Kapitel 7 Die geheime Magd


›Stimmt es, daß du in alten Zeiten, als du deine Sternenschiffe ausschicktest, um viele Welten zu besiedeln, immer miteinander sprechen konntest, als stündest du in demselben Wald?‹

›Wir nehmen an, daß es für euch genauso sein wird. Wenn die neuen Vaterbäume gewachsen sind, werden sie bei euch sein. Bei philotischen Verbindungen spielen Entfernungen keine Rolle.‹

›Aber werden wir verbunden sein? Wir werden keine Bäume auf die Reise schicken. Nur Brüder, ein paar Frauen und einhundert kleine Mütter, die neue Generationen gebären werden. Die Reise wird mindestens Jahrzehnte dauern. Nach der Ankunft werden die besten Brüder ins dritte Leben weitergeschickt werden, doch es wird wenigstens ein Jahr dauern, bevor die ersten Vaterbäume alt genug sind, um Kleine zu zeugen. Wie wird der erste Vater auf dieser neuen Welt wissen, wie er mit uns sprechen soll? Wie können wir ihn begrüßen, wenn wir nicht wissen, wo er ist?‹


Schweiß rann Qing-jaos Gesicht herab. Die Tropfen flossen zur Nasenspitze hinab. Von dort tropfte der Schweiß in das schlammige Wasser des Reisfeldes oder auf die neuen Reispflanzen, die sich nur knapp über die Wasserfläche erhoben.

»Warum wischt Ihr nicht Euer Gesicht ab, Heilige?« Qing-jao blickte auf, um zu sehen, wer ihr nahe genug war, um mit ihr zu sprechen. Normalerweise hielten sich die anderen bei ihrer Schicht nicht in ihrer Nähe auf – es machte sie zu nervös, mit einer Gottberührten zusammen zu sein.

Es war ein Mädchen, jünger als Qing-jao, vielleicht vierzehn Jahre alt, mit knabenhaftem Körper und sehr kurz geschnittenem Haar. Es betrachtete Qing-jao mit freimütiger Neugier. Es war eine Offenheit an ihr, ein völliger Mangel an Scheuheit, den Qing-jao seltsam und etwas unangenehm fand. Ihr erster Gedanke war, das Mädchen zu ignorieren.

Doch es wäre arrogant, es zu ignorieren. Genausogut könnte sie sagen: Weil die Götter zu mir sprechen, muß ich nicht antworten, wenn man mich etwas fragt. Niemand würde auch nur vermuten, daß sie einzig und allein nicht antwortete, weil die unmögliche Aufgabe, die der große Han Fei-tzu ihr gestellt hatte, sie so sehr beschäftigte, daß es fast schmerzhaft war, an etwas anderes zu denken.

Sie antwortete – aber mit einer Frage. »Warum sollte ich mir das Gesicht abwischen?«

»Kitzelt es nicht? Der herabtropfende Schweiß? Dringt er nicht in Eure Augen und beißt?«

Qing-jao senkte das Gesicht, um einen Augenblick lang weiterzuarbeiten. Es kitzelte wirklich, und der Schweiß brannte in ihren Augen. In der Tat war es ziemlich unangenehm und ärgerlich. Vorsichtig richtete sich Qing-jao auf – und nun bemerkte sie den Schmerz in ihrem Rücken. »Ja«, sagte sie zu dem Mädchen. »Es kitzelt und brennt.«

»Dann wischt ihn ab«, sagte das Mädchen. »Mit Eurem Ärmel.«

Qing-jao betrachtete ihren Ärmel. Er war bereits naß von dem Schweiß ihrer Arme. »Hilft es, wenn ich das Gesicht abwische?« fragte sie.

Nun war es an dem Mädchen, etwas herauszufinden, woran es nicht gedacht hatte. Einen Augenblick lang schaute es nachdenklich drein; dann wischte es ihre Stirn mit dem Ärmel ab.

Es grinste. »Nein, Heilige. Es hilft nicht.«

Qing-jao nickte ernst und bückte sich wieder zu ihrer Arbeit hinab. Doch nun störte sie das Kitzeln des Schweißes, das Brennen in den Augen, der Schmerz im Rücken. Ihr Unbehagen lenkte sie von ihren Gedanken ab. Das Mädchen hatte ihr Elend vergrößert, indem es darauf hingewiesen hatte – und Qing-jao ironischerweise, indem es sie auf das Elend ihres Körpers aufmerksam machte, von dem Hämmern der Fragen in ihrem Geist befreit.

Qing-jao begann zu lachen.

»Lacht Ihr über mich, Heilige?« fragte das Mädchen.

»Ich danke dir auf meine Art«, sagte Qing-jao. »Du hast eine große Last von meinem Herzen genommen, wenn auch nur einen Augenblick lang.«

»Ihr lacht über mich, weil ich Euch gesagt habe, Ihr sollt Eure Stirn abwischen, obwohl es gar nicht hilft.«

»Nein, deshalb lache ich nicht«, sagte Qing-jao. Sie richtete sich erneut auf und sah dem Mädchen in die Augen. »Ich lüge nicht.«

Das Mädchen wirkte beschämt – aber längst nicht so beschämt, wie es hätte der Fall sein sollen. Wenn die Gottberührten einen Tonfall anschlugen wie Qing-jao gerade, verbeugten sich die anderen augenblicklich und zeigten Respekt. Doch dieses Mädchen hörte nur zu, schätzte Qing-jaos Worte ab und nickte dann.

Für Qing-jao gab es nur eine Schlußfolgerung. »Sprechen die Götter auch zu dir?« fragte sie.

Das Mädchen riß die Augen auf. »Zu mir?« fragte es. »Meine Eltern sind beide sehr niedrige Menschen. Mein Vater schaufelt auf den Feldern Dünger, und meine Mutter spült in einem Restaurant.«

Das war natürlich keine Antwort. Obwohl die Götter am häufigsten die Kinder derer auswählten, zu denen sie sprachen, war es auch schon vorgekommen, daß sie zu einigen gesprochen hatten, deren Eltern die Stimme der Götter nie gehört hatten. Doch im allgemeinen nahm man an, daß die Götter kein Interesse an einem hatten, wenn die Eltern aus einer sehr niedrigen Schicht stammten, und in der Tat geschah es nur selten, daß die Götter zu jenen sprachen, deren Eltern nicht gebildet waren.

»Wie heißt du?« fragte Qing-jao.

»Si Wang-mu«, sagte das Mädchen.

Qing-jao schnappte überrascht nach Luft und hielt dann die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen. Doch Wang-mu wirkte nicht wütend – sie verzog nur das Gesicht und schaute ungeduldig drein.

»Es tut mir leid«, sagte Qing-jao, als sie wieder sprechen konnte. »Aber das ist der Name der…«

»Der Königlichen Mutter des Westens«, sagte Wang-mu. »Kann ich etwas dafür, daß meine Eltern diesen Namen für mich ausgesucht haben?«

»Es ist ein edler Name«, sagte Qing-jao. »Meine Vorfahrin-des-Herzens war eine große Frau, aber sie war nur eine Sterbliche, eine Dichterin. Die deine ist eine der ältesten Göttinnen.«

»Was nutzt mir das?« fragte Wang-mu. »Es war anmaßend von meinen Eltern, mich nach solch einer ehrwürdigen Göttin zu nennen. Deshalb werden die Götter nie mit mir sprechen.«

Es machte Qing-jao traurig, Wang-mu mit solcher Verbitterung sprechen zu hören. Hätte sie nur gewußt, wie bereitwillig Qing-jao mit ihr getauscht hätte! Von der Stimme der Götter frei zu sein! Niemals niederknien und die Linien auf dem Holz verfolgen, niemals die Hände waschen zu müssen, außer, sie waren wirklich schmutzig…

Doch das konnte Qing-jao dem Mädchen nicht erklären. Wie sollte sie es verstehen? Für Wang-mu gehörten die Gottberührten der privilegierten Elite an, waren unendlich klug und unnahbar. Es würde wie eine Lüge klingen, wenn Qing-jao ihr erklärte, daß die Bürden der Gottberührten viel größer waren als die Entlohnungen.

Doch für Wang-mu war die Gottberührte nicht unnahbar gewesen – sie hatte mit Qing-jao gesprochen. Also entschloß sich Qing-jao, das zu sagen, was sie tief im Herzen empfand. »Si Wang-mu, ich wäre gern für den Rest meines Lebens blind, könnte ich nur von den Stimmen der Götter frei sein.«

Wang-mu riß entsetzt den Mund und die Augen auf.

Es war ein Fehler gewesen, so zu sprechen. Qing-jao bedauerte es augenblicklich. »Es war nur ein Scherz«, sagte sie.

