Das Geborgene Land, Königreich Idoslän einstiges Orkreich Toboribor 6241. Sonnenzyklus, Frühsommer.


»Weißt du, wie unerträglich es ist, ohne deine Stimme leben zu müssen?« Der leise Satz, in tiefster Trauer und Verzweiflung gesprochen, schwebte hinauf bis zur Höhlendecke, zerbrach daran und rieselte als leiser Hall auf den Sintoit zurück. Er trug eng anliegende Kleidung aus schwarzer Seide mit dunkelgrauen Stickereien darauf und kniete vor einem einfachen Lager, auf dem eine schlafende Sintoi ruhte. Um seine Schultern lag ein nachtfarbener Mantel, der ihn schützend umhüllte; die Hände, die ihre blasse Linke hielten, steckten in schwarzen Samthandschuhen. Die Sintoi trug die gleichen Gewänder wie er.

»Ich sehe dein wunderschönes Gesicht, berühre dein schwarzes Haar und kann nicht glauben, was uns geschehen ist. Selbst nach fünf Zyklen nicht.« Seine anmutigen Züge, vor denen die Menschen aus Verzückung in den Staub gesunken wären, verdunkelten sich. Es gab nichts Schöneres als ihn. Außer seiner Schwester. Seiner geliebten Schwester Nagsar Inäste.

»Inäste und Samusin haben uns verlassen, geliebte Schwester. Wir sind unsere eigenen Götter.« Seine schwarzen Augenhöhlen richteten sich geringschätzig auf die grob behauene Decke der kargen Unterkunft. Grässlich. Nichts war vollkommen, nicht einmal die Wände. Die verkommenen Orks taugten zu nichts. »Das hier war noch niemals ein Ort für uns. Verzeih mir, dass ich dich hierher brachte. Es lag nicht in meiner Absicht, aber ich war zu schwach.« Seine rechte Hand fuhr über ihre Stirn und richtete das offene Haar. Selbst in diesem Zustand der völligen Starre übertraf ihre Schönheit die jeder Elbin. Schwache Geschöpfe starben schlicht bei ihrem Anblick, starke verloren den Verstand. »Wenn du erwacht bist, begeben wir uns im Jenseitigen Land auf die Suche nach einem Reich, in dem wir herrschen werden. Dagegen wird Dson Balsur klein und unbedeutend erscheinen.« Er lächelte sie an, und selbst der Fels schien das Geschöpf zu bewundern. »Erinnerst du dich? Ich habe dir eine neue Bleibe versprochen.

Sie ist endlich fertig geworden.« Behutsam hob er sie an und trug sie auf seinen Armen durch die finsteren Gänge des entvölkerten Orkreiches. Er war schlank, doch alles andere als schwach. Tausende Gegner hatten für ihre falsche Einschätzung mit dem Leben bezahlt. »Ich zeige sie dir.«

Der Unauslöschliche verursachte nicht das geringste Geräusch beim Gehen, lediglich der Mantel raschelte leise, weil er über den Stein schleifte. »Sie wird dir gefallen, Schwester. Es ist der einzige Raum in dieser verpesteten Erde, den ich dir für die kommenden Umläufe, in denen du in deiner Starre liegst, zumuten möchte.« Er lief an unzähligen Stolleneinmündungen vorbei, wusste jedoch genau, wohin er sich zu wenden hatte. Sein Weg endete im Durchgang zu einer Kuppelhöhle, die er für sie gestaltet hatte. Die Luft war kühl und rein und nicht länger durchsetzt von brütender Hitze und dem Gestank der Orks. »Wir sind da«, sagte er sanft. Die Kaverne maß fünfzig mal fünfzig Schritt, in vierzig Schritt Höhe lag ihr höchster Punkt. Von dort stach ein finsterer, mächtiger Stalaktit herab, als sei es die Spitze eines titanischen Schwertes, das ein Riese durch den Berg gerammt hatte; das spitze Ende deutete auf einen Altar aus schwarzem Basalt, zu dem vier Stufen hinaufführten. Albische Runen zierten ihn, sie berichteten von der unvergänglichen Schönheit Nagsar Inästes. »Ich habe die Wände glatt geschliffen, damit die Farbe besser haftet«, sagte er zu der Schlafenden und betrachtete die verschnörkelten Malereien, die sich bis hinauf zum Stalaktiten zogen. Sie zeigten Dsön, wie es vor dem Brand ausgesehen hatte, in seiner ganzen Pracht und mit dem Turm aus Elbenbein. Auch wenn die Hauptstadt ihres Reiches vergangen war, lebte sie als Bildnis an den Wänden fort.

