten nach Eisenwart zurück. Auf halber Strecke kam ihnen Verstärkung aus dem Reich der Ersten zu Hilfe. Eine fünfzig Zwerginnen und Zwerge umfassende Reitertruppe ritt heran.
In aller Eile berichtete Gondagar von ihrem Zusammentreffen und den unerklärlichen Fertigkeiten des Gegners. »Hütet euch vor seiner Magie. Er kann sich anscheinend in alles Mögliche verwandeln. Aber er riecht immer noch wie ein Ork«, sagte er. »Achtet auf eure Nasen und euere Ponys. Sie sind weniger leicht zu überlisten wie euere Augen.«
Der Anführer der Truppe nickte. »Und ihr gebt Acht, wenn ihr in der Festung seid, aus welchem Brunnen ihr trinkt. Es sind etliche von ihnen vergiftet worden. Die Gelehrten prüfen einen nach dem anderen.« »Was?« Bendelbar, der gerade nach seiner Trinkflasche griff, verharrte.
»Es wurden einhundert Tote im Süden des Roten Gebirges gefunden. Sie müssen bereits vor mehreren Umläufen gestorben sein. Ihre Münder, Augen, Nasen und Ohren standen voller Blut.
Der Clan der Harthammers ist vollständig ausgelöscht worden. Die Königin vermutet die Dritten hinter der Tat.« Er nickte ihnen grimmig zu. »Mehr erfahrt ihr in der Festung. Wir müssen weiter.« Die Truppe preschte davon und ließ die fünf Zwerge in einer Staubwolke zurück.
Noch mehr Tote aus seinem Volk. Doch wenigstens hatte Bendelbar die Gewissheit, dass der Anschlag nicht von den Untergründigen begangen worden war. Damit wäre seine Mitschuld an den Ereignissen ins Gipfelhöhe gestiegen.