»Nein«, sagte Wang-mu. »Jetzt lügt Ihr. Dann habt Ihr also die Wahrheit gesagt.« Sie kam näher, stampfte achtlos durch den Schlamm und zertrampelte dabei Reispflanzen. »Mein ganzes Leben lang habe ich gesehen, wie die Gottberührten in ihren Sänften zum Tempel getragen werden, wie sie bunte Seide tragen, wie sich alle Menschen vor ihnen verbeugen, wie ihnen alle Computer offenstehen. Wenn sie sprechen, sind ihre Worte Musik. Wer wäre nicht gern so eine?«

Qing-jao konnte nicht offen antworten, konnte nicht sagen: Die Götter erniedrigen mich jeden Tag, zwingen mich, dumme, bedeutungslose Dinge zu tun, um mich zu reinigen, und am nächsten Tag fängt alles von vorn an. »Du wirst mir nicht glauben, Wang-mu, doch dieses Leben hier in den Feldern ist besser.«

»Nein!« rief Wang-mu. »Euch wurde alles beigebracht. Ihr wißt alles, was es zu wissen gibt! Ihr sprecht viele Sprachen, Ihr könnt alle Worte lesen, Ihr könnt Gedanken denken, die so weit über den meinen stehen, wie meine über denen einer Schnecke.«

»Du sprichst sehr klar und gut«, sagte Qing-jao. »Du mußt eine Schule besucht haben.«

»Eine Schule!« sagte Wang-mu verächtlich. »Was kümmern sie schon Schulen für Kinder wie mich? Wir lernen zu lesen, aber nur so viel, um später Gebete und Straßenschilder lesen zu können. Wir lernen zu zählen, aber nur genug, um später einkaufen gehen zu können. Wir prägen uns die Sprüche der Weisen an, aber nur diejenigen, die uns lehren, mit unserem Platz im Leben zufrieden zu sein und jenen zu gehorchen, die klüger sind als wir.«

Qing-jao hatte nicht gewußt, daß Schulen so sein konnten. Sie dachte, die Kinder lernten in den Schulen dasselbe, was sie von ihren Privatlehrern lernte. Doch sie sah sofort ein, daß Si Wang-mu die Wahrheit sagen mußte – ein Lehrer mit dreißig Schülern konnte nicht all die Dinge lehren, die Qing-jao als eine Schülerin bei vielen Lehrern gelernt hatte.

»Meine Eltern sind sehr niedrig«, sagte Wang-mu. »Warum sollten sie ihre Zeit damit verschwenden, mich mehr zu lehren, als eine Dienerin wissen muß? Dann das ist meine höchste Hoffnung im Leben, sehr sauber herausgeputzt und Dienerin im Haus eines reichen Mannes zu werden. Sie haben sehr sorgsam darauf geachtet, mir beizubringen, wie man einen Fußboden schrubbt.«

Qing-jao dachte an die Stunden, die sie auf den Fußböden ihres Hauses verbracht hatte, um Holzmaserungen von einer Wand zur anderen nachzuspüren. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, wieviel Arbeit es für die Bediensteten bedeutete, die Böden so sauber und poliert zu halten, daß Qing-jaos Gewänder trotz all ihrer Kriecherei niemals schmutzig wurden.

»Ich weiß auch etwas über Böden«, sagte Qing-jao.

»Ihr wißt etwas von allem«, sagte Wang-mu verbittert. »Also sagt mir nicht, wie hart es ist, daß die Götter zu einem sprechen. Die Götter haben mir nie auch nur einen Gedanken gewidmet, und ich sage Euch, das ist schlimmer!«

»Warum hattest du keine Angst, mit mir zu sprechen?« fragte Qing-jao.

»Ich habe den Entschluß gefaßt, vor nichts Angst zu haben. Was könntet Ihr mir antun, das schlimmer ist als das Leben, das ich jetzt schon führe?«

Ich könnte dich zwingen, dir jeden Tag deines Lebens die Hände zu waschen, bis sie bluten.

Doch dann drehte sich etwas in Qing-jaos Verstand, und sie begriff, daß dieses Mädchen solch eine Strafe vielleicht nicht für schlimmer hielt. Vielleicht würde Wang-mu ihre Hände bereitwillig waschen, bis nur noch blutige Haut an den Stümpfen der Gelenke von ihnen übrig war, wenn sie nur alles lernen konnte, was Qing-jao wußte. Qing-jao hatte sich so bedrückt gefühlt, weil die Aufgabe, die ihr Vater ihr gestellt hatte, einfach unmöglich war – und doch war es eine Aufgabe, deren Erfüllung oder Scheitern die Geschichte verändern würde. Wang-mu würde ihr ganzes Leben leben und niemals eine einzige Aufgabe gestellt bekommen, die am nächsten Tag nicht erneut erledigt werden mußte; Wang-mus gesamtes Leben würde nur daraus bestehen, eine Arbeit zu tun, die man nur bemerkte, wenn sie sie schlecht erledigte. War die Arbeit eines Dienstboten letztendlich nicht so fruchtlos wie die Rituale der Reinigung?

»Das Leben einer Dienerin muß hart sein«, sagte Qing-jao. »Ich bin um deinetwillen froh, daß du noch nicht eingestellt wurdest.«

»Meine Eltern warten in der Hoffnung, daß ich hübsch sein werde, wenn ich eine Frau werde. Dann bekommen sie einen besseren Einstellungsbonus, wenn sie mich zum Dienst freigeben. Vielleicht will mich der Diener eines reichen Mannes zur Frau; vielleicht will mich eine reiche Dame als ihre geheime Magd.«

»Du bist bereits hübsch«, sagte Qing-jao.

Wang-mu zuckte die Achseln. »Meine Freundin Fan-liu steht schon in Diensten, und sie sagt, daß die Häßlichen schwerer arbeiten, aber von den Männern des Hauses in Ruhe gelassen werden. Die Häßlichen sind frei, ihre eigenen Gedanken zu denken. Sie müssen keine netten Sachen zu ihren Damen sagen.«

Qing-jao dachte an die Dienstboten im Haus ihres Vaters. Sie wußte, daß ihr Vater niemals eine Dienstmagd belästigen würde. Und zu ihr mußte niemand nette Sachen sagen. »In meinem Haus ist es anders«, sagte sie.

»Aber ich diene nicht in Eurem Haus.«

Nun wurde ihr plötzlich alles klar. Wang-mu hatte sie nicht aus einer Laune heraus angesprochen, sondern in der Hoffnung, man würde ihr eine Stelle als Dienstmagd im Haus einer Gottberührten anbieten. Nach allem, was sie wußte, galt der Klatsch in der Stadt zur Zeit fast ausschließlich der jungen Dame Han Qing-jao, zu der die Götter sprachen und die mit ihren Lehrern fertig war und ihre erste Aufgabe als Erwachsene bekommen hatte – und daß sie noch immer weder einen Gatten noch eine geheime Magd hatte. Si Wang-mu hatte wahrscheinlich durch irgendwelche Tricks erreicht, derselben Gruppe rechtschaffener Arbeiter zugeteilt zu werden wie Qing-jao, um genau dieses Gespräch führen zu können.

Einen Augenblick lang war Qing-jao wütend. Dann dachte sie: Warum sollte Wang-mu nicht genau das tun, was sie getan hat? Das schlimmste, was ihr passieren könnte, wäre, daß ich dahinterkäme, was sie vorhat, wütend werde und sie nicht einstelle. Dann wäre sie nicht schlechter dran als zuvor. Und wenn ich nicht dahinterkäme, was sie vorhat, und sie tatsächlich mag und sie einstellte, wäre sie die geheime Magd einer gottberührten Dame. Hätte ich nicht dasselbe getan, wäre ich an ihrer Stelle?

»Glaubst du, du kannst mich hereinlegen?« fragte Qing-jao. »Glaubst du, ich wüßte nicht, daß du mich dazu bringen willst, dich als meine Dienerin einzustellen?«

Wang-mu schaute verwirrt, wütend, verängstigt drein. Klugerweise schwieg sie jedoch.