Der Unauslöschliche ging auf den Altar zu und schritt über die zahllosen Gebeine von Orks, die den Boden bedeckten. Die Knochen verschoben sich kaum unter seinen Sohlen und klickten hölzern.

»Hörst du, Schwester? Ich habe sie alle getötet. Ihr minderwertiges Blut diente mir für meine Wandgemälde. Sie haben für das gezahlt, was sie dir angetan haben«, sprach er zu ihr. »Ich wünschte, ich wäre früher aus meinem Schlaf erwacht, um deine Schän düngen zu verhindern.« Er betrat die Stufen, erreichte den Altar und bettete sie vorsichtig darauf. Liebevoll legte er ihre Arme gefaltet in den Schoß, richtete ihr Gewand und begab sich zu ihren Füßen. »Ich werde es mir niemals verzeihen, dass sie dich berührt und deinen Leib beleidigt haben«, raunte er und verneigte sich tief vor ihr, küsste ihre Stiefelspitzen.

Wie immer zeigte sich auf ihrem Antlitz nicht die geringste Regung. Es gab nicht den kleinsten Hinweis, ob sie ihn hören konnte.

»Es dauert nicht mehr lange, geliebte Schwester«, versprach der Unauslöschliche. »Ich habe mich den Menschen gezeigt. Sie werden ihre Krieger hierher senden, wie ich es gewollt habe. Das eröffnet uns die Gelegenheit, endlich den Diamanten zu erlangen, mit dem ich dich ins Leben zurückhole. Denn ich weiß, wohin sie die restlichen Steine bringen wollen.« Er legte seine Hände auf ihre Fußknöchel. »Geduld, Nagsar Inäste. Was bedeuten ein paar Umläufe für Wesen wie uns, die Tausende Zyklen kommen und gehen sahen?« Ihr Gesicht blieb starr.

»Du möchtest wissen, was mit dem missgestalteten Abschaum geschehen ist, der aus deinem Leib kroch?« Er zog seine Finger zurück und legte sie an die Griffe seiner Schwerter. »Sie leisten uns gute Dienste. Ich werde sie dennoch töten, damit nichts übrig bleibt, was dich an deine Befleckung erinnert. Einzig unser wahrer Sohn darf leben.« Seine Züge verzogen sich zu einem Lächeln. »Er ist vollkommen, geliebte Schwester. Reinstes Blut und dank der Quelle mit größerer Macht versehen als je ein Sintoit vor ihm. Deine Augen werden sich an ihm erfreuen. Du kannst stolz auf das sein, was unserer Vereinigung endlich entsprang. Er erschien zur rechten Zeit.« Noch einmal küsste er ihre Stiefelspitzen, verneigte sich und stellte sich neben sie, um ihre Hand zu streicheln. »Ich verlasse dich nun. Aber sei unbesorgt, ich kehre bald zurück. Mit dem Diamanten.«

Der Unauslöschliche ging rückwärts die Stufen hinab, wandte sich um und verließ die kühle Höhle. Er hatte ihr nicht sagen wollen, dass er Zweifel hegte... dass ihr wahrer Sohn sich gegen ihn gestellt hatte... dass er immer noch sehr geschwächt war.