»Warum gibst du mir keine wütende Antwort?« fragte Qing-jao. »Warum streitest du nicht ab, nur mit mir gesprochen zu haben, damit ich dich einstelle?«

»Weil es stimmt«, sagte Wang-mu. »Ich lasse Euch jetzt allein.«

Das hatte Qing-jao zu hören gehofft – eine ehrliche Antwort. Sie hatte nicht die Absicht, Wang-mu gehen zu lassen. »Wieviel von dem, was du mir erzählt hast, ist wahr? Daß du eine gute Ausbildung willst? Daß du etwas besseres in deinem Leben tun willst als Dienstbotenarbeit?«

»Alles«, sagte Wang-mu, und es lag nachdrückliche Leidenschaft in ihrer Stimme. »Aber was bedeutet Euch das? Ihr tragt die schreckliche Last der Stimmen der Götter.«

Wang-mu sprach den letzten Satz mit solch verächtlichem Sarkasmus, daß Qing-jao fast laut aufgelacht hätte; doch sie hielt sich zurück. Es bestand kein Grund, Wang-mu noch wütender zu machen, als sie es schon war. »Si Wang-mu, Tochter-im-Herzen der Königlichen Mutter des Westens, ich werde dich als meine geheime Magd einstellen, aber nur, wenn du mit den folgenden Bedingungen einverstanden bist. Erstens, ich werde deine Lehrerin sein, und du wirst alle Lektionen lernen, die ich dir stelle. Zweitens, du wirst mich als Gleichberechtigte ansprechen und dich nie vor mir verbeugen oder mich ›Heilige‹ nennen. Und drittens…«

»Wie könnte ich das?« sagte Wang-mu. »Wenn ich Euch nicht mit Respekt behandle, werden die anderen sagen, ich sei unwürdig. Sie würden mich bestrafen, wenn Ihr nicht hinseht. Es würde uns beide entehren.«

»Natürlich wirst du respektvoll sein, wenn andere uns sehen können«, sagte Qing-jao. »Doch wenn wir allein sind, nur du und ich, behandeln wir uns wie Gleichberechtigte, oder ich werde dich fortschicken. Dann heißt es auch nicht ›Ihr‹, sondern ›du‹.«

»Und die dritte Bedingung?«

»Du wirst niemals einer Menschenseele ein Wort von dem verraten, was ich zu dir sage.«

Nun zeigte Wang-mus Gesicht offenen Zorn. »Eine geheime Magd verrät nie etwas. In unseren Köpfen werden Barrieren errichtet.«

»Die Barrieren helfen dir, dich daran zu erinnern, nichts zu erzählen«, sagte Qing-jao. »Doch wenn du etwas erzählen willst, kannst du um sie herumkommen. Und es gibt andere, die dich zu überreden versuchen werden, etwas zu verraten.« Qing-jao dachte an die Laufbahn ihres Vaters, an all die Geheimnisse des Kongresses, die sich in seinem Kopf befanden. Er erzählte niemandem davon; er hatte niemandem, mit dem er darüber sprechen konnte, abgesehen von Qing-jao mitunter. Sollte sich Wang-mu als vertrauenswürdig erweisen, würde auch Qing-jao jemanden haben. Sie würde nie so einsam sein wie ihr Vater. »Hast du mich nicht verstanden?« fragte sie. »Die anderen werden glauben, ich hätte dich als geheime Magd eingestellt. Aber du und ich, wir beide wissen, daß du in Wirklichkeit meine Schülerin bist, daß ich dich in Wirklichkeit zu mir geholt habe, damit du meine Freundin bist.«

Wang-mu betrachtete sie verwundert. »Warum solltest du das tun, wenn die Götter dir doch schon gesagt haben, daß ich den Vormann bestochen habe, damit er mich deiner Gruppe einteilt und uns nicht unterbricht, während ich mit dir spreche?«

Die Götter hatten ihr das natürlich nicht verraten, doch Qing-jao lächelte nur. »Warum kommt es dir nicht in den Sinn, daß die Götter vielleicht wollen, daß wir Freundinnen werden?«

Bestürzt schlug Wang-mu die Hände zusammen und lachte nervös. Qing-jao nahm die Hände des Mädchens in die ihren und stellte fest, daß Wang-mu zitterte. Sie war also nicht so kühn, wie es den Anschein hatte.

Wang-mu sah auf ihre Hände hinab, und Qing-jao folgte dem Blick. Sie waren mit Schmutz und Erde bedeckt, die jetzt eingetrocknet war, weil sie so lange herumgestanden waren und die Hände nicht ins Wasser getaucht hatten. »Wir sind so schmutzig«, sagte Wang-mu.

Qing-jao hatte seit langem gelernt, einfach nicht mehr darauf zu achten, wie schmutzig sie bei der rechtschaffenen Arbeit wurde. »Meine Hände waren schon viel schmutziger«, sagte Qing-jao. »Wenn wir mit der rechtschaffenen Arbeit fertig sind, kommst du mit mir. Ich werde meinem Vater von unserem Vorhaben erzählen, und er wird entscheiden, ob du meine geheime Magd sein kannst.«

Wang-mus Ausdruck wurde verdrossen. Qing-jao war froh, daß man so leicht von ihrem Gesicht lesen konnte. »Was ist los?« fragte sie.

»Väter entscheiden immer alles«, sagte Wang-mu.

Qing-jao nickte und fragte sich, warum Wang-mu etwas so Offensichtliches überhaupt sagte. »Das ist der Anfang der Weisheit«, meinte sie dann. »Außerdem ist meine Mutter tot.«


Die rechtschaffene Arbeit endete immer am frühen Nachmittag; offiziell, damit diejenigen, die weit von den Feldern entfernt wohnten, vor Anbruch der Dunkelheit nach Hause zurückkehren konnten. In Wirklichkeit jedoch wurde damit der Brauch anerkannt, am Ende der rechtschaffenen Arbeit ein Fest zu feiern. Da viele Leute ihr Nachmittagsschläfchen verpaßt hatten, waren sie nach der rechtschaffenen Arbeit aufgekratzt, als wären sie die ganze Nacht aufgeblieben. Andere fühlten sich erschöpft und müde. Beides diente als Entschuldigung zu gemeinsamen Essen und Trinken mit Freunden, wonach man zu früher Stunde ins Bett fiel, um den verlorenen Schlaf und das harte Tagwerk auszugleichen.

Qing-jao gehörte zu denen, die sich erschöpft fühlten; Wang-mu dagegen war offensichtlich aufgekratzt. Oder vielleicht lag es einfach nur daran, daß die Lusitania-Flotte Qing-jao Sorgen bereitete, während Wang-mu soeben als geheime Magd einer gottberührten Dame akzeptiert worden war. Qing-jao half Wang-mu bei der Prozedur, die nötig war, wollte man sich im Hause Han um eine Anstellung bewerben – die Waschung, das Abnehmen der Fingerabdrücke, die Sicherheitsüberprüfung –, bis sie schließlich Wang-mus Plappern keinen Augenblick länger mehr aushalten konnte und sich zurückzog.

Als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufging, hörte sie, wie Wang-mu ängstlich fragte: »Habe ich meine neue Herrin wütend gemacht?« Und Ju Kung-mei, der Hüter des Hauses, antwortete: »Die Gottberührten antworten anderen Stimmen als der deinen, Kleine.« Es war eine freundliche Antwort. Qing-jao bewunderte oft den Sanftmut und die Weisheit derer, die ihr Vater in dieses Haus geholt hatte. Sie fragte sich, ob sie bei ihrer ersten Einstellung genauso klug gewählt hatte.

Kaum beschäftigte sie sich mit dieser Frage, da wußte sie auch schon, daß sie verderbt gehandelt hatte, solch eine Entscheidung so schnell zu treffen und ohne sich vorher mit ihrem Vater zu beraten. Wang-mu würde sich als hoffnungslos ungeeignet erweisen, und Vater würde sie, Qing-jao, tadeln, so töricht gehandelt zu haben.

Der Gedanke an Vaters Zurechtweisung genügte, um den augenblicklichen Tadel der Götter herbeizuführen. Qing-jao fühlte sich unrein. Sie stürmte auf ihr Zimmer und schloß die Tür. Es war die reinste Ironie, daß sie immer und immer wieder denken konnte, wie verhaßt ihr die Rituale waren, die die Götter verlangte, wie leer ihre Verehrung war – doch ein einziger unloyaler Gedanke an Vater oder den Sternenwege-Kongreß, und sie mußte augenblicklich Buße tun.

Normalerweise würde sie eine halbe, eine volle Stunde oder noch länger versuchen, dem Drang zur Buße zu widerstehen, ihre Unreinheit zu ertragen. Heute jedoch ersehnte sie das Ritual der Reinigung geradezu. Auf seine eigene Art hatte das Ritual Sinn, einen Anfang und ein Ende, Regeln, denen man folgen konnte. Ganz im Gegensatz zum Problem der Lusitania-Flotte.

Sie kniete nieder und wählte absichtlich die schmalste, schwächste Linie in dem bleichesten Brett, das sie fand. Sie wollte eine harte Buße; vielleicht würden die Götter sie dann für rein genug halten, um ihr die Lösung des Problems zu zeigen, das Vater ihr gestellt hatte. Sie brauchte eine halbe Stunde, um sich den Weg durch das Zimmer zu bahnen, denn sie verlor die Linie immer wieder und mußte jedesmal von vorn anfangen.

Schließlich wollte sie, erschöpft von der rechtschaffenen Arbeit und mit müden Augen vom Verfolgen der Linien, nur noch schlafen; statt dessen setzte sie sich vor ihrem Terminal auf den Boden und rief die Zusammenfassung ihrer bisherigen Arbeit auf. Nach der Überprüfung und Eliminierung aller sinnloser Absurditäten, die sich im Verlauf ihrer Nachforschungen ergeben hatten, blieben drei weitgefaßte mögliche Kategorien von Erklärungen übrig. Erstens, das Verschwinden der Flotte war von irgendeinem Naturereignis herbeigeführt worden, das für die Astronomen einfach noch nicht sichtbar geworden war. Zweitens, der Verlust der Verkürzer-Kommunikation war die Folge entweder von Sabotage oder einer Befehlsentscheidung in der Flotte. Drittens, der Verlust der Verkürzer-Kommunikation war aufgrund einer planetenweiten Verschwörung entstanden.

Die erste Erklärung war durch die Art und Weise, wie die Flotte reiste, ausgeschlossen. Die Sternenschiffe flogen einfach nicht dicht genug beieinander, als daß irgendein bekanntes natürliches Phänomen sie alle auf einmal hätte vernichten können. Die Flotte hatte kein Rendezvous durchgeführt – der Verkürzer machte so etwas zur reinen Zeitverschwendung. Statt dessen waren alle Schiffe von dem Punkt aus, an dem sie sich zufällig befanden, als sie der Flotte zugeteilt wurden, nach Lusitania aufgebrochen. Selbst jetzt, wo nur noch ein paar Lichtjahre verlieben, bevor sie sich allesamt im Orbit um Lusitanias Sonne befänden, waren sie so weit auseinander, daß kein vorstellbares Naturereignis gleichzeitig Auswirkungen auf sie alle gehabt haben könnte.

Die zweite Kategorie war durch die Tatsache, daß die gesamte Flotte verschwunden war, fast genauso unwahrscheinlich. Konnte irgendein von Menschen ersonnener Plan mit so einer perfekten Effizienz funktionieren – und ohne irgendeinen Hinweis auf eine Vorausplanung in irgendeiner Datenbank oder einem Persönlichkeitsprofil oder in den Kommunikations-Logbüchern, die bei Planetarien Computern unterhalten wurden? Es gab auch nicht den geringsten Hinweis darauf, daß irgend jemand Daten verändert oder irgendwelche Kommunikationen getarnt hatte, um ja keine Spur zu hinterlassen. Wenn es ein Plan von Mitgliedern der Flotte war, dann einer ohne Beweise, Tarnungen oder Fehler.

Derselbe Mangel an Beweisen ließ die Vorstellung einer planetenweiten Verschwörung noch unwahrscheinlicher erscheinen. Und noch unwahrscheinlicher wurden all diese Möglichkeiten durch die reine Simultanität der Ereignisse. Soweit festgestellt werden konnte, hatte jedes Schiff die Verkürzer-Kommunikation fast genau zum gleichen Zeitpunkt abgebrochen. Es mochte eine Verzögerung von ein paar Sekunden oder sogar Minuten gegeben haben, doch insgesamt waren es keine fünf Minuten gewesen, kein Zeitraum, der genügt hätte, um auf einem Schiff eine Bemerkung über das Verschwinden eines anderen zu machen.

Die Zusammenfassung war in ihrer Einfachheit elegant. Es blieb nichts übrig. Die Beweise waren so vollständig, wie sie es jemals sein würden, und sie machten jede vorstellbare Erklärung unvorstellbar.

Warum tut Vater mir das an? fragte sie sich nicht zum ersten Mal.

Augenblicklich fühlte sie sich unrein, weil sie solch eine Frage überhaupt gestellt hatte. Sie mußte sich waschen, um die Unreinheit ihres Zweifels zu entfernen.

Doch sie wusch sich nicht. Statt dessen ließ sie die Stimme der Götter in sich anwachsen, ließ ihre Befehle dringlicher werden. Diesmal leistete sie ihren Widerstand nicht aus dem rechtschaffenen Drang, sich zu disziplinieren. Diesmal versuchte sie absichtlich, soviel Aufmerksamkeit der Götter wie möglich auf sich zu ziehen. Erst als sie vor der Not keuchte, sich zu reinigen, erst als sie bei der beiläufigsten Berührung ihrer eigenen Haut erschauderte, erst da stellte sie ihre Frage.

»Ihr habt es getan, nicht wahr?« sagte sie zu den Göttern. »Was kein Mensch vollbracht haben könnte, müßt ihr vollbracht haben. Ihr habt nach der Lusitania-Flotte gegriffen und sie von uns abgeschnitten.«

Die Antwort kam, aber nicht mit Worten, sondern dem ständig zunehmenden Drang, sich zu reinigen.

»Aber der Kongreß und die Admiralität sind nicht der Weg. Sie können sich die goldene Tür in die Stadt des Jadebergs im Westen nicht vorstellen. Wenn Vater zu ihnen sagt: ›Die Götter haben eure Flotte gestohlen, um euch für eure Verderbtheit zu bestrafen!‹, werden sie ihn nur verachten. Wenn sie ihn verachten, unseren größten lebenden Staatsmann, werden sie auch uns verachten. Und wenn sich Weg wegen Vater schämt, wird er ihn vernichten. Habt ihr das deshalb getan?«

Sie begann zu weinen. »Ich werde nicht zulassen, daß ihr meinen Vater vernichtet. Ich werde einen anderen Weg finden. Ich werde eine Antwort finden, die sie zufriedenstellt. Ich trotze euch!«

Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, als die Götter ihr das überwältigendste Gefühl abscheulicher Unreinheit schickten, das sie jemals wahrgenommen hatte. Es war so stark, daß es ihr den Atem nahm, und sie stürzte nach vorn und hielt sich am Terminal fest. Sie versuchte zu sprechen, um Vergebung zu bitten, doch statt dessen würgte sie und schluckte heftig, um sich nicht zu übergeben. Sie hatte den Eindruck, ihre Hände würden Schleim auf allem verteilen, was sie berührten; als sie sich auf die Füße kämpfte, klebte ihr Gewand an ihrer Haut, als sei sie mit dicker, schwarzer Schmiere bedeckt.

Aber sie wusch sich nicht. Noch warf sie sich zu Boden und verfolgte Linien im Holz. Statt dessen taumelte sie zur Tür, um nach unten zum Zimmer ihres Vaters zu gehen.

Doch die Türschwelle hielt sie auf. Nicht körperlich, die Tür schwang so leicht auf wie immer, und trotzdem konnte sie nicht hindurchgehen. Sie hatte gehört, daß die Götter ihre ungehorsamen Diener auf Türschwellen aufhielten, doch am eigenen Leib hatte sie es noch nie erfahren. Sie begriff nicht, wie sie aufgehalten wurde. Ihr Körper konnte sich frei bewegen. Es gab keine Barriere. Doch sie empfand solch ein fürchterliches Entsetzen bei dem Gedanken, durch die Tür zu gehen, daß sie wußte, sie war einfach nicht dazu imstande. Sie wußte, die Götter verlangten irgendeine Buße von ihr, irgendeine Reinigung, oder sie würden niemals dulden, daß sie ihr Zimmer verließ. Nicht das Aufspüren von Holzmaserungen, kein Händewaschen. Was verlangten die Götter dann?

Und dann wußte sie auf einmal, wieso die Götter sie nicht durch diese Tür schreiten ließen. Es war der Eid, den Vater ihr auf Mutters Wunsch abverlangt hatte. Der Eid, daß sie den Göttern immer dienen würde, ganz gleich, was geschah. Und hier hatte sie ihnen zu trotzen versucht. Mutter, vergib mir! Ich werde den Göttern nicht trotzen. Aber ich muß trotzdem zu Vater gehen und ihm die schreckliche Zwangslage erklären, in die die Götter uns gebracht haben. Mutter, hilf mir, durch diese Tür zu gehen!

Wie als Antwort auf ihre Bitte wurde ihr klar, wie sie durch diese Tür gehen konnte. Sie mußte lediglich ihren Blick ganz fest in die Luft hinter der oberen rechten Türecke richten und, während sie den Blick niemals von dieser Stelle abwand, rückwärts mit dem rechten Fuß durch die Tür treten, die linke Hand hindurchstecken, sich dann nach links drehen, das linke Bein rückwärts über die Schwelle bringen und dann den rechten Arm. Es war kompliziert und schwierig, fast wie ein Tanz, doch indem sie sich ganz langsam und vorsichtig bewegte, schaffte sie es.