Ich brauche den verdammten Stein. Was mir meine Macht nahm, wird sie mir wieder geben. Er ballte die Fäuste. In die ewige Verdammnis mit der Eoil!

Sie war es gewesen, die seinen Zauber, der ihm und seiner Schwester die Rettung vor der Vernichtung hatte bringen sollen, unterbrochen hatte.

Er erinnerte sich.

Er erinnerte sich an alles.

Wie er in körperlicher Starre gefangen hing, das Werk der immensen Anstrengung der magischen Reise und der Einwirkung der Eoil.

Niemals zuvor hatte er einen solch gefährlichen Spruch angewandt und war ein solches Wagnis eingegangen. Seine Schwester und er erhielten zwar Schutz in den Höhlen vor der Vernichtung, aber der Preis war hoch. Er wurde mitten in einen Schlund geschleudert, getrennt von seiner Schwester und völlig unbeweglich. Sein Verstand dagegen arbeitete ununterbrochen und versuchte zu ergründen, wohin es ihn getragen hatte. Als die Ausdünstungen der Orks in seine Nase stachen, da ahnte er es. Einige der niedrigen Kreaturen hatten dieses unsägliche Licht überlebt.

Gefangen in der Abgeschiedenheit des Schachtes, erinnerte er sich an die mahnenden Zeilen in den Schriften Dsöns, die von der Eoil sprachen.

Der unsterblichen Eoil. Abgesehen von der Unsterblichkeit und dem Hass aufeinander verband ihn und die uralte Elbin nichts. Die Schriften berichteten von der unglaublichen Macht, welche die Eoil zu erlangen und in einem Medium zu bündeln vermochte. Und wie man sich ihrer bemächtigte.

Diese Macht benötigte er dringend, und er kannte dank der alten Schriftrolle die Formel, mit der man an sie gelangte. Als er zum ersten Mal von den Avataren gehört hatte, war ihm klar gewesen, was sich in Wahrheit im Geborgenen Land herumtrieb; er hatte die Verse gesucht, gelesen und verinnerlicht wie die Liebe zu Nagsar Inäste. Sie bedeuteten die Herrschaft und den Sieg über die Elben samt ihrer Verbündeten. Er hatte nicht ahnen können, was die Eoil in Porista beabsich tigte. Beinahe hätten sie es verhindert - doch die Eoil war zu stark gewesen und hätte ihn um ein Haar vernichtet. So lag er da und wartete, bis sein Leib ihm gehorchte, Zyklus um Zyklus. Er konnte nichts tun. Irgendwann kehrte das Gefühl in seine Gliedmaßen zurück, und er erhob sich. Außer sich und halb wahnsinnig vor Sorge um Nagsar Inäste, streifte er durch die Gänge, bis er sie endlich fand.

Sie lag nur halb mit einem fleckigen Tuch bedeckt auf einem schäbigen Tisch, der abseits an einer Wand stand; jemand hatte ein weiteres Tuch über ihr Antlitz gelegt, um sich vor ihrer unsäglichen Schönheit zu schützen. Ihre Beine waren weit gespreizt, die Kratzspuren und blauen Flecke auf ihren Schenkeln verkündeten schreckliche Frevel.

Acht Orks saßen einige Schritte von ihr entfernt beim Kartenspiel, ohne ihn zu bemerken. Einer gewann die Partie, stand unter dem Gegröle der übrigen auf und nestelte an seinem Gürtel herum, während er auf den Tisch mit Nagsar Inäste zuging...

Der Unauslöschliche blieb stehen. Die Erinnerungen an den Anblick seiner erniedrigten Schwester überwältigten ihn und zwangen ihn dazu, sich an der Wand abzustützen.