Die Tür gab sie frei. Und obwohl sie den Druck ihrer Unreinheit noch spürte, hatte seine Intensität etwas nachgelassen. Es war erträglich. Sie konnte atmen, ohne zu keuchen, sprechen, ohne zu würgen.

Sie ging nach unten und betätigte die kleine Glocke vor der Tür ihres Vaters.

»Ist es meine Tochter, meine ›Strahlend Helle‹?« fragte Vater.

»Ja, Ehrwürdiger«, sagte Qing-jao.

»Ich bin bereit, dich zu empfangen.«

Sie öffnete Vaters Tür und trat hindurch. Diesmal war kein Ritual erforderlich. Sie ging direkt zu ihm – er saß auf seinem Stuhl vor dem Terminal – und kniete vor ihm nieder.

»Ich habe mir deine Si Wang-mu angesehen«, sagte Vater, »und bin der Ansicht, deine erste Einstellung war eine würdige.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Vaters Worte Sinn ergaben. Si Wang-mu? Warum sprach Vater über eine uralte Göttin mit ihr? Sie sah überrascht auf und folgte dann dem Blick ihres Vaters – zu einem Dienstmädchen in einem sauberen grauen Gewand, das demütig kniete und zu Boden sah. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr das Mädchen vom Reisfeld wieder einfiel, bis sie sich daran erinnerte, daß sie Qing-jaos geheime Magd werden sollte. Wie hatte sie das nur vergessen können? Es war erst ein paar Stunden her, daß Qing-jao sie verlassen hatte. Doch in dieser Zeit hatte Qing-jao mit den Göttern gekämpft, und wenn sie auch nicht gewonnen hatte, so hatte sie doch auch nicht verloren. Was war die Einstellung eines Dienstmädchens im Vergleich zu einem Kampf mit den Göttern?

»Wang-mu ist unverschämt und ehrgeizig«, sagte Vater, »doch sie ist auch ehrlich und viel intelligenter, als ich es erwartet habe. Wegen ihres scharfen Verstands und scharfen Ehrgeizes schließe ich, daß du sie sowohl als Schülerin wie auch als geheime Magd haben willst.«

Wang-mu atmete erschrocken ein, und als Qing-jao zu ihr hinüber sah, erkannte sie, wie entsetzt das Mädchen war. Oh, ja – sie muß glauben, daß ich glaube, sie habe Vater von unserem geheimen Plan erzählt. »Keine Angst, Wang-mu«, sagte Qing-jao. »Vater errät fast immer Geheimnisse. Ich weiß, daß du ihm nichts gesagt hast.«

»Ich wünschte, mehr Geheimnisse wären so einfach wie dieses«, sagte Vater. »Meine Tochter, ich gratuliere dir zu deiner würdigen Großzügigkeit. Die Götter werden dich dafür ehren, wie auch ich.«

Das Lob kam wie Salbe auf eine stechende Wunde. Vielleicht hatte ihre Aufsässigkeit sie deshalb nicht vernichtet, hatte irgendein Gott ihr Gnade erwiesen und gezeigt, wie sie ihr Zimmer verlassen konnte. Weil sie Wang-mu mit Gnade und Weisheit beurteilt, dem Mädchen seine Unverschämtheit verziehen hatte, wurde ihr selbst nun ebenfalls ihr ungeheuerlicher Wagemut verziehen.

Wang-mu bereut ihren Ehrgeiz nicht, dachte Qing-jao. Noch werde ich meine Entscheidung bereuen. Ich darf nicht zulassen, daß Vater vernichtet wird, nur weil ich keine nichtgöttliche Erklärung für das Verschwinden der Lusitania-Flotte finden – oder erfinden – kann. Und doch – wie kann ich den Absichten der Götter trotzen? Sie haben die Flotte verborgen oder vernichtet. Und die Werke der Götter müssen von ihren gehorsamen Dienern erkannt werden, selbst wenn sie vor ungläubigen auf anderen Welten verborgen bleiben müssen.

»Vater«, sagte Qing-jao, »ich muß mit dir über meine Aufgabe sprechen.«

Vater verstand ihr Zögern falsch. »Wir können vor Wang-mu sprechen. Sie wurde als deine geheime Magd eingestellt. Ihr Vater hat den Einstellungsbonus bekommen, die ersten Barrieren der Geheimhaltung wurden in ihren Verstand eingefügt. Wir können darauf vertrauen, daß sie nichts von dem sagt, was sie hört.«

»Ja, Vater«, sagte Qing-jao. In Wahrheit hatte sie schon wieder vergessen, daß Wang-mu überhaupt anwesend war. »Vater, ich weiß, wer die Lusitania-Flotte verborgen hat. Aber du mußt mir versprechen, daß du es dem Sternenwege-Kongreß niemals sagen wirst.«

Vater, der ungewöhnlich gelassen war, schaute leicht überrascht drein. »So etwas kann ich nicht versprechen«, sagte er. »Es wäre meiner unwürdig, solch ein untreuer Diener zu sein.«

Was konnte sie jetzt tun? Wie konnte sie sprechen? Und wie konnte sie andererseits nichts sagen? »Wer ist dein Herr?« schrie sie. »Der Kongreß oder die Götter?«

»Zuerst die Götter«, sagte Vater. »Sie kommen immer zuerst.«

»Dann muß ich dir sagen, daß ich herausgefunden habe, daß die Götter die Flotte vor uns verborgen haben, Vater. Doch wenn du das dem Kongreß sagst, werden sie dich verspotten, und du wirst vernichtet sein.« Dann kam ihr ein anderer Gedanke in den Sinn. »Wenn die Götter die Flotte aufgehalten haben, Vater, dann muß die Flotte doch gegen den Willen der Götter losgeschickt worden sein. Und wenn der Sternenwege-Kongreß die Flotte gegen den Willen der Götter losgeschickt…«

Vater hob die Hand, damit sie schwieg. Sie hörte augenblicklich zu sprechen auf, neigte den Kopf und wartete.

»Natürlich sind es die Götter«, sagte Vater.

Seine Worte waren gleichzeitig eine Erleichterung wie auch eine Erniedrigung. Natürlich, hatte er gesagt. Hatte er es von Anfang an gewußt?

»Die Götter tun alles, was im Universum geschieht. Aber glaube nicht, den Grund dafür zu kennen. Du sagt, sie müssen die Flotte gestoppt haben, weil sie sich ihrer Mission widersetzen. Doch ich sage, daß der Kongreß die Flotte gar nicht hätte ausschicken können, hätten die Götter es nicht gewollt. Warum könnte es also nicht sein, daß die Götter die Flotte aufgehalten haben, weil ihre Mission so groß und edel war, daß die Menschheit ihrer nicht würdig ist? Oder was, wenn sie die Flotte verborgen haben, um dir eine schwierige Aufgabe zu stellen? Eins ist sicher: Die Götter haben dem Sternenwege-Kongreß erlaubt, den größten Teil der Menschheit zu beherrschen. Solange der Kongreß das Mandat des Himmels hat, werden wir von Weg seine Edikte ohne Widerspruch befolgen.«

»Ich wollte nicht widersprechen…« Sie konnte eine so offensichtlich falsche Aussage nicht beenden.

Vater verstand sie natürlich genau. »Ich höre, wie deine Stimme schwächer wird und deine Worte im Nichts verhallen. Das kommt daher, weil du weißt, daß deine Worte nicht stimmen. Trotz allem, was ich dich gelehrt habe, willst du dich dem Sternenwege-Kongreß widersetzen.« Dann wurde seine Stimme sanfter. »Du willst dich um meinetwegen widersetzen.«

»Du bist mein Vorfahre. Ich schulde dir eine höhere Pflichterfüllung als ihnen.«

»Ich bin dein Vater. Ich werde erst dein Vorfahre sein, wenn ich tot bin.«

»Dann Mutter zuliebe. Sollten sie je das Mandat des Himmels verlieren, werde ich ihr schrecklichster Feind sein, denn ich werde den Göttern dienen.« Doch noch während sie dies sagte, wußte sie, daß ihre Worte eine gefährliche Halbwahrheit darstellten. Bis vor ein paar Augenblicken – bis sie auf der Türschwelle aufgehalten worden war – war sie bereit gewesen, ihrem Vater zuliebe den Göttern zu trotzen. Ich bin die unwürdigste, schrecklichste Tochter, dachte sie.

»Ich sage dir jetzt, meine strahlend helle Tochter, der Widerstand gegen den Kongreß wäre niemals zu meinem Besten. Oder zu deinem. Doch ich vergebe dir, daß du mich im Übermaß liebst. Das ist die sanfteste und freundlichste aller Untugenden.«

Er lächelte. Es beruhigte sie, ihn lächeln zu sehen, obwohl sie wußte, daß sie seine Billigung nicht verdiente. Qing-jao war jetzt imstande, wieder klar zu denken, sich wieder dem Rätsel zuzuwenden. »Du hast gewußt, daß dies das Werk der Götter war, und hast mich doch nach der Antwort suchen lassen.«

»Aber hast du die richtige Frage gestellt?« sagte Vater. »Die Frage, die wir beantworten müssen, lautet: Wie haben die Götter es gemacht?«

»Woher soll ich das wissen?« antwortete Qing-jao. »Vielleicht haben sie die Flotte vernichtet oder verborgen, oder an irgendeinen geheimen Ort im Westen gebracht…«

»Qing-jao! Sieh mich an! Hör mir gut zu.«

Sie sah ihn an. Sein strenger Befehl half ihr, sich zu beruhigen, zu konzentrieren.

»Ich habe versucht, dies dich dein ganzes Leben zu lehren, doch nun mußt du es lernen, Qing-jao. Die Götter sind die Ursache von allem, was geschieht, doch sie handeln niemals offen. Hast du mich verstanden?«

Sie nickte. Sie hatte diese Worte schon hundert Mal gehört.

»Du hörst mich, und doch verstehst du mich nicht, selbst jetzt nicht«, sagte Vater. »Die Götter haben das Volk von Weg erwählt, Qing-jao. Nur wir haben das Privileg, ihre Stimme zu hören. Nur wir dürfen sehen, daß sie die Ursachen sind von allem, was ist und war und sein wird. Allen anderen Menschen bleiben ihre Werke verborgen, ein Geheimnis. Deine Aufgabe ist es nicht, die wahre Ursache des Verschwindens der Lusitania-Flotte herauszufinden – ganz Weg wüßte sofort, die wahre Ursache ist die, daß die Götter es so wollten. Deine Aufgabe ist es, herauszufinden, welche Verschleierung die Götter für dieses Ereignis geschaffen haben.«

Qing-jao fühlte sich schwindlig und benommen. Sie war so sicher gewesen, die Antwort herausgefunden, ihre Aufgabe gelöst zu haben. Nun entglitt ihr alles. Die Antwort traf zwar noch zu, aber sie hatte jetzt eine andere Aufgabe bekommen.

»Weil wir keine natürliche Erklärung finden können, stehen die Götter im Augenblick entblößt da, und jeder kann sie sehen, die Ungläubigen wie die Gläubigen. Die Götter sind nackt, und wir müssen sie kleiden. Wir müssen herausfinden, was für eine Abfolge von Ereignissen die Götter geschaffen haben, um das Verschwinden der Flotte erklären, um es den Ungläubigen als natürlich darstellen zu können. Ich dachte, du hättest dies verstanden. Wir dienen dem Sternenwege-Kongreß, doch nur, weil wir dadurch auch den Göttern dienen. Die Götter wünschen, daß wir den Kongreß täuschen, und der Kongreß will getäuscht werden.«

Qing-jao nickte, taub vor Enttäuschung, daß ihre Aufgabe noch nicht beendet war.

»Klinge ich herzlos?« fragte Vater. »Bin ich unehrlich? Bin ich dem Ungläubigen gegenüber grausam?«

»Hat eine Tochter über ihren Vater zu urteilen?« flüsterte Qing-jao.

»Natürlich nicht«, sagte Vater. »Tag für Tag urteilen Menschen über alle anderen Menschen. Die Frage ist nur, ob wir klug urteilen.«

»Dann urteile ich, daß es keine Sünde ist, zu den Ungläubigen in der Sprache ihres Unglaubens zu sprechen«, sagte Qing-jao.

Umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel? »Du verstehst es«, sagte Vater. »Falls sich der Kongreß jemals an uns wenden sollte, um bescheiden die Wahrheit zu suchen, werden wir seine Mitglieder den Weg lehren, und sie werden Teil des Weges werden. Bis dahin dienen wir den Göttern, indem wir den Ungläubigen helfen, sich selbst zu belügen und einzureden, für alle Dinge, die geschehen, gäbe es natürliche Erklärungen.«

Qing-jao verbeugte sich, bis ihr Kopf fast den Boden berührte. »Du hast viele Male versucht, mich das zu lehren, doch bis jetzt hatte ich noch keine Aufgabe, auf die dieses Prinzip anzuwenden war. Vergib deiner unwürdigen Tochter ihre Torheit.«

»Ich habe keine unwürdige Tochter«, sagte Vater. »Ich habe nur meine Tochter, die ›Strahlend Hell‹ ist. Das Prinzip, das du heute gelernt hast, wird nur von wenigen auf Weg wirklich verstanden. Deshalb sind nur ein paar von uns imstande, sich direkt mit Menschen von anderen Welten abzugeben, ohne sie zu verblüffen oder zu verwirren. Du hast mich heute überrascht, Tochter, nicht, weil du es noch nicht verstanden hattest, sondern weil du es mit so jungen Jahren verstehst. Ich war fast zehn Jahre älter, bevor ich dieses Prinzip begriff.«

»Wie kann ich etwas vor dir lernen, Vater?« Die Vorstellung, eine seiner Leistungen zu übertreffen, war fast undenkbar.

»Weil du mich hattest, der es dir beibrachte«, sagte Vater, »während ich es selbst herausfinden mußte. Aber ich sehe ein, daß dich der Gedanke erschreckt, etwas vielleicht in jüngerem Alter gelernt zu haben als ich. Glaubst du, es würde mir Schande bereiten, wenn meine Tochter mich übertrifft? Ganz im Gegenteil – es kann keine größere Ehre für Eltern geben, als ein Kind zu haben, das größer ist als sie.«

»Ich kann niemals größer als du sein, Vater.«

»In gewisser Hinsicht stimmt das, Qing-jao. Denn da du mein Kind bist, sind all deine Werke als eine Untermenge in meinen enthalten, genau wie wir alle eine Untermenge unserer Vorfahren sind. Doch du hast so viel Potential zur Größe in dir, daß ich glaube, es wird eine Zeit kommen, da ich wegen deiner Werke größer eingeschätzt werde als wegen meiner eigenen. Wenn das Volk von Weg mich je einer herausragenden Ehre für würdig befinden sollte, dann zumindest in gleichem Maße wegen deiner Errungenschaften wie wegen meiner.«

Mit diesen Worten verbeugte sich Vater vor ihr, keine höfliche Geste der Entlassung, sondern ein tiefes Verneigen aus Ehrfurcht, bei dem sein Kopf fast den Boden berührte. Nicht ganz, denn das wäre lächerlich gewesen, fast eine Verhöhnung, als berühre er wirklich zu Ehren seiner eigenen Tochter mit dem Kopf den Boden. Aber er vollzog die Geste, soweit die Würde es ihm erlaubte.

Es verwirrte sie einen Augenblick lang, erschreckte sie; dann begriff sie. Als er andeutete, seine Chance, zum Gott von Weg gewählt zu werden, hinge von ihrer Größe ab, hatte er nicht von irgendeinem vagen zukünftigen Ereignis gesprochen. Er sprach vom Hier und Jetzt. Er sprach von ihrer Aufgabe. Wenn sie die Tarnung der Götter finden könnte, die natürliche Erklärung für das Verschwinden der Lusitania-Flotte, war seine Wahl zum Gott von Weg sichergestellt. So sehr vertraute er ihr. So wichtig war ihre Aufgabe. Was war ihr Erwachsenwerden, verglichen mit dem Gottsein ihres Vaters? Sie mußte härter arbeiten, besser denken und Erfolg haben, wo sämtliche Unternehmungen des Militärs und des Kongresses gescheitert waren. Nicht für sich selbst, aber für Mutter, für die Götter und für Vaters Chance, einer von ihnen zu werden.

Qing-jao zog sich aus Vaters Zimmer zurück. Sie blieb auf der Schwelle stehen und sah zu Wang-mu hinüber. Ein Blick der Gottberührten genügte, um dem Mädchen zu sagen, daß es ihr folgen solle.

Als Qing-jao ihr Zimmer erreichte, zitterte sie vor dem unterdrückten Drang, sich zu reinigen. Alles, was sie heute falsch gemacht hatte – ihre Aufsässigkeit gegen die Götter, die Weigerung, die Reinigung früher zu akzeptieren, die Dummheit, ihre wahre Aufgabe nicht verstanden zu haben –, kam nun zusammen. Nicht, daß sie sich schmutzig fühlte; sie wollte sich nicht waschen, und sie verspürte auch keinen Abscheu vor sich selbst. Schließlich war ihre Unwürdigkeit durch Vaters Lob gemildert worden, durch den Gott, der ihr zeigte, wie man durch die Tür gehen mußte. Und Wang-mu hatte sich als gute Wahl erwiesen – das war eine Prüfung, die Qing-jao bestanden hatte, und zwar mit wehenden Fahnen. Also ließ nicht die Minderwertigkeit sie zittern. Sie war versessen auf Reinigung. Sie sehnte sich danach, daß die Götter bei ihr waren, während sie ihnen diente. Doch keine Buße, die sie kannte, reichte aus, ihre Versessenheit zu stillen.