Diese ersten acht Orks waren von ihm schneller abgeschlachtet worden, als ein Pfeil von der Sehne schnellte und sein Ziel fand. Danach hatte er sein Metzeln fortgesetzt, bis die letzte Bestie ausgerottet vor ihm gelegen hatte; das dunkelgrüne Blut war wie Wasser an ihm herunter auf den Boden gelaufen.

Die unentwegten Schändungen seiner Schwester in den vergangenen Zyklen durch die Orks hatten widerliche Früchte hinterlassen. Als er die Bastarde in einer Nebenhöhle entdeckt hatte, hätte er sie um ein Haar geköpft, aber da war der Unterirdische erschienen und hatte ihm den Pakt unterbreitet. Einen guten Pakt, den er eingegangen war. Auf diese Weise waren die Kreaturen sogar noch zu etwas nutze. Verschonen würde er sie dennoch nicht, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatten.

Der Unauslöschliche rang nach Luft und zwang sich zum Weitergehen. Er betrat die Kammer, in der er seine Rüstung aufbewahrte. Ein Teil nach dem anderen nahm er vom Ständer und legte es an. Seine Gedanken schweiften dabei zu seinem Sohn, einem reinen Sintoit.

Um seiner erstarrten Schwester zu zeigen, dass er wieder bei ihr war, hatte er sie nach dem Tod der Orks hingebungsvoll geliebt und ihr die Art von Schmerz und Leidenschaft geschenkt, die eine Sintoi begehrte. Als Ausgleich zu den fünf Hässlichkeiten, die zuvor aus ihrem Körper gekrochen waren, hatte sie ihm einen Sohn geboren. Hunderte von Zyklen hatten sie darauf gewartet, und ausgerechnet inmitten all der Unvollkommenheit war das Langersehnte geschehen.

Doch nach der Rückkehr von der Quelle hatte sich Enttäuschung breit gemacht. Der Sohn hatte sich gegen ihn gewandt, er verstand seine Aufgabe nicht und weigerte sich, sie anzunehmen. Ich hoffe, dass ich ihn umstimmen kann. Nagsar Inäste darf nicht von ihm enttäuscht werden. Er zog die letzte Kette fest, die Rüstung saß. Nun würde er wachsam sein müssen und die Eingänge bewachen. Die Späherin, die entkommen war, würde das Heer anlocken. Solange aber seine Vorbereitungen nicht abgeschlossen waren, durfte kein Soldat tief ins Innere Toboribors vorstoßen. Nicht bevor die wehrlose Nagsar Inäste die Augen aufschlug.

Er zog seine Schwerter aus den Scheiden, betrachtete sie im Schein der Lampen und erfreute sich am Anblick der makellosen Klingen. Sie wiesen trotz des intensiven Gebrauchs weder Scharten noch Kratzer auf. Es macht euch nichts aus, euch durch zähes Fleisch und dickes Eisen zu schneiden, dachte er und lächelte böse, als er an das Gemetzel zurückdachte. Er war zwischen den dummen Wesen umhergesprungen, seine Schwerter hatten mit jedem Hieb drei, vier Leben auf einmal genommen, während sie sich unbeholfen gedreht und gewendet, geschrien und gebrüllt hatten. Sie sind einfach zu langsam, sie halten erwachten Göttern nicht Stand. Ich habe nie verstanden, weswegen die Menschen sie fürchten.

Diese dreihundert Orks waren erst der Anfang gewesen.

Er verstaute die Schwerter wieder in ihren Hüllen. Leistet mir weiterhin gute Dienste, alte Freunde. Bringen wir die Furcht zu den Menschen, damit sie davon geblendet werden und unsere wahren Absichten nicht erkennen. Der Unauslöschliche fasste seine langen dunklen Haare unter einem schwarzen Tuch zusammen und zog sich den Helm über den Kopf. Die Schönheit seines Antlitzes, die keinem anderen offenbart werden sollte als Nagsar Inäste, verschwand hinter einem Visier. Alles andere wäre Vergeudung.


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