Dann wußte sie: Sie mußte eine Linie auf jedem Brett im Raum verfolgen.

Sofort wählte sie ihren Ausgangspunkt, die südöstliche Ecke. Sie würde an der östlichen Wand beginnen, die Linien zu verfolgen, damit sie sich in ihrem Ritual gen Westen bewegte, den Göttern entgegen. Das letzte würde auch das kürzeste Brett im Raum sein, kaum einen Meter lang, in der nördlichen Ecke. Es sollte ihre Belohnung sein, daß das Aufspüren der letzten Linie so kurz und leicht geriet.

Sie hörte, wie Wang-mu hinter ihr leise den Raum betrat, doch sie hatte nun keine Zeit für Sterbliche. Die Götter warteten. Sie kniete in der Ecke nieder und musterte die Linien der Maserung, um diejenige zu finden, der sie dem Wunsch der Götter zufolge nachspüren sollte. Normalerweise blieb die Wahl ihr überlassen, und dann entschied sie sich immer für die schwierigste, damit die Götter sie nicht verachteten. Doch heute war sie von der augenblicklichen Zuversicht erfüllt, daß die Götter die Wahl für sie übernehmen würden. Die erste Linie war ziemlich dick; sie verlief wellenförmig, ließ sich aber leicht verfolgen. Die Götter waren bereits gnädig gestimmt! Das heutige Ritual würde fast zu einem Gespräch zwischen ihr und den Göttern werden. Sie hatte heute eine unsichtbare Barriere durchbrochen; sie war dem klaren Verständnis ihres Vaters nähergekommen. Vielleicht würden eines Tages die Götter mit jener Deutlichkeit zu ihr sprechen, von denen das normale Volk vermutete, alle Gottberührten würden sie vernehmen.

»Heilige«, sagte Wang-mu.

Es war, als bestünde Qing-jaos Freude aus Glas, das Wang-mu absichtlich zertrümmerte. Wußte sie nicht, daß man ein Ritual von vorn beginnen mußte, wenn es einmal unterbrochen worden war? Quing-jao richtete sie auf die Knie auf und drehte sich zu dem Mädchen um.

Wang-mu mußte den Zorn auf Qing-jaos Gesicht gesehen haben, verstand ihn aber falsch. »Oh, es tut mir leid«, sagte sie sofort, fiel auf die Knie und verbeugte sich. »Ich habe vergessen, daß ich dich nicht ›Heilige‹ nennen soll. Ich wollte dich nur fragen, wonach du suchst, damit ich dir bei der Suche helfen kann.«

Qing-jao hätte fast laut aufgelacht, daß Wang-mu sich so sehr irrte. Natürlich hatte Wang-mu keine Ahnung, daß die Götter gerade zu Qing-jao sprachen. Und nun, nachdem ihr Ärger verflogen war, schämte sich Qing-jao, als sie sah, wie sehr Wang-mu ihren Zorn fürchtete; es war nicht rechtens, daß das Mädchen mit der Stirn den Boden berührte. Qing-jao gefiel es nicht, daß sich ein anderer Mensch so erniedrigte.

Wieso habe ich ihr so große Angst gemacht? Ich war von Freude erfüllt, weil die Götter so deutlich zu mir sprachen; doch meine Freude war so selbstsüchtig, daß ich eine Miene des Hasses aufsetzte, als sie mich unschuldig unterbrach. Antworte ich etwa so den Göttern? Sie zeigen mir ein Gesicht der Liebe, und ich wandle es um in Haß auf die Menschen, besonders auf jene, die meiner Macht ausgeliefert sind? Erneut haben die Götter einen Weg gefunden, mir meine Unwürdigkeit zu zeigen.

»Wang-mu, du darfst mich nicht unterbrechen, wenn du mich so auf dem Boden kauernd vorfindest.« Und sie erklärte Wang-mu, daß die Götter von ihr das Ritual der Reinigung verlangten.

»Muß ich das auch tun?« fragte Wang-mu.

»Nicht, wenn die Götter es dir nicht sagen.«

»Wie werde ich es wissen?«

»Wenn es in deinem Alter noch nicht passiert ist, Wang-mu, wird es wahrscheinlich auch nicht mehr passieren. Doch wenn es passiert wäre, wüßtest du es, denn du hättest nicht die Macht, der Stimme der Götter in deinem Kopf zu widerstehen.«

Wang-mu nickte ernst. »Wie kann ich dir helfen… Qing-jao?« Sie sprach den Namen ihrer Herrin ehrfürchtig und mit Bedacht aus. Zum ersten Mal begriff Qing-jao, daß ihr Name, der so süß und zärtlich klang, wenn ihr Vater ihn aussprach, übertrieben klang, wenn er mit solcher Ehrfurcht gesprochen wurde. Es war fast schmerzhaft, in einem Augenblick, da sich Qing-jao ihres Mangels an Glanz scharf bewußt war, ›Strahlend Helle‹ genannt zu werden. Doch sie würde Wang-mu nicht verbieten, ihren Namen zu benutzen – das Mädchen mußte sie ja irgendwie ansprechen, und die Ironie von Wang-mus ehrfürchtigem Tonfall würde Qing-jao ständig daran erinnern, wie wenig sie diese Ehrfurcht verdiente.

»Du kannst mir helfen, indem du mich nicht unterbrichst«, sagte Qing-jao.

»Dann soll ich also gehen?«

Qing-jao hätte fast zugestimmt, doch dann begriff sie, die Götter wollten aus irgendeinem Grund, daß Wang-mu Teil dieser Buße war. Woher sie das wußte? Weil der Gedanke, Wang-mu könne gehen, fast so unerträglich war wie das Wissen um das noch nicht vollbrachte Nachspüren der Linien. »Bitte bleib«, sagte Qing-jao. »Kannst du schweigend warten? Mich beobachten?«

»Ja… Qing-jao.«

»Wenn es so lange dauert, daß du es nicht mehr aushältst, darfst du gehen«, sagte Qing-jao. »Aber nur, wenn du siehst, daß ich mich von Westen nach Osten bewege. Das bedeutet, daß ich gerade mit einem Brett fertig bin und es mich nicht stören wird, wenn du gehst. Aber du darfst mich nicht ansprechen.«

Wang-mus Augen wurden größer. »Du willst das mit jeder Holzmaserung eines jeden Dielenbretts tun?«

»Nein«, sagte Qing-jao. So grausam wären die Götter niemals! Doch noch während sie dies dachte, wußte Qing-jao, daß vielleicht einmal ein Tag kommen würde, an dem die Götter genau diese Buße von ihr verlangten. Ihr wurde vor Entsetzen schlecht. »Nur eine Linie auf jedem Brett im Zimmer. Beobachte sie mit mir, ja?«

Sie sah, wie Wang-mu einen Blick auf die Zeitangabe warf, die über ihrem Terminal in der Luft schwebte. Es war fast schon Schlafenszeit, und beide hatten sie ihren Nachmittagsschlaf verpaßt. Es war nicht natürlich für Menschen, so lange ohne Schlaf auszuharren. Die Tage auf Weg waren anderthalbmal so lang wie die auf der Erde, so daß sie niemals ganz mit dem inneren Zyklus des menschlichen Körpers im Einklang lebten. Es war nicht einfach, den Mittagsschlaf zu verpassen und dann noch spät zu Bett zu gehen.

Doch Qing-jao hatte keine Wahl. Und wenn Wang-mu nicht wachbleiben konnte, mußte sie nun gehen, wie wenig die Götter auch von dieser Vorstellung angetan sein mochten. »Du mußt wach bleiben«, sagte Qing-jao. »Wenn du einschläfst, muß ich mit dir sprechen, damit du dich bewegst und mir einige Linien zeigst, denen ich nachspüren muß. Und wenn ich mit dir spreche, muß ich von vorn beginnen. Kannst du wach bleiben und reglos still?«

Wang-mu nickte. Qing-jao glaubte ihr, daß sie es ernst meinte; doch sie glaubte nicht, daß das Mädchen es schaffte. Doch die Götter beharrten darauf, daß sie ihre neue geheime Magd bleiben ließ – und wer war Qing-jao, etwas zu verweigern, das die Götter von ihr verlangten?

Qing-jao kehrte zum ersten Brett zurück und verfolgte die Linie erneut. Zu ihrer Erleichterung waren die Götter noch bei ihr. Brett um Brett durfte sie die deutlichste, einfachste Linie verfolgen, und wenn sie gelegentlich eine schwerere bekam, dann nur, weil die leichtere Linie ausgelaufen war oder den Rand des jeweiligen Bretts erreicht hatte. Die Götter behüteten sie.

Was Wang-mu betraf, so kämpfte das Mädchen erbittert. Zweimal, auf dem Weg zurück vom Westen, um im Osten erneut zu beginnen, warf Qing-jao einen Blick auf Wang-mu und sah, daß sie schlief. Doch als Qing-jao an der Stelle vorbeikam, an der Wang-mu kniete, stellte sie beide Male fest, daß ihre geheime Magd erwacht war und sich so still zu einer Stelle bewegt hatte, an der Qing-jao die Linien bereits verfolgt hatte, daß Qing-jao sie nicht einmal gehört hatte. Ein braves Mädchen. Eine würdige Wahl zu einer geheimen Magd.

Endlich erreichte Qing-jao den Anfang des letzten Bretts, eines kurzen direkt in der Ecke. Sie hätte vor Freude fast laut gesprochen, besann sich aber rechtzeitig. Der Klang ihrer eigenen Stimme und Wang-mus unvermeidliche Antwort hätten sie sicher wieder an den Anfang zurückgeschickt – es wäre eine unglaubliche Torheit gewesen. Kaum noch einen Meter von der nordwestlichen Ecke des Zimmers entfernt, beugte sich Qing-jao über den Anfang des Bretts und verfolgte die breiteste Linie. Sie führte sie direkt zur Wand. Es war vollbracht.

Qing-jao sackte gegen die Wand und lachte vor Erleichterung auf. Doch sie war so schwach und müde, daß Wang-mu ihr Lachen für Weinen gehalten haben mußte. Augenblicklich war das Mädchen bei ihr und berührte ihre Schulter. »Qing-jao«, sagte es, »hast du Schmerzen?«

Qing-jao nahm die Hand des Mädchens und hielt sie. »Keine Schmerzen. Zumindest keine, die der Schlaf nicht kurieren kann. Ich bin fertig. Ich bin sauber.«

In der Tat sogar so sauber, daß sie nicht zögerte, Wang-mus Hand zu umklammern, Haut an Haut; sie empfand nicht die geringste Unreinheit dabei. Es war ein Geschenk der Götter, daß sie jemandes Hand halten konnte, nachdem sie ihr Ritual bewältigt hatte. »Das hast du sehr gut gemacht«, sagte Qing-jao. »Ich konnte mich leichter auf die Linien konzentrieren, weil du bei mir warst.«

»Ich glaube, ich bin einmal eingeschlafen, Qing-jao.«

»Vielleicht auch zweimal. Aber du bist erwacht, als es darauf ankam, und es ist kein Schaden entstanden.«

Wang-mu begann zu weinen. Sie schloß die Augen, nahm aber nicht die Hand aus Qing-jaos, um ihr Gesicht zu bedecken. Sie ließ die Tränen einfach die Wangen hinabfließen.

»Warum weinst du, Wang-mu?«

»Ich habe es nicht gewußt«, sagte sie. »Es ist wirklich schwer, eine Gottberührte zu sein. Das habe ich nicht gewußt.«

»Und es ist auch schwer, einer Gottberührten eine wahre Freundin zu sein«, sagte Qing-jao. »Deshalb wollte ich nicht, daß du mir eine Dienerin bist, die mich ›Heilige‹ nennt und den Klang meiner Stimme fürchtet. So eine Dienerin hätte ich aus meinem Zimmer schicken müssen, wenn die Götter zu mir sprechen.«

Wang-mus Tränen flossen nun noch heftiger.

»Si Wang-mu, ist es zu schwer für dich, bei mir zu sein?« fragte Qing-jao.

Wang-mu schüttelte heftig den Kopf.

»Ich würde es verstehen, sollte es jemals zu schwer für dich werden. Du kannst mich dann verlassen. Ich war zuvor auch allein. Ich fürchte mich nicht davor, erneut allein zu sein.«

Wang-mu schüttelte erneut den Kopf, heftig diesmal. »Wie könnte ich dich verlassen, nun, da ich weiß, wie schwer es für dich ist?«

»Dann wird eines Tages geschrieben stehen und in einer Geschichte erzählt werden, daß Wang-mu während der Reinigungen niemals von Han Qing-jaos Seite wich.«

Plötzlich zeigte sich ein Lächeln auf Wang-mus Gesicht, und ihre Augen öffneten sich zu dem Blinzeln eines Lächelns, obwohl die Tränen noch auf ihren Wangen glänzten. »Hast du den Witz nicht verstanden?« sagte Wang-mu. »Mein Name – Si Wang-mu. Wenn man sich diese Geschichte erzählt, wird man nicht wissen, daß deine geheime Magd bei dir war. Man wird glauben, es sei die Königliche Mutter des Westens gewesen.«

Qing-jao lachte jetzt auch. Aber ihr kam auch eine Idee in den Sinn – vielleicht war die Königliche Mutter eine wahre Vorfahrin-des-Herzens von Wang-mu, und indem sie Wang-mu als ihre Freundin an ihrer Seite hatte, hatte sie auch eine neue Nähe zu dieser Göttin gefunden, die fast die älteste von ihnen allen war.

Wang-mu wollte die Schlafmatten auslegen, doch Qing-jao mußte ihr zeigen, wie es ging; die Vorbereitung des Nachtlagers war Wang-mus Pflicht, und Qing-jao mußte ihr diese Aufgabe Abend für Abend überlassen, obwohl sie nie etwas dagegen gehabt hatte, es selbst zu tun. Als sie sich niederlegten – ihre Matten berührten sich an den Seiten, so daß keine Linien der Holzmaserung zwischen ihnen zu sehen war –, bemerkte Qing-jao, daß graues Licht durch die Jalousien der Fenster fiel. Sie waren gemeinsam den ganzen Tag über wach geblieben und nun auch die ganze Nacht. Wang-mus Opfer war edel. Sie würde eine wahre Freundin sein.

Ein paar Minuten später jedoch, als Wang-mu schlief und Qing-jao gerade eindöste, kam ihr der Gedanke, wie es Wang-mu, einem Mädchen ohne Geld, gelungen war, den Vorarbeiter ihrer Abteilung der rechtschaffenen Arbeit zu bestechen, damit er sie heute ohne Störung mit ihr sprechen ließ. Konnte irgendein Spion das Bestechungsgeld für sie bezahlt haben, damit sie das Haus des Han Fei-tzu infiltrieren konnte? Nein – Ju Kung-mei, der Hüter des Hauses Han, hätte von solch einer Spionin erfahren, und Wang-mu wäre niemals eingestellt worden. Wang-mu hatte den Vorarbeiter nicht mit Geld bestochen. Sie war erst vierzehn, aber schon ein sehr hübsches Mädchen. Qing-jao hatte genug Geschichtsbücher und Biographien gelesen, um zu wissen, wie Frauen normalerweise solche Bestechungen bezahlen mußten.

Grimmig kam Qing-jao zum Schluß, daß der Sache diskret nachgegangen werden und der Vorarbeiter in namenloser Schande entlassen werden mußte, sollte sich ihr Verdacht bestätigen. Bei dieser Ermittlung würde Wang-mus Name niemals in der Öffentlichkeit erwähnt werden, so daß ihr kein Schaden entstehen würde. Qing-jao mußte nur Ju Kung-mei darum bitten, und er würde dafür sorgen, daß es erledigt wurde.

Qing-jao betrachtete das schöne Gesicht ihrer schlafenden Dienerin, ihrer würdigen neuen Freundin, und wurde von Traurigkeit überwältigt. Am traurigsten machte Qing-jao jedoch nicht der Preis, den Wang-mu an den Vormann entrichtet hatte, sondern die Tatsache, daß sie ihn für so eine würdelose, schmerzhafte, schreckliche Anstellung entrichtet hatte, wie der Dienst als Han Qing-jaos geheime Magd es nun einmal war. Wenn eine Frau die Pforte zu ihrem Leib verkaufen mußte, und so viele Frauen waren im Verlauf der menschlichen Geschichte dazu gezwungen gewesen, mußten die Götter sie angemessener dafür entlohnen.

Deshalb schlief Qing-jao an diesem Morgen mit noch festerer Entschlossenheit ein, sich Si Wang-mus Ausbildung zu widmen. Sie konnte nicht zulassen, daß Wang-mus Ausbildung ihren Kampf mit dem Rätsel der Lusitania-Flotte störte, doch sie würde jeden freien Augenblick abzweigen und Wang-mu eine angemessene Segnung zu Ehren ihres Opfers geben. Sicherlich erwarteten die Götter nicht weniger von ihr, nachdem sie ihr so eine perfekte geheime Magd geschickt hatten.

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